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Niemand, den du kennst

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
400 Seiten
Deutsch
Aufbau Verlage GmbHerschienen am05.01.20211. Auflage
Ihr ganzes Leben galten Ellie und ihre ältere Schwester Lila als grundverschieden: Lila mit ihrer außergewöhnlichen Begabung für Mathematik stand stets im Mittelpunkt der Familie, während Ellie, die bodenständigere und beliebtere der beiden, sich im Hintergrund hielt. Trotzdem verband die beiden Schwestern ein enges Band, das eines Tages auf schmerzhafteste Weise zerreißen sollte. Denn als Lila spurlos verschwand, brach für Ellie eine Welt zusammen. Fassungslos wurde sie zur Zeugin einer verzweifelten Fahndung, die mit dem Fund von Lilas Leiche in einem Waldstück bei San Francisco endete - Todesursache ungeklärt.

Mehr als zwanzig Jahre später stößt die inzwischen 38-jährige Ellie zufällig auf Lilas Notizbuch, und alte Wunden brechen wieder auf. Wie getrieben stellt Ellie Nachforschungen an und muss bald einsehen, dass sie nicht alle Seiten ihrer Schwester kannte. Lilas Leben steckte voller Geheimnisse. Dunkler Geheimnisse, die sich selbst Schwestern nicht anvertrauen ...



Michelle Richmond wuchs in Mobile, Alabama, als zweite von drei Schwestern auf. An der University of Miami absolvierte sie den Master of Fine Arts und lehrte anschließend unter anderem an der Universität von San Francisco, am California College of the Arts und an der Universität Notre Dame de Namur. Sie gründete Fiction Attic Press und das San Francisco Journal of Books und ist außerdem als Verlegerin tätig. Michelle Richmond lebt mit ihrem Mann in Paris.
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Produkt

KlappentextIhr ganzes Leben galten Ellie und ihre ältere Schwester Lila als grundverschieden: Lila mit ihrer außergewöhnlichen Begabung für Mathematik stand stets im Mittelpunkt der Familie, während Ellie, die bodenständigere und beliebtere der beiden, sich im Hintergrund hielt. Trotzdem verband die beiden Schwestern ein enges Band, das eines Tages auf schmerzhafteste Weise zerreißen sollte. Denn als Lila spurlos verschwand, brach für Ellie eine Welt zusammen. Fassungslos wurde sie zur Zeugin einer verzweifelten Fahndung, die mit dem Fund von Lilas Leiche in einem Waldstück bei San Francisco endete - Todesursache ungeklärt.

Mehr als zwanzig Jahre später stößt die inzwischen 38-jährige Ellie zufällig auf Lilas Notizbuch, und alte Wunden brechen wieder auf. Wie getrieben stellt Ellie Nachforschungen an und muss bald einsehen, dass sie nicht alle Seiten ihrer Schwester kannte. Lilas Leben steckte voller Geheimnisse. Dunkler Geheimnisse, die sich selbst Schwestern nicht anvertrauen ...



Michelle Richmond wuchs in Mobile, Alabama, als zweite von drei Schwestern auf. An der University of Miami absolvierte sie den Master of Fine Arts und lehrte anschließend unter anderem an der Universität von San Francisco, am California College of the Arts und an der Universität Notre Dame de Namur. Sie gründete Fiction Attic Press und das San Francisco Journal of Books und ist außerdem als Verlegerin tätig. Michelle Richmond lebt mit ihrem Mann in Paris.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783841225184
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum05.01.2021
Auflage1. Auflage
Seiten400 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2119 Kbytes
Artikel-Nr.5492225
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
1

ALS ICH IHN ENDLICH FAND, hatte ich die Suche längst aufgegeben. Es war Nacht und ich aß allein in einem kleinen Café in Diriomo in Nicaragua. Das Lokal war mir im Laufe meiner jährlichen Aufenthalte in dem Dorf lieb und teuer geworden, zu jeder Tages- und Nachtzeit konnte man dort einen Teller Bohnen und eine Tasse Kaffee bekommen.

Ich hatte den Abend damit verbracht, durch die dunklen, menschenleeren Straßen zu wandern. Julitage in Diriomo waren brütend heiß; mit Einbruch der Dunkelheit strahlten die Gebäude die tagsüber gesammelte Hitze ab, sodass die Luft einen verbrannten, staubigen Geruch annahm. Schließlich gelangte ich an die vertraute Kreuzung. Links ging es zu meinem Hotel mit dem harten Bett und dem wenig hilfreichen Deckenventilator. Geradeaus lag ein Baseballfeld, auf dem ich einmal ein Kind aus dem Ort dabei beobachtet hatte, wie es eine Ratte mit einem alten Holzschläger totschlug. Rechts führte eine breite Straße ab, die wiederum in eine gewundene Gasse überging, an deren Ende das Café lockte.

