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Hegels Seele oder Die Kühe von Wisconsin

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
180 Seiten
Deutsch
Atlantik Verlagerschienen am02.06.2021
Hegel zufolge soll Musik die Seele erheben. In Wisconsin stieg bei Kühen die Milchproduktion signifikant an, als sie Symphonien hörten. Klassische Musik tut also einfach gut. Allerdings: Beethovens  Ode an die Freude  erklingt heute sowohl mit der Europahymne als auch zu den sadistischen Gewaltakten von  A Clockwork Orange . Ist die Klassik anderen Musikrichtungen wirklich moralisch und geistig überlegen? Was ist ihr Stellenwert in unserer Zeit? Sie als absoluten Wert zu verkaufen, tut dieser Musik unrecht, meint Baricco - ob Interpret oder Zuhörer, es ist an uns, sie wieder zu etwas durch und durch Lebendigem zu machen. Mit seinen spritzigen, brillant formulierten Fragen und Überlegungen tritt Baricco in einen lebhaften Dialog mit allen, denen Musik am Herzen liegt. 

Alessandro Baricco, 1958 in Turin geboren, studierte Philosophie und Musikwissenschaft. Er ist Mitherausgeber verschiedener Literaturzeitschriften und von La Repubblica. Neben seinen Romanen hat Baricco zahlreiche Essays, Erzählungen und Theaterstücke verfasst, sein Roman Seide wurde zum internationalen Bestseller. Baricco wurde mit dem Premio Campiello, dem Premio Viareggio und dem Prix Médicis Étranger ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm bei Hoffmann und Campe Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur (2018) und The Game. Topographie unserer digitalen Welt (2019).
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR18,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR15,99

Produkt

KlappentextHegel zufolge soll Musik die Seele erheben. In Wisconsin stieg bei Kühen die Milchproduktion signifikant an, als sie Symphonien hörten. Klassische Musik tut also einfach gut. Allerdings: Beethovens  Ode an die Freude  erklingt heute sowohl mit der Europahymne als auch zu den sadistischen Gewaltakten von  A Clockwork Orange . Ist die Klassik anderen Musikrichtungen wirklich moralisch und geistig überlegen? Was ist ihr Stellenwert in unserer Zeit? Sie als absoluten Wert zu verkaufen, tut dieser Musik unrecht, meint Baricco - ob Interpret oder Zuhörer, es ist an uns, sie wieder zu etwas durch und durch Lebendigem zu machen. Mit seinen spritzigen, brillant formulierten Fragen und Überlegungen tritt Baricco in einen lebhaften Dialog mit allen, denen Musik am Herzen liegt. 

Alessandro Baricco, 1958 in Turin geboren, studierte Philosophie und Musikwissenschaft. Er ist Mitherausgeber verschiedener Literaturzeitschriften und von La Repubblica. Neben seinen Romanen hat Baricco zahlreiche Essays, Erzählungen und Theaterstücke verfasst, sein Roman Seide wurde zum internationalen Bestseller. Baricco wurde mit dem Premio Campiello, dem Premio Viareggio und dem Prix Médicis Étranger ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm bei Hoffmann und Campe Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur (2018) und The Game. Topographie unserer digitalen Welt (2019).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783455000870
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum02.06.2021
Seiten180 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse573 Kbytes
Artikel-Nr.5429391
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
CoverTitelseiteMottoEinführung1 Die Ideologie der ernsten Musik2 Die Interpretation3 Die Neue Musik4 Das SpektakuläreFußnotenÜber Alessandro BariccoImpressummehr
Leseprobe

2 Die Interpretation

Die Werke, vollends die oberster Dignität, warten auf ihre Interpretation. Dass es an ihnen nichts zu interpretieren gäbe, dass sie einfach da wären, radierte die Demarkationslinie der Kunst aus.« Dieser Satz stammt von Adorno und steht in seiner Ästhetischen Theorie. Auf unseren Kontext übertragen, stellt er eine Hypothese auf, die bei aller scheinbaren Selbstverständlichkeit ein wichtiges Zeichen setzt: Als Kunst und damit als ernste Musik gilt jedes musikalische Produkt, das sich einer konkreten Interpretation unterzieht. Das bedeutet unweigerlich: Kein musikalisches Produkt ist von vornherein oder nur aufgrund einer speziellen Absicht, die dahintersteht, mehr als ein bloßes Konsumprodukt. Es wird erst in dem Moment zu etwas anderem, in dem es bei seinem Gegenüber den Drang, es zu interpretieren, auslöst. Überträgt man das auf den kollektiven Umgang mit dem Phänomen, so ist es dieser Drang, der dem Kunstwerk durch Reproduktion und kritische Reflexion eine Art postumer Existenz ermöglicht, die nicht nur über die Grenzen der Zeit, in der es entstanden ist, hinausgreift, sondern auch über die Realität und die Intentionen dessen, der es geschaffen hat. Dieses »zweite Leben« und nichts anderes lässt ein musikalisches Produkt zu einem Kunstwerk werden und entzieht es somit der Logik des reinen Konsums.

