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Ich, Antoine

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
160 Seiten
Deutsch
dtv Verlagsgesellschafterschienen am23.04.20211. Auflage
Ein Außenseiter kommt zu Wort - und entblößt ein ganzes Dorf Ein Dorf in den Bergen Korsikas, Mitte der 1980er-Jahre. Als die 16-jährige Florence tot im Pinienwald gefunden wird, ist ein Schuldiger schnell ausgemacht: Antoine Orsini, der Dorftrottel, dem die Walnussbäume näher sind als die Menschen und der ein Diktiergerät seinen besten Freund nennt. Jahre später hat er seine Haftstrafe abgesessen und kehrt zurück. Noch immer spricht im Dorf niemand mit ihm, und so streift Antoine allein umher und berichtet einem Plastikstuhl davon, was damals wirklich geschehen ist. Ruppig und mit eigenwilliger Sinnlichkeit erzählt ein einfacher Mann seine Geschichte. Und die Geschichte einer Dorfgemeinschaft, die so erbarmungslos ist wie die korsische Sonne.

Julie Estève wurde 1979 in Paris geboren, wo sie auch lebt. Sie studierte Jura und Kunstgeschichte und arbeitet für verschiedenen Museen und Magazine. >Ich, Antoine< ist ihr zweiter Roman.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR20,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextEin Außenseiter kommt zu Wort - und entblößt ein ganzes Dorf Ein Dorf in den Bergen Korsikas, Mitte der 1980er-Jahre. Als die 16-jährige Florence tot im Pinienwald gefunden wird, ist ein Schuldiger schnell ausgemacht: Antoine Orsini, der Dorftrottel, dem die Walnussbäume näher sind als die Menschen und der ein Diktiergerät seinen besten Freund nennt. Jahre später hat er seine Haftstrafe abgesessen und kehrt zurück. Noch immer spricht im Dorf niemand mit ihm, und so streift Antoine allein umher und berichtet einem Plastikstuhl davon, was damals wirklich geschehen ist. Ruppig und mit eigenwilliger Sinnlichkeit erzählt ein einfacher Mann seine Geschichte. Und die Geschichte einer Dorfgemeinschaft, die so erbarmungslos ist wie die korsische Sonne.

Julie Estève wurde 1979 in Paris geboren, wo sie auch lebt. Sie studierte Jura und Kunstgeschichte und arbeitet für verschiedenen Museen und Magazine. >Ich, Antoine< ist ihr zweiter Roman.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783423438636
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum23.04.2021
Auflage1. Auflage
Seiten160 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1061 Kbytes
Artikel-Nr.5424218
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

3

Leise, auf Zehenspitzen, mitm Finger aufm Mund, schleich ich durchn Garten von Noëlle, psst, bloß kein Mucks, psst, bloß nich lachen. Die Terrasse von Noëlle, der Muräne, is super, die schönste im Dorf, liegt direkt dem Berg gegenüber! Der Berg is ne wellige grüne Fläche mit grauen Flecken, das sind die Felsen. Hab meinen Stuhl dabei, logisch. Leg den Arm um ihn, und wir genießen zusammen die Aussicht.

 

Is besser als Fernsehen!

 

Brauchen keinen Strom. Noëlle hockt hier oft am Abend, wenn die Sonne untergegangen is. Manchmal heult sie ganz schön rum. Heult tierisch rum. Dann läuft ihr voll der Rotz aus der Nase. Florence, Florence, wimmert sie die ganze Zeit leise vor sich hin.

 

Die Berge erinnern mich an Vanina, meine Frau. Hab einfach ne blühende Fantasie. Im Bergrücken seh ich ihren Rücken und drunter ihren Popo.

 

Da is der Rücken, und da der Popo, erklär ich meinem Stuhl.

 

Aufm Dorffest vor vier Jahren hab ich zum ersten Mal mit Vanina geredet. Seitdem verwöhn ich sie, bring ihr jede Woche Blumen, hab ich versprochen. Und ich halt Wort! Aufm Dorffest vor vier Jahren hatt ich meinen ärmellosen Anorak an, muss man sich nämlich in Schale schmeißen für solche Anlässe. Stütz mich mitm Ellbogen aufn Tresen und will saufen wie n echter Mann. Hab bloß keine Kohle. Da steht allerdings n Glas rum: also ex und hopp! Mit den andern Gläsern, die offensichtlich keinem Schwein gehören, mach ichs genauso. Is heiß, alle schwitzen. Die Alten schauen den jungen Hüpfern beim Tanzen zu. Ziehen Stofftaschentücher aus ihren Hosentaschen und tupfen sich damit die Stirn ab. Denken dran, wie sie selber noch jung waren und das Tanzbein geschwungen haben. Oder vielleicht denken sie auch an gar nix, die Alten.

