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Das Schönste, was ich sah

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
416 Seiten
Deutsch
dtv Verlagsgesellschafterschienen am17.11.20211. Auflage
Giovanni Segantinis große Liebe Als Giovanni Segantini sich 1875 siebzehnjährig an der Akademie Brera einschreibt, hat er eine albtraumhafte Kindheit und Jugend hinter sich. Früh verwaist, lebt er erst bei der ungeliebten Halbschwester; später landet er in einer Besserungsanstalt, wo ein Geistlicher sein zeichnerisches Talent entdeckt. Auf der Akademie freundet er sich mit Carlo Bugatti an, einem reichen Mailänder Bürgersohn. Carlos schöne, verwöhnte Schwester Luigia verliebt sich in den scheuen Giovanni, der in der Akademie einen Preis nach dem anderen bekommt. Der Maler und Luigia werden ein Paar und haben zusammen vier Kinder. Es ist ein turbulentes Leben, aber Luigias Hingabe und Verständnis für Giovannis unkonventionelle Lebensweise und seine unerschütterliche Liebe zu ihr wappnen sie gegen alle Widrigkeiten.

Asta Scheib, geboren in Bergneustadt im Rheinland, arbeitete als Redakteurin bei verschiedenen Zeitschriften. Sie gehört heute zu den bekanntesten deutschen Schriftstellerinnen und lebt mit ihrer Familie in München.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR11,95
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextGiovanni Segantinis große Liebe Als Giovanni Segantini sich 1875 siebzehnjährig an der Akademie Brera einschreibt, hat er eine albtraumhafte Kindheit und Jugend hinter sich. Früh verwaist, lebt er erst bei der ungeliebten Halbschwester; später landet er in einer Besserungsanstalt, wo ein Geistlicher sein zeichnerisches Talent entdeckt. Auf der Akademie freundet er sich mit Carlo Bugatti an, einem reichen Mailänder Bürgersohn. Carlos schöne, verwöhnte Schwester Luigia verliebt sich in den scheuen Giovanni, der in der Akademie einen Preis nach dem anderen bekommt. Der Maler und Luigia werden ein Paar und haben zusammen vier Kinder. Es ist ein turbulentes Leben, aber Luigias Hingabe und Verständnis für Giovannis unkonventionelle Lebensweise und seine unerschütterliche Liebe zu ihr wappnen sie gegen alle Widrigkeiten.

Asta Scheib, geboren in Bergneustadt im Rheinland, arbeitete als Redakteurin bei verschiedenen Zeitschriften. Sie gehört heute zu den bekanntesten deutschen Schriftstellerinnen und lebt mit ihrer Familie in München.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783423440950
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum17.11.2021
Auflage1. Auflage
Reihedtv
Reihen-Nr.21272
Seiten416 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1052 Kbytes
Artikel-Nr.7865464
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

2

Bis auf wenige Möbel hatte man ihnen alles weggepfändet. In der Wohnung waren noch drei Betten, ein Tisch mit Stühlen, angeschlagenes Geschirr und billiges, verbogenes Besteck. Wenigstens brauchten sie ihr Haus nicht abzuschließen wie Umberto, der als reicher Geizkragen verschrien war und Türen und Fenster verrammelte, selbst wenn er nur in die Trattoria ging. Bei Giovannis Eltern gab es nichts zu stehlen. Gar nichts. In einer alten Tasche verwahrte die Mutter das Bild seines Bruders. Er hatte Vittore geheißen. Oder Ludovico? Die Mutter, von Weinen geschüttelt, drückte das Foto an sich, rief mal diesen, mal jenen Namen. Immer wieder sah sie vor sich, wie Vittore oder eben Ludovico verbrannte. »In diesem Zimmer ist er verbrannt!«, schrie sie verzweifelt, anklagend. Aber wieso? Woher kam das Feuer? Giovanni wollte den Arm um die Mutter legen, sie trösten, sich selbst trösten. Doch sie stieß ihn weg, sie war offensichtlich böse auf ihn. Was hatte er denn getan? Nie bekam er eine Antwort. Auch nicht vom Vater. Tauchte der überhaupt einmal wieder in Arco bei seiner Familie auf, knurrte er nur gereizt, wenn Giovanni fragte. Einmal deutete er mit der Flasche auf seine Frau. »Schön war sie, meine Margherita, als ich sie geheiratet habe. Nicht mal dreiundzwanzig.« Dann sah er Giovanni aus seinen geröteten Augen an. »Alle haben ihr hinterhergesehen. Diese Haarpracht - phantastisch. Aber seit sie dich geboren hat, ist es aus mit ihr. Aus.« Der Vater trank den Rest Wein aus der Flasche und stimmte eines seiner Lieder vom Wein und von der Liebe an. Seine Stimme klang rostig und brach vor Weinerlichkeit immer wieder ab. Giovanni konnte es nicht ertragen, wenn sein Vater sang. Da hörte er ja noch lieber dem Hund des Bäckers zu, der beim Mittagsläuten jaulte, als wäre er gerade von einer Wespe ins Maul gestochen worden.

