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Ruth Tannenbaum

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
448 Seiten
Deutsch
Schöffling & Co.erschienen am27.08.20191. Auflage
Salomon Tannenbaum bezieht 1920 Prügel auf die Fußsohlen, weil er nicht mit den Empfindlichkeiten des noch jungen Königreichs Jugoslawien rechnet. Seither sitzt ihm die Angst in den Knochen. 1928 heiratet er die Frau mit den größten Augen, die Zagreb je gesehen hat, und wenig später wird Töchterchen Ruth geboren, deren Augen noch größer sind und die eines Tages wegen dieser Augen zum Kinderstar am Zagreber Nationaltheater wird. Als kroatische Shirley Temple feiert sie wahre Triumphe, Triumphe, die nicht nur ihr, sondern der ganzen Familie zu Kopf steigen. Als die Deportationen beginnen, ist es aus mit dem Ruhm und bald auch mit dem Leben. Miljenko Jergovi? gelingt mit 'Ruth Tannenbaum' ein fantastischer Roman über eins der finstersten Kapitel nicht nur der jugoslawischen Geschichte. Er setzt damit zugleich Lea Deutsch ein Denkmal, deren totgeschwiegenes Schicksal ihm den Anstoß zum Schreiben gab. Es ist das international erfolgreichste Buch dieses innerhalb wie außerhalb seiner Heimat bedeutenden Erzählers.

Miljenko Jergovi?, geboren 1966 in Sarajevo, lebt in Zagreb. Er arbeitet als Schriftsteller und politischer Kolumnist und ist einer der großen europäischen Gegenwartsautoren. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet worden, zuletzt (gemeinsam mit seiner deutschen Übersetzerin Brigitte Döbert) mit dem Georg-Dehio-Buchpreis 2018. Der Österreichische Buchhandel verleiht ihm am 20. November 2022 den Ehrenpreis. Brigitte Döbert, geboren 1959 in Offenbach am Main, lebt in Berlin. Sie u?berträgt seit u?ber zwanzig Jahren Belletristik, darunter 'Die Tutoren' von Bora ?osi? und das Werk von Miljenko Jergovi?, aus verschiedenen exjugoslawischen Staaten ins Deutsche und wurde dafu?r mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW (2016) sowie dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung (2016).
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR26,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR14,99

Produkt

KlappentextSalomon Tannenbaum bezieht 1920 Prügel auf die Fußsohlen, weil er nicht mit den Empfindlichkeiten des noch jungen Königreichs Jugoslawien rechnet. Seither sitzt ihm die Angst in den Knochen. 1928 heiratet er die Frau mit den größten Augen, die Zagreb je gesehen hat, und wenig später wird Töchterchen Ruth geboren, deren Augen noch größer sind und die eines Tages wegen dieser Augen zum Kinderstar am Zagreber Nationaltheater wird. Als kroatische Shirley Temple feiert sie wahre Triumphe, Triumphe, die nicht nur ihr, sondern der ganzen Familie zu Kopf steigen. Als die Deportationen beginnen, ist es aus mit dem Ruhm und bald auch mit dem Leben. Miljenko Jergovi? gelingt mit 'Ruth Tannenbaum' ein fantastischer Roman über eins der finstersten Kapitel nicht nur der jugoslawischen Geschichte. Er setzt damit zugleich Lea Deutsch ein Denkmal, deren totgeschwiegenes Schicksal ihm den Anstoß zum Schreiben gab. Es ist das international erfolgreichste Buch dieses innerhalb wie außerhalb seiner Heimat bedeutenden Erzählers.

Miljenko Jergovi?, geboren 1966 in Sarajevo, lebt in Zagreb. Er arbeitet als Schriftsteller und politischer Kolumnist und ist einer der großen europäischen Gegenwartsautoren. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet worden, zuletzt (gemeinsam mit seiner deutschen Übersetzerin Brigitte Döbert) mit dem Georg-Dehio-Buchpreis 2018. Der Österreichische Buchhandel verleiht ihm am 20. November 2022 den Ehrenpreis. Brigitte Döbert, geboren 1959 in Offenbach am Main, lebt in Berlin. Sie u?berträgt seit u?ber zwanzig Jahren Belletristik, darunter 'Die Tutoren' von Bora ?osi? und das Werk von Miljenko Jergovi?, aus verschiedenen exjugoslawischen Staaten ins Deutsche und wurde dafu?r mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW (2016) sowie dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung (2016).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783731761655
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum27.08.2019
Auflage1. Auflage
Seiten448 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2390 Kbytes
Artikel-Nr.4810180
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


