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Die Europäer

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
640 Seiten
Deutsch
Hanser Berlinerschienen am21.09.20201. Auflage
Orlando Figes erzählt brillant vom Beginn der Moderne. 'Die Europäer handelt von der Entstehung Europas, und wenn man diese Geschichte heute liest, gewinnt sie eine fast utopische Qualität.' Karl Ove Knausgård
1843 - Die berühmte Opernsängerin Pauline Viardot reist nach Russland, wo die Eisenbahnstrecken gerade ausgebaut werden und europäische Ideen auf der Tagesordnung stehen. An ihrer Seite der Kunstkritiker Louis Viardot, ihr Ehemann. Während Pauline in St. Petersburg auftritt, kann ein Schriftsteller im Publikum seinen Applaus kaum im Zaum halten. Iwan Turgenew wird von nun an der ständige Begleiter der Viardots sein: Es entfaltet sich eine lebenslange Dreiecksbeziehung, in der sich die Entwicklung einer neuen Epoche spiegelt: die Moderne. In 'Die Europäer' erzählt Orlando Figes nicht weniger als die Entstehung unseres kulturellen Selbstverständnisses.

Orlando Figes, geboren 1959 in London, ist Professor für Geschichte am Birkbeck College und zählt zu den renommiertesten Historikern Großbritanniens. Bei Hanser Berlin erschien zuletzt Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert (2015).
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR34,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR8,99

Produkt

KlappentextOrlando Figes erzählt brillant vom Beginn der Moderne. 'Die Europäer handelt von der Entstehung Europas, und wenn man diese Geschichte heute liest, gewinnt sie eine fast utopische Qualität.' Karl Ove Knausgård
1843 - Die berühmte Opernsängerin Pauline Viardot reist nach Russland, wo die Eisenbahnstrecken gerade ausgebaut werden und europäische Ideen auf der Tagesordnung stehen. An ihrer Seite der Kunstkritiker Louis Viardot, ihr Ehemann. Während Pauline in St. Petersburg auftritt, kann ein Schriftsteller im Publikum seinen Applaus kaum im Zaum halten. Iwan Turgenew wird von nun an der ständige Begleiter der Viardots sein: Es entfaltet sich eine lebenslange Dreiecksbeziehung, in der sich die Entwicklung einer neuen Epoche spiegelt: die Moderne. In 'Die Europäer' erzählt Orlando Figes nicht weniger als die Entstehung unseres kulturellen Selbstverständnisses.

Orlando Figes, geboren 1959 in London, ist Professor für Geschichte am Birkbeck College und zählt zu den renommiertesten Historikern Großbritanniens. Bei Hanser Berlin erschien zuletzt Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert (2015).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783446268760
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum21.09.2020
Auflage1. Auflage
Seiten640 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.5155161
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


 

 

1. KAPITEL

Europa 1843

 

Durch die Eisenbahnen wird der Raum getödtet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig â¦ In vierthalb Stunden reist man jetzt nach Orléans, in eben so viel Stunden nach Rouen. Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Thür brandet die Nordsee.

Heinrich Heine, Lutetia, 1843

 

 
1

 

Am 3. November 1843 fieberte das ausverkaufte Petersburger Bolschoi-Theater dem Augenblick entgegen, in dem sich der Vorhang hob. Man wollte erleben, wie die große Sopranistin Pauline Viardot ihr russisches Debüt als Rosina im Barbier von Sevilla gab. Auf den Sesseln der vorderen Parkettreihen saßen die höchsten Repräsentanten des Russischen Reiches in Fräcken neben ihren Frauen und Töchtern, die überwiegend in Weiß, die Farbe der Saison, gekleidet waren; hinter ihnen hatten sich Minister in Abendanzügen und Offiziere in Uniform niedergelassen. Nirgends gab es einen freien Platz, weder in der Beletage noch in den Privatlogen der vier unteren Ränge mit den stilvoll gekleideten Adligen, deren Diamanten im Licht der Öllampen riesiger Kronleuchter funkelten. Auf den billigsten Sitzen des fünften und höchsten Ranges drängten sich Studenten, Angestellte und ernsthafte Musikliebhaber eng aneinander und reckten die Hälse, um die Bühne sehen zu können. Ein Rauschen der Erregung durchfuhr das Auditorium, während Spätankömmlinge ihre Plätze einnahmen und die Ouvertüre begann. Der bevorstehende Auftritt der berühmten Sängerin mit Giovanni Rubini und seiner italienischen Sängertruppe war seit vielen Wochen das einzige fesselnde Thema der Salonkonversationen in St. Petersburg gewesen. Die durch die Presse angeheizte Spannung war so intensiv, dass eine Zeitung überstürzt einen Artikel über den ersten Auftritt der Primadonna - Beschreibungen des dröhnenden Beifalls eingeschlossen - zwei Tage vor dem Ereignis veröffentlichte.1

