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Heaven

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
192 Seiten
Deutsch
DuMont Buchverlag GmbHerschienen am17.09.20211. Auflage
Der vierzehnjährige namenlose Ich-Erzähler lebt ein einsames Leben bei seiner Stiefmutter - sein Vater fällt vor allem durch Abwesenheit auf. Von seinen Mitschülern wird er unerbittlich gequält, weil er eine Fehlstellung der Augen hat. Anstatt sich zu wehren, resigniert er und leidet stumm. Eines Tages findet er eine Nachricht in seinem Federmäppchen: »Wir gehören zur selben Sorte.« Es folgen weitere Botschaften; plötzlich ist da jemand, der ihn nach seiner Lieblingsfarbe fragt, nach seiner Leibspeise, der das Wetter kommentiert. Bald stellt sich heraus, dass die Nachrichten von seiner Klassenkameradin Kojima kommen, die selbst gemobbt wird. Die beiden Jugendlichen finden Trost in der Gesellschaft des anderen, doch ihre Freundschaft bleibt von ihren Peinigern nicht unbemerkt. Vielschichtig, fesselnd, philosophisch - mit ihrem Roman >HeavenBrüste und EierMy Ego, My Teeth, and the WorldHeaven< schaffte sie es auf die Shortlist des International Booker Prize. Ihre Bücher wurdenmehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextDer vierzehnjährige namenlose Ich-Erzähler lebt ein einsames Leben bei seiner Stiefmutter - sein Vater fällt vor allem durch Abwesenheit auf. Von seinen Mitschülern wird er unerbittlich gequält, weil er eine Fehlstellung der Augen hat. Anstatt sich zu wehren, resigniert er und leidet stumm. Eines Tages findet er eine Nachricht in seinem Federmäppchen: »Wir gehören zur selben Sorte.« Es folgen weitere Botschaften; plötzlich ist da jemand, der ihn nach seiner Lieblingsfarbe fragt, nach seiner Leibspeise, der das Wetter kommentiert. Bald stellt sich heraus, dass die Nachrichten von seiner Klassenkameradin Kojima kommen, die selbst gemobbt wird. Die beiden Jugendlichen finden Trost in der Gesellschaft des anderen, doch ihre Freundschaft bleibt von ihren Peinigern nicht unbemerkt. Vielschichtig, fesselnd, philosophisch - mit ihrem Roman >HeavenBrüste und EierMy Ego, My Teeth, and the WorldHeaven< schaffte sie es auf die Shortlist des International Booker Prize. Ihre Bücher wurden
Details
Weitere ISBN/GTIN9783832171025
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum17.09.2021
Auflage1. Auflage
Seiten192 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.5726476
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


1 Habt ihr Fenster?

Wenn man wissen will, wie arm jemand war, fragt man ihn am besten, wie viele Fenster die Wohnung hatte, in der er aufgewachsen ist. Was er aß oder wie er sich kleidete, spielt keine Rolle. Um herauszufinden, wie arm jemand war, muss man ihn nach der Zahl seiner Fenster fragen. Genau, der Zahl seiner Fenster. Je weniger Fenster jemand hatte - falls er überhaupt eines hatte -, desto größer die Armut.

»So ein Quatsch«, widersprach mir mal eine Bekannte. »Stell dir vor«, argumentierte sie, »dieses eine Fenster ist riesengroß und geht zum Garten. Eine Wohnung mit so einem großen, schönen Fenster hat doch nichts mit Armut zu tun.«

Das kann nur jemand sagen, der nie arm war. Ein großes Fenster. Ein schönes Fenster? Und was soll das heißen: Garten?

Menschen, die in Armut leben, denken nicht in Kategorien von großen oder schönen Fenstern. Für sie ist ein Fenster das schwarze Glasbrett hinter Schränken und Regalen, das sie noch nie offen gesehen haben. Oder das schmutzige Viereck neben dem fettverkrusteten Küchenventilator, den sie noch nie haben rotieren sehen.

Mit anderen Worten: Über Armut sprechen wollen oder können nur Arme. Menschen, die arm sind, oder Menschen, die arm waren. Ich bin sowohl als auch. Ich war und bin arm.

Dass mir derlei Gedanken und Erinnerungen durch den Kopf gingen, lag vielleicht an dem Mädchen, das mir gegenübersaß. Die Yamate-Linie war in den Sommerferien leerer als gedacht; die Fahrgäste saßen da, spielten an ihren Handys oder lasen Bücher. Das Mädchen, das acht oder auch zehn Jahre alt sein mochte, saß zwischen einem Pärchen - einem jungen Mann mit einer Sporttasche neben sich auf dem Boden und einer jungen Frau, die auf dem Kopf einen Haarreif mit einer großen, schwarzen Schleife trug -, schien aber nicht dazuzugehören.