I

Wir schreiben das Jahr 1920. Wie jeden Nachmittag betrat Salomon Tannenbaum den Österreichischen Kaiser, der seit zwei Jahren nicht mehr so hieß, nur benutzte keiner der Stammgäste, auch Salomon Tannenbaum nicht, den offiziellen, vom Stadtrat beschlossenen Namen Drei Hirsche. Er warf wie jeden Nachmittag seinen Hut quer durch den Raum, traf wie jeden Nachmittag den Kleiderhaken und rief: »Moni kommt zum österreichischen Kaiser!«, was die versammelten Trinkbrüder normalerweise mit einem: »Er lebe hoch!« quittierten. Damit war das nächste gemeinschaftliche Besäufnis eröffnet, wie es im Österreichischen Kaiser seit König Petars Tagen, seit dessen Truppen Zagreb befreit hatten, Tradition war. Die Männer soffen, nicht weil es etwas zu feiern gab, sondern weil sie nichts Besseres zu tun hatten. Als würden sie auf etwas warten, nur worauf, das wusste keiner.

Heute jedoch antwortete keiner auf Salomon Tannenbaums Ausruf: »Moni kommt zum österreichischen Kaiser!«, sein Hut flog Richtung Garderobe quer durch einen totenstillen Raum, die Gäste starrten unverwandt auf ihren Stamper oder Bierkrug, als wäre Salomon Luft und nicht eben hereinspaziert, als würde er nicht einen Arrak plus eine Scheibe Meerrettich bestellen und zu seinem Stammplatz schlendern, als würde er sie nicht auffordern, ihm Gesellschaft zu leisten. Sie stellten sich taub und blind.

»Was ist denn in euch gefahren?!«, blökte er schließlich.

Zwei Männer, hochgewachsen und bärtig der eine, der andere ein kleiner grauer Typ mit Hut, traten an seinen Tisch. Der eine wollte den Ausweis sehen, der andere verpasste ihm, bevor Moni auch nur die Hand nach der Brieftasche ausstrecken konnte, eine Maulschelle. Salomon Tannenbaum fragte nicht, weder damals noch später, warum sie ihn schlugen, ihm im Untergeschoss der Gendarmerie am Zrinjevac mit geschulter Präzision Stockhiebe auf die Fußsohlen verabreichten, während er wie am Spieß brüllte und um Hilfe bettelte. Und gleichzeitig in einem entlegenen Winkel seines Hirns der Gedanke: Gut, dass die Wände so dick sind und mich keiner hört, ich müsste mich ja schämen für mein Geschrei. Dass er nicht wusste, wofür sie ihn schlugen, kaufte ihm keiner ab.

Ach, Salomon, Moni, du hast so viel Verstand in der Birne wie ein Bettler Safran im Brei!

Die einen sagen, er sei nach fünf Tagen wieder freigekommen, andere halten das für eine Übertreibung, am nächsten Morgen schon hätten sie ihn im Park vor der Gendarmerie gesehen. Ihn selbst konnte man nicht fragen, Salomon erinnerte sich nicht, er war danach monatelang wie ein Irrer durch Zagreb gerannt und wollte keinen mehr kennen. Ob die Prügelstrafe nun fünf Tage oder eine Nacht dauerte, sie wurde so fachmännisch durchgeführt, dass er keine Haut mehr auf den Fußsohlen hatte. Wenigstens den Vorteil hatte die Affäre: Salomon Tannenbaum lernte, auf Händen zu gehen. Anders wäre er nicht nach Hause gekommen. In die Gunduliceva.

