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Der letzte Weg

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
448 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am10.01.2022
Bevölkerungsschwund, Bioterrorismus und Medikamentenknappheit gehören im England der nahen Zukunft zum Alltag. Die Regierung hat deshalb ein ebenso radikales wie fatales Gesetz erlassen: Personen über siebzig bekommen keine Antibiotika mehr. Werden sie krank, bleibt ihnen nur noch das Warten auf den Tod oder der Suizid. Kate ist Krankenschwester, doch statt ihre Patienten gesund zu pflegen, hilft sie ihnen nun beim Sterben. Nach einem dramatischen Ereignis beschließt Kate, sich auf die Suche nach ihrer Mutter zu machen, und stößt auf ein lange gehütetes Geheimnis ...

Eve Smith arbeitete für eine Umweltorganisation in Afrika, Asien und Nord- und Südamerika, ehe sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Ihr Debütroman 'Der letzte Weg' war für den Bridport Prize First Novel Award nominiert.
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Produkt

KlappentextBevölkerungsschwund, Bioterrorismus und Medikamentenknappheit gehören im England der nahen Zukunft zum Alltag. Die Regierung hat deshalb ein ebenso radikales wie fatales Gesetz erlassen: Personen über siebzig bekommen keine Antibiotika mehr. Werden sie krank, bleibt ihnen nur noch das Warten auf den Tod oder der Suizid. Kate ist Krankenschwester, doch statt ihre Patienten gesund zu pflegen, hilft sie ihnen nun beim Sterben. Nach einem dramatischen Ereignis beschließt Kate, sich auf die Suche nach ihrer Mutter zu machen, und stößt auf ein lange gehütetes Geheimnis ...

Eve Smith arbeitete für eine Umweltorganisation in Afrika, Asien und Nord- und Südamerika, ehe sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Ihr Debütroman 'Der letzte Weg' war für den Bridport Prize First Novel Award nominiert.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641280178
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum10.01.2022
Seiten448 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1567 Kbytes
Artikel-Nr.5691462
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

2
LILY

48.

Mir dreht sich der Magen um. Es ist ein Pawlow´scher Reflex, der jedes Mal einsetzt, wenn ich auf meinen Kalender blicke. Diese weißen Quadrate erinnern an ein Sudoku. Bei jedem Tag steht ganz unten eine Zahl, geschrieben mit demselben schwarzen Filzstift mit Gummi am Griff, damit er sich besser halten lässt - ein Stift, wie ihn auch Kinder beim Schreibenlernen benutzen.

Achtundvierzig Tage bis zu meinem Geburtstag. Die große Siebzig.

Da ist keine kindische Vorfreude in mir. Genau das Gegenteil. Obergrenze. Das ist der Ausdruck, den sie gern benutzen. Er geht viel leichter über die Lippen als »nicht mehr zu einer Behandlung berechtigt«. Elaine hat Achtzigjährige früher immer mit einer fast ausgestorbenen Tierart verglichen. Die arme Elaine. Sie hat es nicht bis zu ihrem Achtzigsten geschafft. Es begann mit einer gewöhnlichen Erkältung, und im nächsten Augenblick hatte sie eine Lungenentzündung. Ich schätze, es gibt schlimmere Arten zu sterben. Aber ich vermisse sie. Hier drinnen kam sie einer Freundin noch am nächsten. Sie war die Einzige, die mit mir auf einer Wellenlänge war.

»Stimmt haargenau, Lily«, sagte sie mal an einem Nachmittag zu mir, während sie meine Reihe an kleinen weißen Quadraten betrachtete. »Unsere Tage sind definitiv gezählt.«

Nachdem ich den Filzstift zurück in den Clip geklemmt habe, schlüpfe ich mit den Handgelenken in die Halterungen und rolle die Gehhilfe vor mich. Erst schiebe ich den rechten Fuß vor, dann den linken, und bleibe stehen. Ich wiederhole diese Abfolge, immer und immer wieder, während ich mich langsam über den Teppich bewege. Es ist mühevoll, selbst in diesem jämmerlichen Tempo, und ich spüre die Feuchtigkeit, die sich unter meinen Achseln sammelt. Elf schlurfende Schritte, und ich habe die Tür erreicht. Ich hebe mein Handgelenk, und der Sensor leuchtet. Das Schloss öffnet sich mit einem dumpfen Klicken. Freiheit.

