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Wie Nietzsche aus der Kälte kam

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
Beck C. H.erschienen am17.03.20221. Auflage
Nach 1945 liegt Nietzsches Ruf genauso in Trümmern wie der europäische Kontinent. Ausgerechnet Giorgio Colli und Mazzino Montinari, zwei italienische Antifaschisten, entschließen sich, den gefährlichen Denker zu rehabilitieren. Ihr Ziel: Nietzsches Nachlass neu zu entziffern, um alle postumen Verfälschungen rückgängig zu machen. Ihr Problem: Zehntausende kaum lesbarer Seiten, die sich in der DDR befinden, wo Nietzsche offiziell als Staatsfeind gilt. In seinem brillant geschriebenen Buch erzählt Philipp Felsch ein intellektuelles Abenteuer im Spannungsfeld des Kalten Krieges, das von Florenz über Weimar und Ost-Berlin bis ins Paris der Postmoderne führt. Wer die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegebene Nietzsche-Gesamtausgabe aufschlägt, betritt eine Wüste akribischer Gelehrsamkeit. In seinem aufregenden neuen Buch folgt Philipp Felsch den beiden Philologen auf ihrer epischen Suche nach dem echten Nietzsche, die zwischen die politischen und philosophischen Fronten des Kalten Krieges führt. Während Colli und Montinari im Osten ins Visier der Staatssicherheit geraten, schlägt ihnen im Westen der Widerstand der neuen Meisterdenker entgegen, die die Idee des authentischen Urtexts, ja der Wahrheit selbst in Frage stellen. Zu guter Letzt wird ihre Ausgabe sogar für den Fall der Mauer verantwortlich gemacht. Die Geschichte des Kampfs um Nietzsches Überlieferung, zugleich ein intellektuelles Porträt der Epoche, macht deutlich, welche Sprengkraft bis heute in seinem Denken liegt.

Philipp Felsch ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bei C.H.Beck ist sein Buch "Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte. 1960-1990" (2015) erschienen, das für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR26,00
E-BookPDF1 - PDF WatermarkE-Book
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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
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Produkt

KlappentextNach 1945 liegt Nietzsches Ruf genauso in Trümmern wie der europäische Kontinent. Ausgerechnet Giorgio Colli und Mazzino Montinari, zwei italienische Antifaschisten, entschließen sich, den gefährlichen Denker zu rehabilitieren. Ihr Ziel: Nietzsches Nachlass neu zu entziffern, um alle postumen Verfälschungen rückgängig zu machen. Ihr Problem: Zehntausende kaum lesbarer Seiten, die sich in der DDR befinden, wo Nietzsche offiziell als Staatsfeind gilt. In seinem brillant geschriebenen Buch erzählt Philipp Felsch ein intellektuelles Abenteuer im Spannungsfeld des Kalten Krieges, das von Florenz über Weimar und Ost-Berlin bis ins Paris der Postmoderne führt. Wer die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegebene Nietzsche-Gesamtausgabe aufschlägt, betritt eine Wüste akribischer Gelehrsamkeit. In seinem aufregenden neuen Buch folgt Philipp Felsch den beiden Philologen auf ihrer epischen Suche nach dem echten Nietzsche, die zwischen die politischen und philosophischen Fronten des Kalten Krieges führt. Während Colli und Montinari im Osten ins Visier der Staatssicherheit geraten, schlägt ihnen im Westen der Widerstand der neuen Meisterdenker entgegen, die die Idee des authentischen Urtexts, ja der Wahrheit selbst in Frage stellen. Zu guter Letzt wird ihre Ausgabe sogar für den Fall der Mauer verantwortlich gemacht. Die Geschichte des Kampfs um Nietzsches Überlieferung, zugleich ein intellektuelles Porträt der Epoche, macht deutlich, welche Sprengkraft bis heute in seinem Denken liegt.

Philipp Felsch ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bei C.H.Beck ist sein Buch "Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte. 1960-1990" (2015) erschienen, das für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783406777028
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum17.03.2022
Auflage1. Auflage
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Illustrationenmit 24 Abbildungen
Artikel-Nr.8890362
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Die Spielverderber
Einleitung