Wenige Minuten später stand ich vor der Tür und zog an der kleinen Kupferglocke. Maria erschien in einem langen blauen Rock, weißer Bluse und ohne Schuhe, sie wirkte, als hätte sie mich erwartet.

»Habe ich Sie geweckt?«

»Nein«, sagte sie. »Willkommen.«

Das war ein Begrüßungsritual zwischen uns. Ich kam nie dahinter, ob Maria in solchen Nächten eigentlich schlief oder ob sie geduldig in ihrer Küche saß und auf Gäste wartete.

»Was gibt es heute?«, fragte ich. Das war ebenfalls ein Ritual, denn wir beide wussten, dass die Speisekarte sich nie änderte, gleich welche Uhr- oder Jahreszeit es war.

»Nacatamales«, sagte sie. »Está usted sola?«

»Sí, señora, ich bin allein.« Meine Antwort blieb, ebenso wie die Speisekarte, seit Jahren unverändert. Und doch stellte sie die Frage jedes Mal, mit einer unverhüllten Hoffnung, dass sich eines Tages das Blatt für mich wenden würde.

Das Café war leer und dunkel, trotz der Hitze draußen beinahe kühl. Sie deutete auf einen kleinen Tisch, auf dem eine Kerze in einem Glas brannte. Ich dankte ihr und setzte mich. In der Küche, die vom Essraum durch einen schmalen, mit rotem Stoff verhängten Durchgang getrennt war, hörte ich sie den Kaffee zubereiten. Ich betrachtete die Muster, die das Kerzenlicht auf die gegenüberliegende Wand zeichnete. Die Bilder schienen mir zu schön und symmetrisch, um zufällig zu sein - ein Vogel, ein Segelboot, ein Stern, gefolgt von einer Reihe rechteckiger Lichtbalken. Es löste ein Gefühl in mir aus, das ich oft in diesem Dorf hatte, und war einer der Gründe, weshalb ich immer wieder hierherkam, wenn mein Beruf als Kaffeeeinkäuferin mich nach Nicaragua führte - das Gefühl, dass selbst die einfachsten natürlichen Vorgänge bestimmten Regeln gehorchten, als herrschte eine namenlose Ordnung über das Belebte wie auch das Unbelebte. So empfand ich selten zu Hause in San Francisco. Kein Wunder, dass die Einheimischen von Diriomo als dem pueblo brujo sprachen - dem verhexten Dorf.

Maria hatte gerade den Teller vor mir auf dem Tisch abgestellt, als die Glocke draußen ertönte. In all den Jahren, seit ich zwischen den Porzellanpuppen und fleischfressenden Pflanzen in Marias Café meine mitternächtlichen Mahlzeiten einnahm, war ich kaum je einem anderen Gast begegnet.

Maria ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Einen kurzen Moment lang wurde mein Tisch von Mondlicht überflutet.

»Buenas noches, Maria«, sagte eine männliche Stimme.

»Buenas noches.«

Die Tür wurde wieder geschlossen und der Raum erneut in fast völlige Dunkelheit getaucht.

Der Mann ging an meinem Tisch vorüber. Sein Gesicht war abgewandt, aber im schwachen Licht aus der Küche bemerkte ich, dass er, wie sehr große Männer es häufig tun, die Schultern nach vorn fallen ließ, wie um sich dafür zu entschuldigen, so viel Raum einzunehmen. Er trug eine Baseballkappe, die er tief in die Stirn gezogen hatte. Unter einem Arm klemmte ein Buch. Er ging zu einem Tisch in der Ecke, dem von meinem am weitesten entfernten. Als er sich hinsetzte, mit dem Rücken zu mir, ächzte der Holzstuhl so heftig, dass ich befürchtete, er könnte zerbrechen.

Maria holte ein Streichholz aus ihrer Schürzentasche, riss es an der Wand an und hielt die Flamme in ein dunkelrotes Glas auf dem Tisch des Mannes. Erst als sie sich wieder in die Küche zurückgezogen hatte, um seinen Kaffee zu holen, drehte er sich um und warf mir unter dem Schirm seiner Kappe hervor einen Blick zu. Im flackernden roten Kerzenlicht war nur sein leicht vorspringendes Kinn zu erkennen, der Rest seines Gesichts duckte sich in die Schatten.

»Hallo«, sagte ich.

»Guten Abend.«

»Sie sind Amerikaner«, sagte ich überrascht. Ausländer waren selten in Diriomo. Einem amerikanischen Landsmann mitten in der Nacht ausgerechnet in diesem Café zu begegnen war ausgesprochen merkwürdig.