Weil er leichenblass und so zu Tode erschreckt, dass es für drei Leben gereicht hätte, das Bett hütete, verpasste er die Ereignisse am Hauptbahnhof, die allerdings etwas mit seiner Verhaftung zu tun hatten. Unter den Klängen dreier Nationalhymnen rollte auf Gleis 1 eine Lokomotive mit drei Waggons ein, in denen Aleksandar, der taufrische Thronfolger eines taufrischen Königreichs, und ein bunt zusammengewürfelter Tross von Offizieren, Adjutanten, Admirälen, Ordonnanzen, Clanchefs und Financiers des neu gegründeten Nationalstaats saßen, während der kroatische Ban, Matko Laginja, mit feuchten Augen, ein Redemanuskript in den verschwitzten Händen, auf die Bande in Prunkuniformen wartete. Als Aleksandar aus dem Zug kletterte, schlotterten dem armen Mann die Knie in der Frühlingssonne, und dann bemerkte Ban Laginja zu seinem Entsetzen blaue Farbe an seinen Händen und dass die Schrift auf dem Blatt Papier verlaufen war. Derart tintenbefleckt durfte seine Rechte auf keinen Fall die Hand eines Prinzen schütteln! Als der Thronfolger schließlich vor ihm stand, brachte er kein Wort heraus und starrte ihn an, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen. Seine Frau, eine ausgesprochen resolute Person, rettete die verfahrene Situation, ähnlich schmerzhaft wie die Stockhiebe auf Salomons Fußsohlen, schob ihren Gatten beiseite und wandte sich mit folgenden Worten an den Prinzen: »Euer Hoheit! Wir überreichen Euch weder Salz noch Brot, schließlich kommen Euer Hoheit nach Hause!«

Mit diesen Worten, zugegeben im Sinn des Protokolls ausgeschmückt und ohne die peinlichen Begleitumstände zu erwähnen, ging die Frau des Bans in die Schulbücher ein, und in den folgenden Jahrzehnten war der Satz von Aleksandars Zuhause für die kroatische Hauptstadt und die kroatischen Stämme das Maß ihres jugoslawischen Patriotismus.

Was Salomon Tannenbaum betrifft, dem kam der Österreichische Kaiser nie mehr über die Lippen, auch nicht als Name einer Restauration, die wenig später ohnehin geschlossen und von einer Eisenwarenhandlung abgelöst wurde. Und weil sich keiner der Gäste an Drei Hirsche gewöhnen konnte, bekam bei hochrangigem Belgrader Besuch in Zagreb einer nach dem anderen die Füße versohlt, ob sich nun ein königlicher Gesandter, General oder Minister ansagte.

Salomon Tannenbaum trumpfte nie wieder auf, und wenn er den Hut Richtung Garderobe schleuderte, warf er absichtlich jedes dritte Mal daneben.

Acht Jahre später folgte eine riesige Menschenmenge dem Sarg von Stjepan Radic hinauf zum Mirogoj. Begleitet wurde das sommerliche Begräbnis des ermordeten Volkstribuns von einem Großaufgebot Gendarmen, Beamten in Zivil und Spitzeln, die auf jede noch so belanglose Provokation lauerten. Sie hätten jeden Revoluzzer herausgeholt, der im Schutz der Masse Parolen gegen das Königspaar gerufen hätte, doch sie lauerten vergebens: Aus Sicht der Ordnungshüter war es eine stinklangweilige Veranstaltung, nichts als gelegentliche Schluchzer und das Geräusch Tausender Füße zu hören, die in gummi- oder lederbesohlten Schuhen gemessenen Schritts voreinander gesetzt wurden. Und das klang, sobald man die Augen schloss, weitaus schlimmer als ein vereinzeltes Nieder mit dem König!, denn mit geschlossenen Augen war es, als würden Millionen Radic die letzte Ehre erweisen, und ein Blinder hörte aus jedem einzelnen Schritt die ohnmächtige Wut, den aufgestauten Hass und die überbordende Rachsucht heraus.

Wir wissen nicht, was Salomon Tannenbaum ausgerechnet zu der Zeit am Friedhofseingang verloren hatte, jedenfalls stand er da, seine Augen schweiften von den Spitzeln und Gendarmen hinüber zum Trauerzug und wanderten von da wieder zurück, und mit der Blickrichtung wechselte seine Gemütsverfassung: Ruhten seine Augen auf der Menschenmenge, die sich auf Tausenden Sohlen vorwärtsschob, fuhr ihm der Schreck in die Glieder und sein Herz schlug für die Ordnungshüter, doch sah er wiederum deren vom Hass verzerrte Mienen, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließen, fühlte Salomon Tannenbaum mit den Bauern aus Slawonien und der Lika, die um ihren toten Anführer trauerten und die Fäuste in den Taschen ballten. Salomon Tannenbaum hatte Gewissensbisse, weil er sich wie immer nicht entscheiden konnte. Seinem eigenen Empfinden nach stand er stets auf der falschen Seite.

