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Herbstjahr

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
314 Seiten
Deutsch
Gmeiner Verlagerschienen am11.09.2019
Im Herbst 1989 gerät der Funktionärssohn Jesse in eine der ersten großen Leipziger Montagsdemonstrationen. Die Polizeigewalt, die ihm widerfährt, wirft den jungen Arbeiter aus seiner gewohnten Bahn. Als ein Streit mit seinem linientreuen Vater eskaliert, dient ihm die verlassene Wohnung eines Freundes als Unterschlupf. Auf der Suche nach Orientierung schließt sich Jesse dem Neuen Forum an und lernt dort die Studentin Katja kennen. Mit ihr erlebt er den 9. Oktober, den entscheidenden Tag der Friedlichen Revolution.

Ralph Grüneberger ist gebürtiger Leipziger und in der Messestadt aufgewachsen. Lesereisen ins europäische Ausland sowie Literaturstipendien, die er erhielt, ließen ihn in Brandenburg, Niedersachsen, den Niederlanden, in Ungarn und im US-Staat Virginia immer mal wieder Abstand von seiner Region finden. Als Stipendiat der Kulturstiftung Sachsen begann er 2012 mit der Arbeit an seinem ersten Roman, nachdem er Arbeiten für den Rundfunk, Literaturkritiken für das Feuilleton, zahlreiche Lyrik- und Prosabände sowie Monographien zu bildenden Künstlern veröffentlicht hatte. Er ist Herausgeber einer Literaturzeitschrift, seit mehr als zwei Jahrzehnten Vorsitzender der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. und Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookPDF1 - PDF WatermarkE-Book
EUR5,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR5,99

Produkt

KlappentextIm Herbst 1989 gerät der Funktionärssohn Jesse in eine der ersten großen Leipziger Montagsdemonstrationen. Die Polizeigewalt, die ihm widerfährt, wirft den jungen Arbeiter aus seiner gewohnten Bahn. Als ein Streit mit seinem linientreuen Vater eskaliert, dient ihm die verlassene Wohnung eines Freundes als Unterschlupf. Auf der Suche nach Orientierung schließt sich Jesse dem Neuen Forum an und lernt dort die Studentin Katja kennen. Mit ihr erlebt er den 9. Oktober, den entscheidenden Tag der Friedlichen Revolution.

Ralph Grüneberger ist gebürtiger Leipziger und in der Messestadt aufgewachsen. Lesereisen ins europäische Ausland sowie Literaturstipendien, die er erhielt, ließen ihn in Brandenburg, Niedersachsen, den Niederlanden, in Ungarn und im US-Staat Virginia immer mal wieder Abstand von seiner Region finden. Als Stipendiat der Kulturstiftung Sachsen begann er 2012 mit der Arbeit an seinem ersten Roman, nachdem er Arbeiten für den Rundfunk, Literaturkritiken für das Feuilleton, zahlreiche Lyrik- und Prosabände sowie Monographien zu bildenden Künstlern veröffentlicht hatte. Er ist Herausgeber einer Literaturzeitschrift, seit mehr als zwei Jahrzehnten Vorsitzender der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. und Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783839261101
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum11.09.2019
Seiten314 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.4312808
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1

Mit einem Mal blieben die Straßenbahnen stehen. Taxifahrer hupten. Hunderte Menschen waren den Rufen einer kleinen Gruppe gefolgt, die, gestikulierend vom Rande des Platzes aus, die unschlüssig auf der Freifläche zwischen Oper und Gewandhaus verharrende Menge zu dirigieren versuchte.

»Los­laufen, loslaufen!«, hieß es, und die Stimmen der Wortführer waren brüchig wie der Himmel über der Stadt.

Die Menschen, die sich mehr und mehr zu einem Strom formierten, strebten vom Karl-Marx-Platz über den Georgiring dem Hauptbahnhof zu. Die hell erleuchteten Wagen der am Weiterfahren gehinderten Straßenbahnen ragten aus dem Menschenstrom wie schmale Ausflugsdampfer. Viele der Fahrgäste schauten erstaunt in die Abenddämmerung oder hatten ihr Gesicht gegen die Scheibe gepresst. Missmut in ihren Mienen.

Ein anderer Ruf wurde laut: »Schließt euch an!« Ein Ruf, aus dem die Angst verschwunden war. Und er galt jenen in der Bahn und jenen, die voller Erstaunen passiv am Straßenrand standen.

Jesse, der nach der Rollenden Woche, die entweder aus sieben Tagen Frühschicht, Nachtschicht oder Spätschicht bestand, an diesem Montag freihatte und aus Neugier per Trambahn ins Stadtzentrum gefahren war, stand am Rande der Straße und sah vom Bordstein aus die Masse an Menschen auf sich zukommen. Die Marschierer am Anfang des Zuges schickten sich an, Reihen zu bilden. Es waren ganz unterschiedliche Personen. Alte und junge. Männer in Mänteln und Anoraks, Joppenträger. Jugendliche in Parkas. Frauen in Kurzmänteln, mit Armen, an denen Einkaufstaschen zogen, die ihnen jetzt im Weg waren und die sie zu schultern versuchten.