Es war braun und mager. Das Braun ließ seine Schuppenflechte umso deutlicher hervortreten. Die Beine, die unter dem kurzen Hosenrock hervorschauten, waren praktisch genauso dünn wie die Arme, die aus dem hellblauen Tanktop ragten. Als ich es mit zusammengepressten Lippen und hochgezogenen Schultern so dasitzen sah, musste ich unwillkürlich an meine eigene Kindheit denken, und da kam mir das Wort Armut in den Sinn.

Ich starrte auf das u-förmig ausgeschnittene, hellblaue Top und die Sneakers, deren ursprüngliches Weiß unter den vielen Flecken kaum noch zu erkennen war. Was, wenn das Mädchen aus irgendwelchen Gründen den Mund aufmachte und nichts als faule Zähne zum Vorschein kämen? Gepäck hatte es anscheinend auch nicht dabei. Keinen Rucksack, keine Tasche, keine Handtasche. Hatte es Fahrkarte und Geld in der Hosentasche? Nicht dass ich wüsste, in welchem Aufzug Mädchen in dem Alter heute in die Bahn steigen, aber dass es rein gar nichts bei sich trug, gab mir irgendwie zu denken.

Je länger ich die Kleine ansah, desto stärker wurde mein Bedürfnis, aufzustehen, einen Schritt auf sie zuzugehen und sie anzusprechen. Das Bedürfnis, ein Wort mit ihr zu wechseln, ein Wort wie ein Zeichen, das man in sein Notizbuch kritzelt, das niemand versteht, außer man selbst. Aber was sollte ich sagen? Mit strohigem Haar, und danach sah ihres aus, kannte ich mich aus. Das flattert nicht, stimmt s, nicht mal bei Wind. Oder: Keine Sorge. Wenn du erwachsen bist, verschwindet die Schuppenflechte von selbst. Oder sollte ich doch die Fensterfrage stellen? Wir hatten keine Fenster, durch die man nach draußen sehen konnte. Habt ihr welche?

Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Genau zwölf. Unbeeindruckt von der mittsommerlichen Hitze fuhr die Bahn dahin. »Nächste Station Kanda«, tönte es gedämpft aus dem Lautsprecher. Der Zug fuhr ein, und als sich die Türen mit einem Seufzer öffneten, torkelte ein zu dieser Stunde schon sturzbetrunkener älterer Mann herein. Reflexartig machten einige Fahrgäste Platz, woraufhin der Mann ein leises Knurren von sich gab. Das graue Haar hing ihm wie entwirrte Stahlwolle bis auf die Brust seiner zerschlissenen Arbeiterkluft. In der einen Hand hielt er eine zerknautschte Plastiktüte, mit der anderen griff er vergeblich nach einer der Halteschlaufen, verlor dabei das Gleichgewicht und geriet ins Taumeln. Die Türen schlossen sich, und die Bahn setzte sich wieder in Bewegung. Als ich nach vorne sah, war das Mädchen verschwunden.

Tokyo Station. An der Sperre hielt ich angesichts der unglaublichen Menschenmengen, die wer weiß woher kamen und nach wer weiß wohin gingen, unwillkürlich inne. Das war keine bloße Menschenmasse, das war ein Wettkampf. Das Gefühl, die Einzige zu sein, die die Regeln nicht kennt, ließ mich zögern. Ich fasste meine Schultertasche fester und holte Luft.

In diesem Bahnhof hatte ich zum ersten Mal vor zehn Jahren gestanden. Es war der Sommer, in dem ich zwanzig geworden war, und wie heute war es so heiß gewesen, dass man mit dem Schweißabwischen gar nicht hinterher kam. Den robusten, riesigen Rucksack, den ich mir nach langem Überlegen noch zu Schulzeiten in einem Secondhandladen gekauft hatte (immer noch mein bestes Stück), bepackt mit knapp zehn Büchern von Autoren, die ich keine Sekunde missen wollte, hätte ich besser mit Umzugsgepäck gefüllt und verschickt, anstatt ihn wie einen Glücksbringer auf dem Rücken zu tragen. Zehn Jahre! Die Frage, ob sich mein zwanzigjähriges Ich mein jetzt dreißigjähriges in etwa so ausgemalt hatte, müsste ich wohl verneinen. Meine Texte wurden immer noch nicht gelesen (der praktisch unauffindbare Blog, auf dem ich manchmal etwas postete, wurde pro Tag von höchstens einer Handvoll Leute besucht), geschweige denn gedruckt. Ich hatte keine Freunde. Und an meinem Leben, das ich mit den 120 000, 130 000 Yen bestritt, die ich als Aushilfe verdiente, obwohl ich Vollzeit arbeitete, der Wohnung unter einem windschiefen Dach, zwischen Wänden, an denen die Farbe abblätterte, und einem Fenster, durch das am Nachmittag die Sonne knallte, sowie dem unablässigen Schreiben, ohne zu wissen, wohin es führen soll, hatte sich auch nichts geändert. Das Einzige, was sich in meinem Leben, das einem Regal in einem alten Buchladen glich, in dem immer noch die Titel standen, die zu den Zeiten meiner Eltern aktuell gewesen waren, verändert hatte, war mein Körper, der zehn Jahre älter geworden war. Mehr nicht.