Giovanni wusste auch nicht, was es bei ihnen zu besingen gab. Immer häufiger kam die Mutter ins Hospital, und Giovanni hatte manchmal das Gefühl, dass ihn etwas niederdrückte und lähmte. Hatte er Schuld daran, dass seine Mutter so elend war? Dass sie nicht sein konnte wie andere Mütter, gesund, laut und mit dem Geruch nach Küche in den Haaren? Oft sehnte er sich danach, so zu sein wie die anderen Jungen seines Alters. Sie bekamen morgens, mittags und abends zu essen. Ihre Kleidung war gewaschen, die Strümpfe gestopft, die Schuhe blank geputzt.

Wenn Giovanni durch die Gassen streifte, blickte er in Wohnungen - soweit sie im Parterre lagen - und sah Teppiche, Tische, Stühle mit Kissen, Lampen, Bilder der Vorfahren und jede Menge Topfpflanzen. In Giovannis Augen waren die Zimmer zum Ersticken überfüllt. Was taten die Leute mit all den Sachen? Die konnten sich ja kaum bewegen. Vielleicht waren diese Zimmer eine Art Ausstellung? Damit jeder sah, was man alles hatte. In der Kirche waren die Wände und die Decke auch überfüllt mit Teppichen, Statuen und Bildern. Das wusste Giovanni aus der Zeit, als er mit seiner Mutter oft die Kirche besucht hatte. Das war jetzt vorbei.

Stattdessen kam die Mutter immer wieder ins Hospital. Dann war ihr Bett mit den verschwitzten, schmuddeligen Laken leer. In der Wohnung stank es nach Tod. Giovanni sah ihn bei der Tür hocken, den Tod. Er war schwarz, unheimlich, still, und er wartete auf die Mutter. Wenn man sie aus dem Hospital zurückbrachte, bezog eine Schwester ihr Bett, und ein kräftiger Mann trug die Mutter auf ihr Lager. Sie war müde, fiel in einen Halbschlaf und sprach leise von ihrem Blumengarten am Schloss der Eltern. »Castel di Fiemme«, murmelte sie, und Giovanni wusste, dass sie von früheren, besseren Zeiten sprach. Dann aber redete sie von ihrer Wäsche, den Gläsern, dem schönen Geschirr, alles gepfändet, sie, eine de Girardi, musste den Offenbarungseid leisten. Sie weinte, sie rief nach Vittore oder Ludovico, sie sah Giovanni nicht an, der sich bemühte, ihr auf dem Löffel die Arznei einzugeben, wie es die Schwester ihm aufgetragen hatte.

Giovanni spürte nicht, dass seine Mutter schon längst in einer anderen Welt lebte, in der verlorenen Welt ihrer Kindheit. Er wusste nur, dass er nicht vorhanden war für sie. Dass nur sein Bruder, der Erstgeborene, ihr Herz und ihre Seele beschäftigte. Das verletzte ihn. Er hätte weinen können bei dem Gedanken. Aber das würde er nicht tun. Er schluckte es runter, das Weinen.

Schon als er auf die Welt gekommen war, sei er in einem schlechten Zustand gewesen, hatte ihm sein Vater einmal berichtet. Er habe nicht atmen und nicht schreien wollen. Ganz blau sei er gewesen. Morgens um acht Uhr sei er auf die Welt gekommen, und die Hebamme habe ihm sogleich die Nottaufe gegeben. Einen Tag später habe er vom Kaplan noch die ergänzenden kirchlichen Weiheakte empfangen. Sein Bruder Vittore Ludovico dagegen, der sei ein kräftiger Junge gewesen. Er habe seinen Eltern nie Sorgen gemacht, und seine Mutter habe fröhlich mit ihm getanzt und gelacht.

Jedes Wort des Vaters grub sich in Giovannis Seele ein. Sie hatten ihn nie geliebt. Beide nicht. Sollte sie doch tot sein, die Mutter. Sein Vater konnte gleich mitsterben. Was hatte er für Eltern? Kein Junge, kein Kind in Arco lebte wie er. Sich selbst überlassen, lief er meist ohne Ziel durch die Gassen, stand mit schmerzend leerem Magen auf der Brücke, während die anderen Kinder zum Abendessen gerufen wurden. Besonders wenn die Sonne schien, schämte er sich seines zerrissenen Hemdes, der blankgescheuerten, muffigen Hose, die er nicht waschen konnte, weil es seine einzige war.