Pauline Viardot-Garcia, wie sie sich damals nannte, überraschte alle durch ihr Äußeres. Mit ihrem langen Hals, den großen hervorstehenden Augen und schweren Lidern wirkte sie auf exotische Art ungewöhnlich oder sogar pferdegesichtig, wie manche meinten. Aber ihr anmutiges Lächeln und ihre haselnussbraunen, vor Intelligenz sprühenden Augen sowie die Lebhaftigkeit ihrer Miene, die ihr Temperament widerspiegelte, verliehen ihren Zügen ein bezauberndes Interesse. »Üppige Hässlichkeit« bescheinigte ihr der russische Außenminister Graf Karl Nesselrode bei ihrem Debüt in St. Petersburg. Der Dichter Heinrich Heine, als Witzbold bekannt, bemerkte, sie sei »von einer Hässlichkeit, die edel, ich möchte fast sagen, schön ist«.2

Ihre Stimme war der Schlüssel zu ihrer bezaubernden Bühnenpräsenz. Sie besaß eine gewaltige Kraft, einen außergewöhnlichen Umfang und erstaunliche Vielseitigkeit.*1 Es war keine weiche oder kristallklare Stimme - manche hielten sie für guttural -, doch sie zeugte von dramatischer Kraft und emotionaler Intensität, durch die sie gleichermaßen Tragödien wie spanische Zigeunerlieder meisterte. Camille Saint-Saëns verglich ihre Stimme mit dem Geschmack von »Bitterorangen«.3 Clara Schumann, die ihr im August 1843 in Paris lauschte, war der Ansicht, sie habe »noch nie so eine Frauenstimme« gehört.4 Die Russen pflichteten ihr bei. »Wir haben viele erstklassige Sängerinnen gehört, doch keine hat uns derart überwältigt«, schrieb ein Kritiker über den ersten Auftritt in St. Petersburg. »Der erstaunliche Umfang ihrer Stimme, ihre unübertroffene Kunstfertigkeit, ihre betörende, silbrige Tonalität, jene Passagen, denen selbst das geübte Ohr kaum folgen konnte - so etwas haben wir nie zuvor vernommen.«5 Als der letzte Vorhang gefallen war, applaudierten die Zuschauer eine ganze Stunde lang.

Die Russen hatten eine Leidenschaft für die Oper, und ihr spontaner Enthusiasmus entzückte die Sängerin.6 Am zweiten Abend erntete sie stürmischen Beifall, als sie in der Unterrichtsszene des zweiten Aktes ein bekanntes russisches Lied sang. Sie hatte Russischstunden genommen, um sich die richtige Aussprache anzueignen. Solche Showeffekte nutzte sie im Ausland häufig, um die Herzen des Publikums zu erobern. Zar Nikolaus war so hingerissen, dass er den überschwänglichen Applaus anführte, die Sängerin in der kaiserlichen Loge empfing und ihr am folgenden Morgen ein Paar Diamantohrringe schickte, deren Wert sie sogleich schätzen ließ.7

Mit jedem Auftritt stieg die Begeisterung. Pauline Viardot selbst spürte, dass sich ihre Stimme allabendlich verbesserte, während sie sich durch das Repertoire der Saison hindurcharbeitete. Ihrem Debüt im Barbier von Sevilla folgten genauso sensationelle Darbietungen in Rossinis Otello, Bellinis La sonnambula und Donizettis Lucia di Lammermoor. Sämtlichen Arien schlossen sich Beifall und »Brava!«-Rufe an. Jeder Akt endete mit einem Dutzend Hervorrufen. Nach dem letzten Vorhang von La sonnambula wurde sie allein 15-mal aufgefordert, sich zu verbeugen. Die in der Seitenloge sitzende Zarina warf eine Kamelie, die vor den Füßen der Primadonna landete. Diese Geste durchbrach ein kaiserliches Verbot, das es untersagte, Blumen auf die Bühne zu werfen. Vom folgenden Abend an landeten nach jeder Arie von Pauline Viardot Blumen vor ihr. Die Floristen trieben einen schwunghaften Handel, denn jeder verfügbare Strauß wurde von Operfans aufgekauft - dieses neue Ritual lieferte seinerseits das Thema für das zeitgenössische Vaudeville-Stück Bouquets von Wladimir Sollogub.8