Jede Interpretation ist andererseits das Gegenteil eines Mysteriums. Den Drang zur Interpretation lösen nur Werke aus, die auf irgendeine Weise über sich selbst hinausweisen und auf mehr hindeuten als auf das, was sie aussprechen. Die Interpretation ist genau der Ort, wo dieses Mehr sich artikuliert und zum Ausdruck kommt. Sie ist ein Grenzgebiet, ein Niemandsland, das dem Werk an sich nicht mehr gehört und der Welt, die es aufnimmt, noch nicht. In einem solchen Prozess liegt das Wahrheitsmoment jenes Allgemeinplatzes, der das musikalische Kunstwerk (die ernste Musik) mit dem Streben nach irgendeiner Spiritualität verbindet. Es ist möglich, dass Kunstwerke dadurch, dass sie mehr sind als ihre bloße Existenz, das entwerfen, was heute noch von der Idee der Transzendenz realisierbar ist. Die Interpretation, die im Mysterium der Kunstwerke enthalten ist, ist die konkrete Erfahrung einer Transzendenz. Wie in der Erinnerung, so nimmt auch in der Interpretation das, was einmal einfach war, unvorhersehbare Formen und Inhalte der Offenbarung an. Derartige Gespräche mit der Vergangenheit bringen Phantome hervor. Sie sind der Zufluchtsort für das, was übrig geblieben ist von dem, was eine bestimmte Zeit mit dem Begriff Transzendenz bezeichnet hat. In diesem Zusammenhang erhellt sich auch die These, dass der »spirituelle« Charakter der ernsten Musik Aufgabe sein muss und nicht Tatbestand. Jene »Spiritualität« - jene Fähigkeit, die Transzendenz wieder hervorzurufen - nimmt erst im Prozess der Interpretation Form an und ist keinesfalls vorher schon gegeben. Bei kulinarischem Musikkonsum und ohne Vermittlung werden selbst die größten Meisterwerke der ernsten Musik wieder zu dem, was sie ursprünglich waren: brillante Verführungsmechanismen, wenn nicht gar reine Konsumprodukte. Dadurch büßen sie keineswegs ihre Würde ein, man hat nur keine Berechtigung mehr, sie von der restlichen Musik abzusetzen.

Der Begriff »ernste Musik« sollte weniger für ein spezielles Repertoire verwendet werden als vielmehr für eine besondere Art, sich mit Musik zu beschäftigen. Dabei kommt es nicht so sehr auf das an, was ein Werk zu sagen hat, als auf das, was es verschweigt. Eine solche Rezeption, die dem kreativen Prozess der Interpretation gerecht wird, ist nicht von vornherein an ein bestimmtes Repertoire gebunden. Es ist nicht auszuschließen, ja es ist sogar anzunehmen, dass in nicht allzu ferner Zukunft auch Phänomene wie Rock oder Jazz dazugehören werden. Dass man das noch nicht mit Sicherheit sagen kann, liegt vermutlich an der Schwierigkeit, das Interpretationspotenzial eines Musikstücks auf den ersten Blick zu beurteilen. Es wäre jedoch naiv, eher kommerziell orientierten Produkten dieses Potenzial von vornherein abzusprechen. Ein Großteil von Mozarts Werken, um nur ein Beispiel zu nennen, war für die gleichen Zwecke bestimmt wie heute etwa die Produktion einer Single. Die Hochzeit des Figaro entsprach dem, was bei uns ein intelligenter, gelungener Hollywoodfilm wäre. Umgekehrt kann der freiwillige Ausstieg aus dem kommerziellen Musikbetrieb nicht allein die Zugehörigkeit zur Welt der ernsten Musik garantieren, auch dann nicht, wenn der jeweilige Fall mit formalen Unverständlichkeiten ausgestattet ist. Dass so manches hirnlastige, mittelmäßige Werk der Neuen Musik nur aufgrund seiner wohlfeilen Unverständlichkeit in diese Kategorie eingeordnet wird, ist eine Unsitte, für die es keine Entschuldigung gibt; sie wird nur dadurch erträglicher, dass in ihrem Fall Schuld und Sühne zusammenfallen.