»Ja, das bin ich«, sagte er. Dann winkte er höflich mit der Hand, beugte sich über den Tisch und blickte in sein Buch. Er hielt die Kerze über die Seite, und ich überlegte, ob ich ihn darauf aufmerksam machen sollte, dass Lesen im Dunkeln schlecht für die Augen war. Er wirkte wie der Typ Mann, dem man solche Dinge erklären musste, der Typ Mann, um den sich jemand kümmern sollte. Bald brachte Maria ihm Kaffee. Etwas an der Art, wie er die Tasse hielt, wie er die Seiten seines Buches umblätterte, selbst wie er den Kopf in stillem Dank zu Maria hob, als sie ihm eine Serviette und eine Schüssel mit Zuckerstückchen brachte, kam mir bekannt vor. Ich betrachtete ihn eingehend, fragte mich, ob das Gefühl, ihn zu kennen, nur eine Illusion war, ausgelöst davon, dass ich schon zu lange allein unterwegs war. Doch je länger ich dort saß, desto überzeugter war ich, dass es sich nicht nur um die vage Vertrautheit unter Landsleuten handelte, sondern um etwas Persönlicheres.

Während er, scheinbar ohne mich wahrzunehmen, seinen Kaffee trank und in seinem Buch las, versuchte ich, mich an die Umstände zu erinnern, unter denen ich ihm schon einmal begegnet sein könnte. Ich spürte mehr, als dass ich es wusste, dass es vor langer Zeit gewesen war und dass zwischen uns ein gewisser Grad von Intimität bestanden hatte; diese Empfindung von Intimität, gemischt mit meiner mangelnden Erinnerung war in höchstem Maße verunsichernd. Kurz schoss mir durch den Kopf, ob ich mit ihm geschlafen haben könnte. Nach dem Tod meiner Schwester hatte ich eine Phase durchlebt, in der ich mit vielen Männern schlief. Das lag aber schon lange zurück, so lange, dass es mir fast wie ein anderes Leben vorkam.

Maria brachte mein Essen. Ich wartete, bis die dampfenden Kochbananenblätter etwas abgekühlt waren, bevor ich sie abschälte, das nacatamal in die Hände nahm und hineinbiss. Zu Hause hatte ich mehrfach versucht, Marias Mischung aus Schweinefleisch, Reis, Kartoffeln, Minzblättern, Rosinen und Gewürzen nachzukochen, aber es schmeckte irgendwie nie richtig gut. Doch wenn ich ihr das Rezept entlocken wollte, lachte sie nur und tat, als verstünde sie meine Bitte nicht.

»Die sollten Sie mal probieren«, sagte ich zwischen zwei Bissen zu dem Mann.

»Ich kenne Marias nacatamales«, antwortete er und warf wieder einen kurzen Blick in meine Richtung. »Köstlich, aber ich habe schon gegessen.«

Was konnte er hier um diese Uhrzeit machen, überlegte ich, wenn er keinen Hunger mehr hatte? In Diriomo saßen Männer nicht allein im Café und lasen Bücher, nicht einmal amerikanische Männer. Einige Minuten später, als ich mein Geld zum Zahlen herausholte, klappte er sein Buch zu und starrte einige Sekunden lang auf das Cover, als müsse er seinen Mut zusammennehmen, dann stand er auf und kam an meinen Tisch. Unverhohlen beobachtete uns Maria aus dem Küchendurchgang. Der rote Vorhang wurde zur Seite gezogen, der Raum von weichem Licht erfüllt. Mir schoss flüchtig durch den Kopf, dass Maria diese Begegnung vielleicht meinetwegen eingefädelt hatte, vielleicht wollte sie sich im Kuppeln versuchen.

Der Mann zog seine Baseballkappe vom Kopf und hielt sie in beiden Händen. Sein struppiges Haar streifte die niedrige Decke und lud sich statisch auf. »Verzeihung«, sagte er. Jetzt konnte ich sein Gesicht ganz erkennen - die großen dunklen Augen und den breiten Mund, die hohen Wangenknochen und das kräftige, von Stoppeln bedeckte Kinn - und wusste sofort, wer er war.

Ich hatte ihn seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Damals auf dem College hatte ich einige Monate lang ununterbrochen an ihn gedacht. Ich hatte die Zeitung nach seinem Namen abgesucht, war mit dem Auto an seiner Erdgeschosswohnung in Russian Hill vorbeigefahren, hatte in einem kleinen italienischen Restaurant in North Beach, in dem er verkehrte, zu Mittag gegessen, obwohl die Preise mein Studentenbudget deutlich überstiegen. Damals hielt ich es für möglich, dass, wenn ich ihn nur unaufhörlich beschattete, ich etwas begreifen könnte - vielleicht nicht, was er getan hatte, aber doch den Mechanismus, der ihn dazu befähigt hatte. Dieser Mechanismus, dessen war ich mir sicher, war eine psychologische Abnormität: eine Art moralische Stimmgabel, die normalerweise bei Menschen vorhanden war, bei ihm jedoch fehlte.

Dann, eines Nachmittags im August 1991, verschwand er. An jenem Tag betrat ich um halb eins das Restaurant in North Beach, wie ich es drei Monate lang jede Woche getan hatte. Sofort wanderte mein Blick zu einem Tisch...
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