Manchmal betrachtete er sich im Schaufenster eines Ladens. Er war ziemlich groß für sein Alter und dürr. Das sagte auch die alte Mossa. Seine Haare standen wie Spieße von seinem Kopf ab. Er hatte eine ziemlich große Nase, und die Augen glühten aus seinem blassen Gesicht heraus. »Schwarzer Rabe Giovanni«, hatte ihm einmal ein Mädchen nachgerufen. Giovanni gefiel sich auch nicht. Rasch machte er, dass er weiterkam, ehe ein Ladenbesitzer herausstürmte und ihn verjagte.

Als er eines Tages herumstreifte, ohne zu wissen, was er mit sich anfangen sollte, und mit einem dünnen Weidenstiel Halbkreise auf den staubigen Weg malte, sah er einen frischgeschlüpften Vogel am Rand eines Gebüschs liegen. Das Vogeljunge hatte noch keine Federn. Mit seinem winzigen Bauch, seltsam rötlich, sah es erbärmlich aus, schutzlos. Der Schnabel war weit offen, so als riefe das Junge laut um Hilfe. Mit der Spitze seines Steckens bewegte Giovanni vorsichtig den kleinen toten Körper. Anfassen mochte er das Junge nicht. Er schaute nach oben, suchte sorgfältig das Geäst über ihm ab, doch er konnte das Nest nicht entdecken. Dass der Vogel aus einem Nest gefallen war, schien Giovanni klar. Wo waren die Eltern? Sie mussten das Junge doch vermissen. Gab es unter den Vögeln auch Eltern wie seine, die ein Ei ins Nest legten, es ausbrüteten und dann sich selbst überließen?

Giovanni fühlte mit einem Mal ein brüderliches Mitleid mit dem Vogeljungen, und er begann mittels eines Steins, der ihm spitz genug erschien, ein Grab für das Vogeljunge zu graben. Ganz tief sollte es werden. So tief, dass kein Fuchs oder keine Katze das Vogeljunge fressen konnte. Dann polsterte er die Vertiefung sorgsam mit Gräsern aus, rollte das Junge behutsam in ein großes Blatt und legte es in sein Grab. Erst als er über den kleinen Kadaver noch eine Schicht Gräser gelegt hatte, schaufelte er die Erde behutsam wieder zurück, drückte sie fest und legte noch einen flachen Stein darauf, dass auch wirklich nichts und niemand mehr das Vogeljunge herausreißen konnte. Es hatte bestimmt den Schnabel deshalb so weit aufgerissen, weil es hungrig war, aufs Füttern gewartet hatte. Dabei war es zu weit über den Rand des Nestes geraten.

Wie gut Giovanni das Vogeljunge verstand. Hunger war in seinem Leben immer beherrschend gewesen. Schon wenn er als ganz kleines Kind die Mutter um Essen gebeten hatte, war meistens nichts da gewesen. Weinte er vor Hunger, weinte die Mutter mit ihm. »Dein Vater hatte nie Glück mit seinen Geschäften«, erklärte sie apathisch, als er schon etwas älter war und einiges begriff.

Giovanni war ihr dankbar, dass sie nicht über den Vater schimpfte oder ihn verachtete, wie viele andere Leute im Ort. Und doch begann er, seinen Vater zu hassen, weil er ihn und die kranke Mutter ständig verließ. Sie war so hinfällig, dass sie weder das Haus noch ihr Kind versorgen konnte. Seine stets vom Ersticken bedrohte Mutter. Giovanni saß bei ihr und vergaß oftmals selbst seinen Atem, so intensiv atmete er mit ihr.

 

Nur einmal hatte er erlebt, dass seine Eltern sich gemeinsam um ihn gekümmert hatten. Sie saßen jeder auf einer Seite seines Lagers, beugten sich besorgt über ihn, Kopf an Kopf. Und in dieser Stellung verharrten sie, bis er eingeschlafen war. Er musste damals etwa vier Jahre alt gewesen sein, als er unbemerkt in den Kanal Fitta gefallen war, der vor dem Haus der Eltern vorbeiführte. Der schmale Holzsteg über dem Kanal führte zu einer Färberei, auf deren Gelände sich Giovanni gern aufhielt, obwohl es ihm verboten worden war. Doch zog es ihn immer wieder dorthin, weil da ständig neue Farben die Wasserlachen zu schillernden Gebilden färbten, an denen er sich nicht sattsehen konnte. Besonders wenn die Sonne schien, füllten sich die farbigen Schlieren mit geheimnisvollem Glanz. Eigentlich fürchtete sich Giovanni jedes Mal, wenn er den wackligen Steg überquerte. Er wusste zum einen, dass es ihm verboten war, und außerdem grauste es ihn vor dem in den Kanal eingedämmten Gebirgsstrom, der so viel Kraft hatte, dass er ständig hoch aufschäumte und seine Wassermassen herumwirbelte, als würde unter der Oberfläche ein Riese in das Wasser treten.

Man hatte Giovanni gesagt, das Wasser könne mit seiner Kraft Mühlen...
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