Ich wende mich nach links, finde meinen eigenen langsamen Rhythmus: schieben, schlurfen, schieben, schlurfen. Bevor sich meine Knorpel aufgelöst haben, bin ich immer im Laufschritt unterwegs gewesen. Ich bin nie normal gegangen, ich bin stramm marschiert. Es war eine Umstellung. Anfangs habe ich es ignoriert und einfach so weitergemacht, trotz der Schmerzen. Ein paarmal bin ich gestürzt. Doch jetzt habe ich meine Beschränkungen akzeptiert. Ein weiterer Knochenbruch, und sie werden mich nicht mehr operieren: Ich bin der Obergrenze zu nah. Und ich habe gesehen, was passieren kann, selbst bei kleineren Frakturen. Knochenentzündungen sind schlimm. Sie verheilen nie. Nicht ohne Behandlung.

Ein Wandspender stößt eine Wolke künstliches Jasminaroma aus. Es kann den beißenden Gestank der Desinfektionsmittel nicht übertünchen. Mein Blick fällt auf die Namensschilder, während ich an ihnen vorbeischleiche: Dr. Elizabeth Miles (Edin). Dr. Bill Jackson (Camb). Ich habe nicht den blassesten Schimmer, warum sie sich überhaupt die Mühe machen, die Titel zu nennen. Muss ein Marketingtrick sein. Professor Harriet Weatherly (Oxf). Ich kannte sie: Biomedizin, glaube ich. Eine echte Pionierin der Onkologie. Jetzt hat sie Alzheimer. Seht her, was mit einst großartigen Köpfen passiert! Entweder haben sie nicht mehr alle Tassen im Schrank oder sie sind in ihren gebrechlichen Körpern gefangen, so wie ich. Nichts von unserem Wissen kann uns jetzt noch retten.

Ich höre, wie jemand schnell hinter mir herläuft.

»Ein kleiner Spaziergang, Lily?«

Es ist nur Anne, wie immer in Eile. Anne ist eine Gute. Ich hätte es viel schlimmer treffen können. Altenpflegerinnen sind wohl ein bisschen wie Erzieherinnen im Kindergarten. Nur dass man es vielleicht nicht überlebt, wenn man an eine schlechte gerät.

»Genau«, sage ich. »Mir war nach etwas frischer Luft.«

Sie neigt den Kopf zur Seite wie ein Vogel. »Aber was ist mit dem großen Quiz? Fängt das nicht gleich an?« Ihre Augenbraue wölbt sich. »Ich dachte, für ein bisschen Gehirnjogging sind Sie immer zu haben?«

Ich zögere gerade lang genug. »Das stimmt.«

Sie schüttelt den Kopf, aber ich sehe das Zucken eines Lächelns, als sie sich umdreht. Meine Rebellion ist wie immer sehr subtil: Mir bleibt keine andere Wahl. Aber Anne kann damit umgehen. Und manchmal ist es eine Erleichterung, ich zu sein.

Das Auge einer Kamera schwenkt in meine Richtung und wieder zurück. Ich habe Auden erreicht. Hier ist alles grün, wie in der Smaragdstadt im Zauberer von Oz. Die Farben sollen uns helfen, für den Fall, dass wir uns verirren. Betjeman ist toskanaorange, Donne zartrosa und meine Station, Carroll, ist senfgelb. Das Sanatorium ist weiß, zumindest wurde mir das erzählt. Es ist der Ort, an dem wir alle letztlich enden.

Ich schiebe mich weiter, kämpfe gegen ein heißes, schmerzendes Stechen in meinen Fingern an. Der Garten ist weiter weg, aber den in Auden mag ich am liebsten. Die Parkanlage dort ist nach Süden ausgerichtet, und es gibt eine Bank, versteckt in einer Laube neben einem Rosenstrauch der Sorte Boscobel, der einen köstlichen Duft verströmt. Ich starre die grellgrünen Wände an und denke an diese kleinen pastellfarbenen Streifen, mit denen früher der Urin getestet wurde. Als ob man uns daran erinnern müsste. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als Herzinfarkt und Krebs die Spitzenreiter waren - jetzt gibt es für Frauen in meinem Alter eine neue Nummer eins: Harnwegsinfekte. Die Infektion geht ins Blut über und setzt deine Organe außer Gefecht. Ich habe mir angewöhnt, Cranberrysaft zu trinken. Es überrascht mich immer wieder, dass mein Urin nicht rosa ist, so viel, wie ich davon herunterschütte.

Ich beuge mich über meine Gehhilfe und hebe mein Handgelenk. Das Schloss entriegelt sich, und die Tür schwingt auf. Sie wollen uns einreden, die ganzen Sicherheitsvorkehrungen seien dazu da, uns vor schlechten Menschen zu schützen. Aber uns kann man nichts vormachen.