Die Konferenz von Royaumont - Querelle des anciens et des postmodernes


In Royaumont, einer im Norden von Paris gelegenen ehemaligen Zisterzienserabtei, fand im Juli 1964 ein deutsch-französisches Gipfeltreffen statt. Im Jahr zuvor hatten de Gaulle und Adenauer den Elysée-Vertrag unterzeichnet. Als fühlten sie sich dem Geist des Freundschaftsabkommens verpflichtet, trafen sich jetzt die führenden Nietzsche-Exegeten der beiden Länder, um über die richtige Lesart von Nietzsche zu diskutieren. Im Rückblick gilt Royaumont als eines der Ereignisse, mit denen die Postmoderne in der französischen Philosophie begonnen hat. Dass ihre Tagung einmal als Keimzelle eines neuen Zeitgeistes gelten würde, war für die Teilnehmer allerdings nicht abzusehen. Nietzsche selbst hatte zeit seines Lebens als «unzeitgemäßer» Denker gelten wollen, doch erst in der zweiten Nachkriegszeit seit seinem Tod schien dieser Wunsch endlich in Erfüllung zu gehen. Zwar war er von Georges Bataille vom Vorwurf des Nationalsozialismus freigesprochen worden, zwar tauchte er bei Camus und Sartre als eine Art entfernter Vorläufer des Existentialismus auf. Doch das nächste große Ding war in Frankreich der Strukturalismus. In den beiden deutschen Staaten sah es für den Autor des Zarathustra noch schlechter aus. In der DDR galt er offiziell als «Wegbereiter des Faschismus», und auch in der Bundesrepublik war sein Renommee auf einem historischen Tiefstand angelangt. Darf man den Zeitdiagnostikern glauben, dann hatte er sein Stammpublikum, die sogenannte «Jugend von heute», verloren. Die skeptische Generation wusste mit seinem Pathos nichts mehr anzufangen. Noch 1968 schrieb Jürgen Habermas mit spürbarer Erleichterung, von Nietzsche gehe «nichts Ansteckendes» mehr aus.[1]

Es passt ins Bild, dass es sich bei der Mehrzahl der Vortragenden in Royaumont um Nietzsche-Veteranen aus der ersten Jahrhunderthälfte handelt: um Boris de Schlözer zum Beispiel, den dreiundachtzigjährigen Nachfahren des russischen Zweigs einer deutschen Adelsfamilie, der über die Verklärung des Bösen bei Nietzsche und Dostojewski spricht. Oder um Jean Wahl, den jüdischen Sorbonne-Professor, der unter deutscher Besatzung interniert worden war und der als Ehrenvorsitzender der Societé française d études nietzschéennes in Royaumont die Rolle eines aufgeräumten Frühstücksdirektors spielt. Oder um Karl Löwith, der die deutsche Nietzsche-Begeisterung der ersten Jahrhunderthälfte wie kein anderer zu verkörpern vermag, denn schließlich hatte er sie am eigenen Leib erlebt: Von der Jugendbewegung über die Weltkriegseuphorie und das Studium bei Heidegger bis zu dem Tag, an dem die nationalsozialistischen Rassengesetze seiner akademischen Karriere in Deutschland ein Ende bereitet hatten, war Nietzsche der Leitstern seiner eigenen radikalen Denkbewegungen gewesen. Ohne diesen «letzten deutschen Philosophen», hat Löwith später in seiner im japanischen Exil verfassten Autobiografie geschrieben, lasse sich die «deutsche Entwicklung» nicht verstehen - und in einer Wendung, die an die Stimmungslage mancher heutiger Geisteswissenschaftler erinnert, fügte er reumütig hinzu, er habe fahrlässig «mitdestruiert».[2]

In Royaumont hatte sich der einstige Avantgardist in einen weißhaarigen Stoiker verwandelt, den an Nietzsche nicht mehr die Theorie des Willens zur Macht, sondern der Gedanke der ewigen Wiederkehr faszinierte. Löwith plädiert dafür, aus der fatalen Bewegung der Moderne auszusteigen und zu einer antiken Gelassenheit zurückzufinden, die den Menschen als Teil des ewig unveränderlichen Kosmos ansieht.[3]

Nichts könnte den französischen Jung-Nietzscheanern, die die andere Hälfte der Konferenzteilnehmer ausmachen, ferner als dieser vornehm distanzierte Konservatismus liegen. Während Löwith die Bilanz einer epochalen Ernüchterung präsentiert, spielen sie bereits die Motive einer kommenden Philosophie der Überschreitung durch. Für Gilles Deleuze, Attaché de recherches am Centre national de la recherche scientifique und Veranstalter des Colloquiums, bedeutet die ewige Wiederkehr keineswegs eine Besinnung auf die Kontemplation des immer gleichen Kosmos, sondern ein dionysisches Prinzip der Unruhe, das garantiert, dass die Welt niemals mit sich identisch bleibt.[4]