Nach Sonnenuntergang war es kalt auf dem Platz. Viele hatten den Kopf mit einem Hut, einem Kopftuch oder einer Mütze bedeckt. Das Haar eines Mädchens, das es offen trug, leuchtete im Licht der Straßenlaternen wie Flachs.

Die Menschen in den vorderen Reihen hatten einander untergehakt und Ketten gebildet, geschlossen aus Armen und Rümpfen. Die schwächeren Glieder wurden aufgehoben von den stärkeren. Der Mehrheit war anzusehen, dass sie diesen Marsch, für den es kein Ziel gab, nur die Bewegung, das Fortschreiten, nicht geplant hatte. Vielmehr wollte die Menge aufbegehren und überließ das ihrem Kör­per, der ihren Willen nach außen trug und wie eine einmal in Gang gesetzte Maschine vorwärtsstrebte. Es war, als verringerte sich mit jedem Schritt der Ballast an Furcht. Sie alle waren auf der Straße aus freiem Willen. Kein Befehl gab ihnen die Richtung vor. Keine Reglementierung lenkte sie. Keiner Erwartung mussten sie folgen. Es war eine Übereinstimmung vorhanden, die sich im Schrittmaß wiederfand. Sie alle vereinte das Verlangen, auszubrechen und gleichzeitig zusammenzu­stehen. Die Menschen in der Menge hatten die Nachrichten­bilder derer im Kopf, die ihre Nach­barn, Arbeitskollegen oder Verwandten waren, die per Räuber­leiter Botschaftszäune überwunden oder mit bloßen Händen die Gitter der ungarischen Grenze nach Österreich umgeworfen und das freie Feld gestürmt hatten wie 200 Jahre zuvor die Kommunarden die Bastille.

Vorwärts, und nicht vergessen, die Solidarität! Aus irgendeiner Kehle wurde die Internationale angestimmt. Völker hört die Signale. Auf zum letzten Gefecht! Mit jedem Schritt wurde der Gesang lauter, mit jedem Schritt fester, gewaltiger. Ein Chor Tausender Stimmen. Niemand hätte sagen können, wie das letzte Gefecht aussehen, geschweige denn ausgehen wür­de und gegen wen es tatsächlich geführt werden müsste. Sie alle lebten im Moment. Nur wenige trugen einen Vorsatz in sich. Nur ein Bruchteil von ihnen hatte die in der Nikolaikirche gesprochenen Worte des Jugendpfarrers verinnerlicht, der in seinem Friedensgebet an Jako­bus gemahnte, der die Gläubigen aufforderte, Täter des Wortes und nicht allein Hörer desselben zu sein.

Äußerlich aber waren sie eins. Sie waren Hörer ihrer selbst und Akteure ihres Willens. Und sie schlugen alle dieselbe Richtung ein. Ihr Schritt hallte wider in ihren Gliedern. Ihr Gesang, als der Kanon ihres Antriebs, gab ihnen die Kraft, geschlossen nach vorn dem Hindernis zuzustreben. Keiner vermochte diesen Gang als Promenade zu empfinden. Sie alle wussten, dass der Moment, in dem sich ihnen niemand in den Weg stellte, endlich war. Und die ersten Reihen wussten dies früher als die letzten. Etwa 200, 300 Meter vor ihnen, in Sichtweite, hatten sich Hundertschaften der Bereitschaftspolizei postiert. In erster Linie standen Sondereinheiten, die Schilde trugen, weißbehelmte Männer, das Visier heruntergeklappt. Es waren Schilde aus Plexiglas, in denen sich die Beleuchtung des Georgirings spiegelte. Sie glichen menschengroßen Käfern, gepanzert und ohne Angesicht.

In diesem Augenblick konnte Jesse nicht länger an sich halten. Ohne noch einen Moment länger zu zögern, reihte er sich in den Marschblock ein. Einige, die bisher neben ihm gestanden hatten, taten es ihm nach. Nach wenigen Metern, in Höhe des grell erleuchteten Exquisitgeschäfts, in dem es hochwertige Mode zu überteuerten Preisen zu kaufen gab, sah Jesse, wie sich ein Mann in seiner Reihe bückte, um einen kastaniengroßen Kieselstein vom Straßenrand aufzuheben. Der Mann hätte vom Alter her Jesses Vater sein können. Doch kümmerte das Jesse in dem Moment nicht. Schnell trat er auf den Mann zu, fasste nach dessen Faust und zwang den Mann, den Stein zu Boden fallen zu lassen.

»Was weißt du denn schon?« Des Mannes Blick verfinsterte sich vor dem strahlend dekorierten Ladengeschäft. »Meine Mutter kriegt so viel Rente wie hier ein Pullover kostet oder ein einziges Hemd. Alles für die Bonzen und ihre Weiber!«, zischte er und wandte sich ab.