Dies war der Höhepunkt des russischen Wahns für italienische Opern. Wenige andere Werke fanden in St. Petersburg Gehör. In der Saison 1843/4 führte man fast zweimal so viele italienische wie russische Opern auf. Sogar Michail Glinka, der »Erfinder der russischen Oper«, dessen Stücke das Bolschoi-Theater an fast jedem Abend der ersten Monate des Jahres 1843 gefüllt hatten, musste feststellen, dass man seine Werke nach der Ankunft von Rubinis Truppe auf den Sonntag zurückstufte und dann in die Provinzen entsandte. Allerdings war Glinka seit langem an die Vorherrschaft der Italiener gewöhnt. Er hatte Anfang der 1830er Jahre in Italien gelebt und kam nicht umhin, seine Musik dem modischen italienischen Stil mit dessen fröhlichen Melodien und Virtuosenkitzeln anzupassen. Sein »russischstes« Werk, Ein Leben für den Zaren (1836), »stank« geradezu nach »Italienertum«, wie er später einräumte.9

Die Italomanie war relativ neu. Obwohl der Zarenhof im 18. Jahrhundert ein permanentes italienisches Opernensemble unterhalten hatte, war davon abgesehen vom Schwarzmeerhafen Odessa, wo viele Nichtrussen lebten, nach 1801 in Russland keine Rede mehr. Der verbannte Dichter Alexander Puschkin hörte sich eine mittelmäßige Wandertruppe an, die in der Saison 1823/4 Rossini-Opern in Odessa aufführte. Diese Erfahrung inspirierte ihn zu folgenden Zeilen in seinem Versroman Eugen Onegin (1825), in denen der gelangweilte Erzähler seine Lorgnette durch das Opernhaus schweifen lässt:

 

Und gibt es nur dort Verzauberungen?

Und was ist mit der forschenden Lorgnette?

Und mit den Rendezvous hinter den Kulissen?

Und mit der Primadonna? Dem Ballett?

Und mit der Loge, wo im Glanze ihrer Schönheit

die junge Kaufmannsfrau, selbstgefällig und matt,

von einem Pulk von Hörigen umgeben ist?

Sie hört und hört doch nicht

die Cavatine wie die Bitten

und Scherze, zur Hälfte Schmeichelei â¦

Der Gatte schlummert derweil in einem Winkel hinter ihr,

ruft im Halbschlaf Encore! aus,

gähnt und fängt erneut zu schnarchen an.10

 

Die italienische Oper kam in St. Petersburg erst nach 1836 wieder in Mode, als ein russifizierter Venezianer, Catterino Cavos, der Direktor des Bolschoi-Theaters, mit einer Produktion von Rossinis Semiramide Furore machte.

Russland war der letzte europäische Staat, der von dieser internationalen Manie erfasst wurde. Es zog alternde Stars an, die von ihrem früheren Ruhm profitieren wollten. 1841 erschien die große Giuditta Pasta, damals am Ende ihrer Karriere und mit fast völlig geschwundener Stimme, in Russland in der Titelrolle von Bellinis Norma, die sie zehn Jahre zuvor beim Debüt des Werks gesungen hatte. Kurz darauf empfingen die Russen den »größten Tenor des Zeitalters«, den mittlerweile 49-jährigen Rubini, dem der Klaviervirtuose und Komponist Franz Liszt geraten hatte, seinem Beispiel zu folgen und eine Tournee durch Russland zu unternehmen, damit ihm die Unsummen zufielen, welche die naiven Russen bereit seien, für die »Zivilisation« aufzubringen. Da der Zar St. Petersburg unbedingt auf dieselbe kulturelle Ebene wie Paris, Wien und London heben wollte, zahlte er Rubini ein Vermögen (80.000 Papierrubel oder 90.000 Francs) dafür, dass er seine Operntruppe in der Saison 1843/4 in die russische Hauptstadt brachte. Pauline Viardot allein bezog 60.000 Rubel sowie die Hälfte der Einnahmen aus anderen Konzerten, die sie nach Belieben geben konnte.11 Es war eine Vergütung, die wenige Opernsänger je erhalten hatten. Solche Ausgaben waren durch das Prestige des Ensembles, das St. Petersburg besuchte, laut dem...

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Autor

Orlando Figes, geboren 1959 in London, ist Professor für Geschichte am Birkbeck College und zählt zu den renommiertesten Historikern Großbritanniens. Bei Hanser Berlin erschien zuletzt Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert (2015).