Ich sah auf die Uhr. Zwölf Uhr fünfzehn. Da ich nun doch eine Viertelstunde zu früh war, lehnte ich mich an einen der kühlen Betonpfeiler und beobachtete das Gewusel. Von links nach rechts rauschte eine schwer bepackte Großfamilie durch die Stimmen und Geräusche. Eine andere Familie tauchte auf. Einem kleinen Jungen, den seine Mutter fest an der Hand hielt, baumelte eine zu große Trinkflasche um den Hintern. Irgendwo schrie ein Baby. Breit lachend eilte ein Pärchen vorbei, sowohl er als auch sie geschminkt.

Ich zog mein Handy aus der Tasche und vergewisserte mich, dass keine neue Mail oder SMS von Makiko eingegangen war. Dann wären die zwei pünktlich in Osaka in den Zug gestiegen und kämen in fünf Minuten an. Wir hatten abgemacht, uns am Nordausgang der Marunouchi-Linie zu treffen. Obwohl ich Makiko einen Plan geschickt und alles genau erklärt hatte, wurde ich nervös. Ich sah noch einmal nach dem Datum. Zwanzigster August. Richtig. Für diesen Tag hatten wir uns um zwölf Uhr dreißig am Nordausgang der Marunouchi-Linie verabredet.

Warum man das Wort ranshi - »Eizelle« - hinten mit dem Zeichen für »Kind« schreibt? Ganz einfach. Weil man seishi - »Samenzelle« - hinten auch so schreibt. Das ist meine Entdeckung des Tages. Ich war ein paar Mal in der Schulbücherei, aber wenn man ein Buch ausleihen will - so furchtbar viele haben die gar nicht -, muss man jede Menge Formulare ausfüllen, es ist eng und dunkel, und manche Leute sind so neugierig, dass man das Buch immer schnell verstecken muss, wenn einer kommt. Deshalb gehe ich in letzter Zeit in eine richtige Bibliothek. Da gibt es auch Computer, die man benutzen kann. Die Schule nervt sowieso. Schule ist doof. Alles Mögliche ist doof. So etwas zu schreiben, ist natürlich auch doof, Schule geht vorbei, deshalb ist es egal, aber Familie geht nicht vorbei, deshalb kann ich an nichts anderes denken. Schreiben kann man überall; man braucht nur Stift und Papier; es kostet nichts, und man kann schreiben, was man will. Sehr praktisch. Das Wort »leidig« kann man mit dem Zeichen für »unliebsam« oder dem Zeichen für »eklig« schreiben, und weil das Zeichen für »eklig« wirklich eklig aussieht, werde ich das gleich üben. Eklig, eklig.

Midoriko

Makiko war meine Schwester. Sie war neununddreißig, neun Jahre älter als ich, und hatte eine fast zwölfjährige Tochter namens Midoriko, die sie, nachdem sie sie mit siebenundzwanzig zur Welt gebracht hatte, allein erzog.

Mit achtzehn war ich für ein paar Jahre zu Makiko und ihrer neugeborenen Tochter gezogen. Da Makiko sich schon vor Midorikos Geburt von ihrem Mann getrennt hatte und ich in ihrer Wohnung ein- und ausging, um ihr zur Hand zu gehen, hatte sich das angeboten, auch aus finanziellen Gründen. Soweit ich weiß, hat Midoriko ihren Vater nie kennengelernt. Sie ist groß geworden, ohne auch nur das Geringste von ihm zu wissen.

Warum Makiko sich von ihrem Mann getrennt hat, weiß ich immer noch nicht. Ich erinnere mich, dass wir damals häufiger über die Scheidung und ihren Exmann sprachen, ich erinnere mich sogar, dass ich dachte, ogottogott, aber worauf sich dieses Ogottogott...
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