»Richtig, Junge«, klang es aus der Reihe hinter Jesse. »Darauf warten die doch nur, dass hier randaliert wird!«

Jesse ärgerte sich über den Zuspruch der Frau, die ihn, den 21-Jährigen, »Junge« genannt hatte. Ohne ein Wort zu erwidern, blickte er stur nach vorn und erschrak im selben Moment. Der Raum zwischen den behelmten Polizisten, die eine Sperrfront gebildet hatten, und dem Block der Demonstranten verringerte sich Sekunde um Sekunde, Schritt um Schritt. Es tat gut, das spürte Jesse plötzlich, einen Menschen neben, vor und hinter sich zu wissen. Auf Arbeit hatte er davon gehört, dass bei der Demonstration eine Woche zuvor den Polizisten die Schirmmützen vom Kopf gerissen worden seien, als diese ihrerseits eine Kette gebildet hatten. Die Mützen wären durch die Luft geflogen, wie man es aus russischen Soldatenfilmen kennt, wenn ganze Bataillone in ihrer Heimat willkommen geheißen werden. Die Polizeikette allerdings, die jetzt immer gegenwärtiger wurde, ließ keinen Gedanken an Jubel aufkommen.

Rasch verlor der Zug an Breite und nahm immer mehr die Form eines Keiles an. Von drei Seiten sah sich der schmaler werdende Marschblock den behelmten Polizisten gegenüber. Wie Kinder, die Schläge erwarteten, hatten die in den vorderen Reihen schützend ihre Arme vor das Gesicht gehoben und gingen beinahe blind voran.

»Bleibt zusammen!« Der Ruf einzelner Mahner ging in der Menschenmenge unter.

»Gorbi, Gorbi - eins-zwei-drei! Gorbi, Gorbi - eins-zwei-drei!«, skandierten, verstärkt durch rhythmisches Klatschen, plötzlich Hunderte den Namen des Generalsekretärs der Kommunisti­schen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, dessen Name für Veränderung stand. Glasnost und Perestroika. Begriffe in der ungeliebten russischen Sprache, die auf einmal leicht über die Lippen kamen. »Gorbi, Gorbi - eins-zwei-drei!« Und auf einmal hieß es, »Gorbi, hilf!« - und es klang, als riefen sie einen Heilsbringer herbei.

Längst war die Formation ins Stocken geraten, nur schleppend ging es voran. An den Seiten war kein Ausbrechen, kein Weiterkommen möglich. Zur Linken und zur Rechten standen in Doppel­reihen die Bereitschaftspolizisten. Die Polizeilinie erwies sich als festes Spalier, das ihnen den Weg abschnitt. Dem Zug gegenüber standen die Behelmten der Sondereinheit und kesselten die Menge ein. Ein fester Riegel. Der Menschenstrom wurde immer langsamer. Schließlich stockte er vollends.

»Weitergehen!«, wurde von hinten gerufen. Pfiffe wurden laut. Die Kraft des Zuges wurde nach hinten geworfen. Wie eine Welle, die zurückschwappt, breitete sich Unruhe aus.

»Lasst uns durch!«, schrie eine Frau, der Hysterie nahe, und ihr Schrei vervielfachte sich.

Die Arme, die viele aus Furcht vor den Knüppeln der Polizei hochgerissen hatten, blieben erhoben und sahen für die andere Seite bedrohlich aus.

Der Zug bahnte sich seinen Weg, als presste man ihn durch einen Trichter. Die Masse, die bis eben noch die Straßenbreite eingenommen hatte, wurde durch eine vier bis fünf Meter große Lücke in der Absperrung geführt. Es war unverkennbar, dass die Polizei den Zug zwar aufreiben, zerstreuen, aber nicht gänzlich aufhalten wollte. Aus dem Kessel sollte der Druck entweichen.

»Schämt euch was!« Der Ruf klang verzweifelt, doch prallte er wirkungslos an den Schilden der Uniformierten ab.

Auf Augenhöhe war für Jesse zu sehen, dass hinter den behelmten Polizisten weitere Uniformierte standen, die keine Schilde trugen, stattdessen mit beiden Armen in die Menschenmenge griffen und einzelne Demonstranten herauszogen. Es lag in der Macht der Polizisten, ob die Herausgezogenen auf einen bereitstehenden Mannschaftswagen, zu dessen Plattform eine heruntergelassene Leiter führte, gehievt oder lediglich zur Feststellung ihrer Personalien einer Gruppe von Einsatzkräften zugeführt wurden.

Ehe Jesse erkannt hatte, dass sich die Mehrheit des Demonstrationszuges hinter der...

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Ralph Grüneberger ist gebürtiger Leipziger und in der Messestadt aufgewachsen. Lesereisen ins europäische Ausland sowie Literaturstipendien, die er erhielt, ließen ihn in Brandenburg, Niedersachsen, den Niederlanden, in Ungarn und im US-Staat Virginia immer mal wieder Abstand von seiner Region finden. Als Stipendiat der Kulturstiftung Sachsen begann er 2012 mit der Arbeit an seinem ersten Roman, nachdem er Arbeiten für den Rundfunk, Literaturkritiken für das Feuilleton, zahlreiche Lyrik- und Prosabände sowie Monographien zu bildenden Künstlern veröffentlicht hatte. Er ist Herausgeber einer Literaturzeitschrift, seit mehr als zwei Jahrzehnten Vorsitzender der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. und Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.