Zu den jungen Franzosen gehört auch Michel Foucault, dem damals genau wie Deleuze noch kein großer Ruf vorauseilt. Dass sein Vortrag über «Nietzsche, Freud, Marx» als einziger bis heute gelesen wird, dürfte daran liegen, dass er eine Beobachterperspektive zweiter Ordnung einnimmt. Anstatt den Interpretationen der Nietzsche-Exegeten nämlich eine weitere hinzuzufügen, macht er die Interpretation als solche zu seinem Gegenstand. Bis ins 19. Jahrhundert, so Foucaults These, seien die Verfahren der Textexegese durch die regulative Idee einer authentischen Quelle begrenzt gewesen. Erst Nietzsche (und Marx und Freud) hätten der Hermeneutik mit ihren Schriften diesen beruhigenden Boden entzogen. Indem er die Idee des Urtextes durch einen Abgrund ineinander geschachtelter Auslegungen ersetzte, habe insbesondere Nietzsche das Geschäft der Interpretation für seine Nachfolger zu einer unendlichen, durch keine ursprüngliche Wahrheit mehr gedeckten Aufgabe gemacht.[5]

Die Geburt der Tragödie, Nietzsches erstes, 1872 erschienenes Buch, das zugleich den Anfang vom Ende seiner akademischen Karriere einläutete, hat eine ungewöhnliche Dramaturgie: Man muss erst zwölf Kapitel lang die Dialektik des Apollinischen und Dionysischen verfolgen, bevor - auf der Hälfte der Schrift - endlich Sokrates, der eigentliche Protagonist, die Bühne der Darstellung betritt. Oder genauer: Er betritt nicht die Bühne, auf der der Gott des Traumes und der Gott des Rausches ihre spannungsreiche Vereinigung in Form der antiken Tragödie zelebrieren, sondern sitzt unauffällig im Zuschauerraum, von wo aus er zusammen mit seinem Gesinnungsgenossen, dem Dichter Euripides, das Geschehen voller Zweifel beäugt. Die Weltanschauung, die der Tragödie zugrunde liegt, bleibt ihm unverständlich. Im Gegensatz zu den übrigen Anwesenden verkörpert Sokrates nämlich den «theoretischen Optimismus», das Ethos aufklärerischer Wissenschaft, die Überzeugung, es sei möglich, «die wahre Erkenntniss vom Schein und vom Irrthum zu sondern» und dem Schicksal der tragischen Helden durch existentielles Besserwissen zu entrinnen. Das wahre Drama, das Nietzsche in der zweiten Hälfte seines Buches entfaltet, ist nicht das zwischen dionysischem und apollinischem, sondern zwischen dionysischem und sokratischem Prinzip.[6]

Mit der gleichen Skepsis und der gleichen Unauffälligkeit wie Sokrates und Euripides müssen Giorgio Colli und Mazzino Montinari unter den in Royaumont versammelten Philosophen gesessen haben. In den Diskussionsprotokollen des Kongresses haben sie so gut wie keine Spuren hinterlassen. Abgesehen von dem kurzen Referat, das Montinari am Morgen des zweiten Tages hielt, ist von ihnen keine Rückfrage, keine Hypothese, keine noch so geringfügige Bemerkung überliefert. Dabei hätten sie spätestens nach Foucaults Vortrag über die unreglementierte Interpretation eigentlich unbedingt ihren Widerspruch einlegen müssen. Doch wie ihre Korrespondenz im Vorfeld der Konferenz verrät, fühlen sie sich unter den Nietzsche-Experten fehl am Platz. Colli, der mit Mitte vierzig als Privatdozent an der Universität Pisa antike Philosophie unterrichtet, macht um akademische Veranstaltungen normalerweise einen großen Bogen, und Montinari, der sich in seiner Zeit als Funktionär der Kommunistischen Partei Italiens daran gewöhnt hat, die Welt in Freunde und Feinde einzuteilen, befürchtet, die «hohen Tiere der westlichen Nietzscheologie» wollten ein Exempel an ihnen statuieren. Schon im Bus von Paris nach Royaumont müssen sie durch Zufall mit anhören, wie ein französischer Professor von einem italienischen Kollegen wissen will, wer die beiden unbekannten Italiener seien, deren Namen im Programm auftauchen. Sie gehören in keines der auf der Konferenz vertretenen Lager; sie fühlen sich weder den deutschen Apollinikern noch den französischen Dionysikern zugehörig; und in den Kaffeepausen, die bei solchen Veranstaltungen unvermeidlich sind, stehen sie sicher meistens alleine herum. «Die Vielen und mit ihnen die besten Einzelnen hatten nur ein misstrauisches Lächeln für ihn», heißt es bei Nietzsche über den Zweifler Euripides, und so ähnlich mag es den beiden Italienern ergangen sein.[7] In den Augen der Nietzscheologen spielen sie nämlich eine unrühmliche Rolle: Sie sind...
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