In Wirklichkeit entgeht ein Musikstück einer rein kommerziellen Identität erst in dem Moment, in dem es mit der Interpretation in Dialog tritt. Bis dahin besteht die Gefahr, dass es sich einfach um ein schwer verkäufliches kommerzielles Produkt handelt. Im Dialog mit der Interpretation wird die Identität des Werks aufgefächert und der Weg zu seiner Wahrheit auf eine Weise artikuliert, die eine naive und unmittelbare Form der Rezeption automatisch ausschließt. In ihm verwirklicht sich das, was die Idee der ernsten Musik als Utopie und Hoffnung in sich birgt. Doch es ist eine Verwirklichung, die immer wieder aufs Neue geschehen muss. Kein Kunstwerk ist so stark, dass es die Taubheit der Zuhörer auf Dauer überleben könnte. Dort, wo die Interpretation nachlässt, fällt das Werk unweigerlich wieder in die Rolle des Konsumprodukts zurück, verliert es seine Besonderheit und seine Vorrangstellung. Die Tatsache - bereits brillant demonstriert -, dass sich Beethovens Siebte ohne weiteres als Begleitmusik für Toilettenpapierwerbung einsetzen lässt, zeigt, dass auch die Splitter des klassischen Repertoires, die höchstes Charisma haben, nicht in der Lage sind, sich einem Konsum zu widersetzen, der sie zu bloßen Objekten degradiert. Der Prozess, der sie über sich selbst hinaushebt und ihre Besonderheit herausstellt, ist ohne weiteres umkehrbar und keine ein für alle Mal erworbene Errungenschaft. Es ist ein längeres Geschehen, das vom Werk erwartet wird, das die Zeit reifen lässt und das zu evozieren eine bestimmte Gegenwart schließlich die Kraft findet. Diese Kraft ist die Kraft der Interpretation, die heute so schwach ist wie nie zuvor. Das liegt daran, dass der Begriff Interpretation im Moment ein festgefahrener Begriff ist. Erst wenn sie ihn wieder in Gang setzt, kann die Welt der Musik wieder über diese Kraft verfügen und mit ihrer Hilfe den Bann der Bedeutungslosigkeit durchbrechen und mit den Werken der Vergangenheit in einen echten Dialog treten.

 

Das ist das Einzigartige und Außergewöhnliche an der Musik: Ihre Überlieferung und ihre Interpretation sind ein und derselbe Vorgang. Bücher oder Gemälde kann man in Bibliotheken oder Museen aufbewahren; interpretieren kann man sie natürlich auch, aber das ist ein anderer, separater Vorgang, der nichts mit ihrer bloßen Erhaltung zu tun hat. Bei der Musik ist das anders. Musik ist Klang, sie existiert erst in dem Moment, in dem sie erklingt - und in dem Moment, in dem man sie zum Klingen bringt, interpretiert man sie unweigerlich. Der Prozess ihrer Erhaltung, ihrer Überlieferung, ist immer »gezeichnet« von den unendlich vielen Variationsmöglichkeiten, die das Musizieren mit sich bringt. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass die Musikwelt unter einem Schuldkomplex leidet, der den anderen Künsten fremd ist: Es ist die ständige Angst, das Original zu verraten, weil es dadurch für immer verloren gehen könnte. Als verbrenne man ein Buch oder zerstöre eine Kathedrale. Die Entrüstung des Musikfreunds gegenüber einer etwas gewagteren Interpretation, die sich in einem klassischen »Aber das ist doch nicht Beethoven!« Luft macht, entspricht der Bestürzung über einen Museumsdiebstahl. Man fühlt sich beraubt.

Diese Angst hat die Praxis der musikalischen Interpretation zum Stillstand gebracht. Die Pflicht zur Überlieferung zensiert die Lust an der Interpretation. Im Schatten dieses Banns kümmern die verschiedenen Formen des Musizierens mehr oder weniger dahin, die nobelsten wie die allerschlimmsten: von der authentischen und tief empfundenen Präzision einiger großer Interpreten bis zur schlampigen Konventionalität, mit der zum Beispiel das Musiktheater behandelt wird. Dabei steht die Angst, das Werk zu verraten, ebenso hinter dem strengen Bemühen großer Dirigenten wie hinter der unbeschreiblichen Mittelmäßigkeit zahlreicher Musiker, ganz zu schweigen von den werktreuen Aufführungen, die das verzweifelte Streben nach Nähe zum Original derartig auf die Spitze treiben, dass das Zuhören zu einer Art archäologischer Liturgie wird, die nicht nur naiv ist, sondern auch eine Strafe für das Publikum.

Um einen Ausweg aus diesem Engpass zu finden, gäbe es eine drastische und radikale Methode: Man könnte das Publikum ein für alle Mal davon in Kenntnis setzen, dass das Original nicht existiert. Dass der echte Beethoven - falls es so etwas je gegeben hat - für immer verloren ist. Die Geschichte ist ein Gefängnis mit losen Gitterstäben. Der Gefangene, der hier immer noch bewacht wird, ist längst entkommen.

Für eine solche Mitteilung könnte man mit etwas gutem Willen jede Menge einleuchtender und leicht nachvollziehbarer Argumente finden. Seit Beethoven haben sich...
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Autor

Alessandro Baricco, 1958 in Turin geboren, studierte Philosophie und Musikwissenschaft. Er ist Mitherausgeber verschiedener Literaturzeitschriften und von La Repubblica. Neben seinen Romanen hat Baricco zahlreiche Essays, Erzählungen und Theaterstücke verfasst, sein Roman Seide wurde zum internationalen Bestseller. Baricco wurde mit dem Premio Campiello, dem Premio Viareggio und dem Prix Médicis Étranger ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm bei Hoffmann und Campe Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur (2018) und The Game. Topographie unserer digitalen Welt (2019).