 

Die alte Biancarelli denkt hundertpro an was! Sitzt unter ner Buche aufm Plastikstuhl, wie dem, den ich jetzt hab, bloß ohne Sprung. Qualmt eine blaue Gitane nach der andern, weißer Rauch und n Cowboygeruch steigen auf. Sie redet mit dem Baum. Mit dem Baum! Reibt ihre Stirn an der Rinde. Horcht am Stamm: Versucht, die Stimme von ihrer toten Tochter zu hören!

 

Der Blick von Florence is ins Leere gegangen, wie sie und Magic total versaut in dem Pinienwäldchen gelegen haben! Nich mal mehr die Zehen von der Kleinen haben sich bewegt. Hab sie angeredet, aber die hat überhaupt keinen Ton mehr von sich gegeben. Hab bei ihr an den Füßen killekille gemacht, aber die hat nich angefangen zu lachen! Irgendwann hab ich sie gepackt und geschüttelt. Die war ganz schlaff und voller Blut! Hab ihr den Finger in den Mund gesteckt, weil ich mir dacht, vielleicht beißt sie ja zu, aber nö, sie hat nicht zugebissen! Hab ihr ins Ohr geschrien, was sie offenbar null gejuckt hat. Mir is der Schweiß ausgebrochen, und der war salzig wies Meer. Florence hat nämlich dermaßen nach Schlachthof gestunken, Florence, die sonst so nen guten Lavendelduft verströmt hat, an der ich immer so gern gerochen hab. Was danach passiert ist, weiß ich nich mehr, mich hats wohl umgehauen. Wie ich wieder zu mir gekommen bin, hatt ich mir in die Hose gemacht und war überall mit Scheiße angeschmiert.

 

Bin aufm Dorffest und total blau, in meinem Kopf dreht sich alles. Ursprünglich wollt ich ja Alkoholiker werden, aber so weit hab ichs nich gebracht. Man muss sich am Anfang echt zwingen zu dem ständigen Trinken. Ist hart, Trinken, wenn man gar keinen Durst hat! Und kost auch noch Geld. Säufer trinken eben, damit das Leben und die Langeweile vergehen.

 

Aber mir is nie langweilig!

 

N paar stämmige Burschen singen im Chor. Paghjella, todtraurige korsische Musik. Die verschiedenen Stimmen vermischen sich, und ich seh wieder Madame Madeleine vor mir, ihr Lächeln, ihre sanften Hände, die weißen Haare und das schwarze Kleid mit den Vögeln drauf. Hab Gänsehaut, das ganze Dorf treibt im Fluss von der Musik und wiegt sich in Gedanken an seine Toten. Die alte Biancarelli steht abseits bei der Buche und weint sich fast die Augen aus.

 

Florence, mein Kind, jammert sie.

 

Vanina drängt sich in nem großgeblümten Kleid durch die Menge und rempelt Noëlle an, die ihr Gesicht in den Händen vergräbt. Weint um die Kinder, die sie nie gehabt hat, Noëlle. Kann keine Kinder kriegen, die Muräne! Ihre Gebärmutter is unfruchtbar, haben die Ärzte gesagt. War n Schock für sie, hat ihr wehgetan innerlich. Bricht seitdem jedes Mal in Tränen aus, wenn sie ne schwangere Frau sieht oder ne Mutter mitm Baby aufm Arm, obwohl sie mittlerweile sowieso zu alt is zum Kinderkriegen! Reicht auch schon, wenn ne dicke Frau auftaucht, die überhaupt kein Kind hat, sondern bloß nen fetten Bauch, weil sie das nämlich dran erinnert, dass sie unfruchtbar is.

Hat alles versucht. War erst beim Pfarrer und dann bei ner Teufelsaustreiberin, die Öl in Wasser geträufelt und nen Berg Heilkräuter angezündet hat. Sie hat n spezielles Ritual gehabt, bei dem sie vor nem Ei gesessen und dazu Gebete hergesagt und Weihrauch gestreut hat. Aber das Ganze hat nich hingehauen, und inzwischen is sie alt geworden. Sie hat ne komisch gerunzelte Stirn. Sieht aus wie n zerknittertes Blatt. Oder n abgestorbenes Blatt. Sie kann ihr Leid nich mehr ertragen. Beschimpft jeden, der ihr übern Weg läuft, und macht ständig Rabatz. Ich glaub, sie hat den bösen Blick, deswegen pass ich auf, dass ich ihr nich zu nahekomm. Wenn ich ihr begegne, spuck ich aufn Boden und zeig ihr die Hörner.

 

So wehr ich den Zauber ab!, sag ich zu meinem Stuhl.