Einige Monate nach der Beisetzung hielt er um die Hand von Ivka Singer an, der Tochter des Lebensmittelhändlers Abraham Singer aus der MesniÄka. Sie klimpere, hieß es in Zagreb, wie Kleingeld in der Hosentasche eines Millionärs, denn sie hatte die dreißig überschritten und wäre ohne Salomon Tannenbaum sitzengeblieben, obwohl die zierliche Frau mit ihrem hellen Teint und den pechschwarzen Haaren keineswegs unattraktiv aussah: gleichsam ein Tropfen spanischen Blutes auf dem Asphalt der Ilica. Nie haben größere Augen auf Zagreb geblickt. Männer verliebten sich in diese Augen, Frauen machten sich darüber lustig, und Kinder fürchteten sich davor. Die großen Augen schlichen sich in ihre Träume, wurden Stoff ihrer Albträume; mehrere Generationen wuchsen in den Straßen rund um die Ilica auf, die Ivka Singers Augen mit Angst und Zähneklappern gleichsetzten. Doch nicht wegen der kindlichen Albträume blieb sie lange unverheiratet. Im Gegenteil, ihre Augen lockten so viele Heiratskandidaten, dass der alte Singer auf einen immer noch besseren Bräutigam für seine Tochter hoffte.

Die Liste aller Verehrer wäre zu lang, doch an einige sollte man sich erinnern, solange es lebende Singers und Tannenbaums und Klatschbasen unter deren Bekannten gab. Kurz nach Ivkas fünfzehntem Geburtstag eröffnete Abraham Singers Dubrovniker Geschäftspartner Mosche Benhabib den Reigen; zwischen den Männern hatte sich dank ihrer vierzigjährigen Handelsbeziehung so etwas wie Freundschaft entwickelt. Mosche besaß Häuser in Dubrovnik und Florenz, Landgüter in Ungarn, Slawonien und dem Banat, sein Vermögen war größer als das der Singers je gewesen war oder werden sollte, und er war seit Langem Witwer, hatte seine Rieke gefreit als ganz junger Kerl, der vor Kraft strotzte und derart von sich eingenommen war, dass er ihren letzten Atemzug kaum beachtete. Seine Geschäfte ließen ihm fortan keine Zeit zum Heiraten, und als ihm mit beinah achtzig - viel zu spät - auffiel, dass ihm die Zeit davonlief, suchte er eine, die ihn bis zur Schwelle des Jenseits geleitete und zuvor einen Erben schenkte.

»Ich werd nicht mehr sein lang auf der Welt«, sagte er, »ich bereit der Kleinen eh nicht lang Müh, und ein Vermögen werd ich ihr hinterlassen, dass du sie mit dem Prinzen von Abessinien wirst verheiraten können.«

Abraham Singer kam in der Nacht nicht zur Ruhe und tat auch die nächste und übernächste kein Auge zu. Sieben Tage und sieben Nächte...

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Miljenko Jergovic, geboren 1966 in Sarajevo, lebt in Zagreb. Er arbeitet als Schriftsteller und politischer Kolumnist und ist einer der großen europäischen Gegenwartsautoren. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet worden, zuletzt (gemeinsam mit seiner deutschen Übersetzerin Brigitte Döbert) mit dem Georg-Dehio-Buchpreis 2018. Der Österreichische Buchhandel verleiht ihm am 20. November 2022 den Ehrenpreis.

Brigitte Döbert, geboren 1959 in Offenbach am Main, lebt in Berlin. Sie überträgt seit über zwanzig Jahren Belletristik, darunter "Die Tutoren" von Bora Cosic und das Werk von Miljenko Jergovic, aus verschiedenen exjugoslawischen Staaten ins Deutsche und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW (2016) sowie dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung (2016).

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