Ich arbeite mich mit meiner Gehhilfe eine Rille nach der anderen vor, bis ich die Rampe zum Garten überwunden habe. Eine warme Brise weht mir die weißen Haarsträhnen wie die Schirmchen einer Pusteblume um den Kopf. Ganz langsam schiebe ich mich den Pfad entlang und bleibe stehen, um eine weiße Gardenie zu bewundern. Hellviolette und indigoblaue Astern wachsen neben Wiesenmargeriten, Stockrosen überragen von Bienen umschwärmte Lupinen. Die Natur lebt unverändert fort, trotz allem. Ein tröstlicher Gedanke.

Ich halte an einem Lavendelbusch an, lasse meine knotigen Finger um einen Stängel gleiten und reiße ein paar Knospen ab. Eigentlich dürfen wir die Pflanzen nicht anfassen, aber Blumen jagen mir keine Angst ein. Es handelt sich um genetisch veränderte Züchtungen ohne Stacheln oder Dornen. Ich hebe den Lavendel an meine Nase, und eine Kindheitserinnerung blitzt auf: die zerfurchten Hände meiner Großmutter, Mehl und Küchenschürzen. Ein sicherer Hafen.

Ich stecke den Lavendel in meine Tasche und bereite mich auf den Endspurt vor.

Als ich meine Gehhilfe zurechtrücke, höre ich das Knirschen von Rädern auf Kies. Ich erstarre. Jenseits des Zauns, auf der Rückseite des Gebäudes befindet sich, was meine Großmutter als Lieferanteneingang bezeichnet hätte. Heutzutage wird hier aber nichts mehr geliefert, sondern eine ganz besondere Art von Ware abgeholt.

Eine Tür knallt zu, dann noch eine. Ich höre jemanden reden. Die gedämpften, undeutlichen Stimmen klingen männlich. Eine weitere Tür öffnet sich und etwas gleitet heraus. Mein Magen verkrampft sich. Ich überfliege mithilfe meiner Mnemotechniken gedanklich die Gesichter der gestern Anwesenden. Es kann niemand aus Carroll sein. Sie waren alle da. Oder? Meine Hüften protestieren, doch ich schiebe mich weiter, an der Gartenlaube vorbei, und ramme meine Gehhilfe in den Rasen.

Schritte marschieren die Einfahrt hinauf und bleiben stehen. Ich versuche, mich zu beeilen, aber meine Füße verfangen sich ständig im Gras. Einen kurzen Moment ruhe ich mich aus, während mir deutlich das Hämmern meines Herzens unter dem Patch bewusst wird. Im Grunde ist es das Einzige, wozu wir noch nützlich sind: Daten zu generieren. Es müssen Terabytes an Informationen über uns durch den Äther schwirren. Sobald deine Werte auf Talfahrt gehen, wird schweres Geschütz aufgefahren. Aber Daten sind eben nur Daten.

Da erreiche ich endlich den Zaun. Ich schlüpfe mit den Armen aus den Halterungen und presse das Gesicht gegen das künstliche Weidengeflecht, das die Gitterstäbe verdeckt. Ich komme gerade noch rechtzeitig.

Zwei in Overalls gekleidete Männer mit Masken und Schutzbrillen tauchen mit einer Krankenbahre aus dem Sanatorium auf. Ein regloser Körper liegt angeschnallt unter der vorschriftsmäßigen grauen Decke. Sie eilen zum Krankenwagen. Ich sage Krankenwagen, aber es ist eher ein Taxi: Ein Großteil der Apparaturen ist entfernt worden. Während sie näher kommen, dreht sich ein mir unbekanntes blasses Gesicht schlaff in meine Richtung und starrt mich mit glasigen Augen an. Mein Herz flattert wie ein gefangener Vogel in meiner Brust.

Die Männer schieben die Krankentrage in den hinteren Teil des Wagens, sichern sie und knallen die Türen zu. Als sie das Fahrzeug umrunden, beginnt einer von ihnen zu pfeifen. Ich umklammere meine Gehhilfe so fest, dass die Knöchel meiner Hand kreideweiß unter der Haut hervortreten.

Dr. Barrows erscheint in ihrem üblichen weißen Anzug und den schwarzen Stiefeln. Sie nimmt die Maske ab, und mich durchströmt ein absurder Hoffnungsschimmer.

»Stufe zwei: schwere Sepsis«, herrscht sie die beiden...
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Autor

Eve Smith arbeitete für eine Umweltorganisation in Afrika, Asien und Nord- und Südamerika, ehe sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Ihr Debütroman "Der letzte Weg" war für den Bridport Prize First Novel Award nominiert.