 

Aufm Dorffest schubst Noëlle Vanina, weil die sie vorher ja angerempelt hat, und kippt ihr n Glas Rotwein übers großgeblümte Kleid. Drecksnutte!, zischt sie. Die stämmigen Kerle brechen ihren Gesang ab, weils auf einmal ne Keilerei gibt und Stühle und Fäuste durch die Gegend fliegen. Die Leute hören mit dem Weinen auf und stürzen sich ins Getümmel. Alle mischen mit. Is ne Frage der Ehre.

 

Pierre, mein Bruder, is auch so einer, der pausenlos seine Ehre verteidigt. Manchmal schießt er jemandem mitm Karabiner in den Hintern, bloß weil der irgendwas gesagt hat, was ihm gegen den Strich gegangen ist. Wir treffen uns gar nich mehr. Und wenn wir uns doch treffen, dann zufällig. Der zieht sich ne Kapuzenmaske über, damit ihn die Polizei nich erkennt, und lauert mit seinen Freunden irgendwelchen Typen auf, die sie dann fertigmachen. Sprengen auch mal das Polizeirevier, ne Bank, das Gebäude von der Stromversorgung, nen Zeltplatz, die Kaserne oder n Haus von nem Zugereisten in die Luft. Wollen sich Respekt verschaffen, spielen die starken Männer, wie in den Mafiafilmen. Sind politische Aktionen, sagen sie. Ab und zu geht aber auch einer von ihnen drauf, weil sie die Bombe schlecht gebaut haben oder sich nich einig sind und sich deswegen gegenseitig abmurksen. Vor den Bars und Diskos oder in irgendwelchen Autos werden laufend Leute abgeknallt. Und weil unsere Insel ja nich so wahnsinnig groß is, gibts in so gut wie jeder Familie einen, der sich wegen nem unaufgeklärten Mordfall in der Verwandtschaft Rache geschworen hat. Die Witwen von den toten Männern und die Mütter von den toten Söhnen weinen bis ans Ende ihrer Tage. Na ja, die Schweine werden auch abgeschlachtet, weil man an den Schinken rankommen will, aber bei den Menschen kann man halt nich noch mal von vorn anfangen und die durch andere ersetzen. Hab mal ne Leiche gesehen, bei der das Gehirn in seine Einzelteile zerlegt war, da hab ich gleich kotzen müssen. War der Cousin von nem Kerl, der bei uns im Dorf wohnt, also n ziemlich entfernter Cousin, aber seitdem will der Kerl rausfinden, wers war, und den Hurensohn umlegen. Hats bloß noch nich rausgekriegt.

 

Ich werd den Hurensohn umlegen!, meint er.

 

Vanina is aufm Dorffest hingefallen, wahrscheinlich wegen ihren hohen Absätzen. Ich heb sie auf wie nen Stein. Ihr Haarknoten hat sich aufgelöst, das Kleid ist total versaut! Wir seilen uns von der Schlägerei ab und schauen die Berge an. Bin besoffen, sagt Vanina, und Noëlle hat nen Dachschaden.

 

Die spinnt, sagt sie.

 

Vanina sieht wirklich zum Anbeißen aus. Wie ne Frau auf nem Kinoplakat. Blauer Lidschatten und Rotweinspuren an den Lippenrändern, dazu rote Fingernägel.

 

Siehst aus wie ne Frau auf nem Kinoplakat!, sag ich zu ihr.

 

Nimmt sie meine Hand, ich guck ihre roten Fingernägel an und krieg nen Steifen, ohne dass ich was dafür kann. Mein ganzer Körper brennt wie ne Gaslaterne in der Nacht. Vanina verbreitet nen Bäckereigeruch, der Hunger macht.

 

Nett von dir, dass du das sagst, meint sie.

 

Und dann fängt sie an zu weinen und erzählt mir, dass ihr alle immer ihren Schniedel reinstecken wollen und dass sie ihn auch reinstecken, sie aber nich mehr das Flittchen vom Dienst sein mag. Am Anfang schmieren sie mir immer Honig ums Maul, sagt sie, und freuen sich, dass sie nich allein nach Haus gehen müssen! Hab nix dagegen, wenn sie mir nen Geldschein dafür geben, da is doch nix Schlechtes dabei, von meinem Gehalt bei Carrefour kann ich mir keine Schuhe für hundertfünfzig Mäuse kaufen, von dem Geld können der Kleine und ich grade zwei Wochen leben, und Klamotten sind nun mal mein Laster, aber sich elegant kleiden, das ist einfach wichtig für n Mädchen! Und Noëlle, ich halt die nich mehr aus, die ist doch geistesgestört, reif für die Anstalt, ach, die Weiber sind sowieso noch schlimmer als die Typen, siehst du, wie die mich angaffen, diese Neiderinnen! Weil mein Busen so schön...
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Autor

Julie Estève wurde 1979 in Paris geboren, wo sie auch lebt. Sie studierte Jura und Kunstgeschichte und arbeitet für verschiedenen Museen und Magazine. ¿Ich, Antoine¿ ist ihr zweiter Roman.