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Wolgaland

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
240 Seiten
Deutsch
Septime Verlagerschienen am08.03.2022
Das Leben in einer wolgadeutschen Kolonie, die Deportation der Familie nach Sibirien in den Vierzigerjahren und die Suche nach einem Ort, der eine neue Heimat werden könnte - all das kennt Alexandr aus eigener Erfahrung und aus den Erzählungen seines Vaters über die Vergangenheit. Tagein, tagaus begleitet ihn die Erinnerung an früher. Doch auch nach der Übersiedlung in die »Urheimat«, aus der einst die Vorfahren ausgewandert waren, fühlt Alexandr, nun schon im fortgeschrittenen Alter, sich fremd und unverstanden. Selbst die Musik, die ihn sein Leben lang begleitet hat, bringt ihm keinen Trost mehr. Als das Gefühl, verfolgt zu werden, immer stärker wird, fasst er einen Plan. Lana, die Tierärztin, die aushilfsweise im Dorfgasthof kellnert, ist Alexandr in stiller Sympathie verbunden. Sie wahrt nach allen Seiten hin ihre Unabhängigkeit und wird dabei doch aufgerieben zwischen dem ratlosen Bemühen um eine tiefere Beziehung zu ihrem Sohn, der weit entfernt bei seinem Vater lebt, und den mütterlichen Gefühlen, die sie für die Tochter ihres Freundes hegt. Als eines Tages eine weitere russlanddeutsche Familie ins Dorf zieht, weckt das zunächst kaum Interesse. Nur Jonathans Welt wird auf den Kopf gestellt. Der junge Mann, der, von künstlerischen Ambitionen getrieben, in der Enge des Dorflebens zu ersticken droht, sieht im Sohn der Familie schon bald seine Rettung. Doch die faszinierenden Ähnlichkeiten, die er zwischen sich und dem Neuankömmling zu entdecken glaubt, stürzen ihn in einen seelischen Taumel, der ihm zum Verhängnis wird.

Lydia Steinbacher geboren 1993, lebt und arbeitet in Wien und Niederösterreich, studierte Deutsche Philologie an der Universität Wien. Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung sowie des Literaturkreises Podium. Sie wuchs in Hollenstein an der Ybbs auf und sammelte schon früh Erfahrungen im Schreiben, u. a. im Rahmen der Schreibakademie Niederösterreich. Steinbacher ist Trägerin zahlreicher nationaler und internationaler Aufenthalts- und Literaturstipendien. 2017 sorgte ihr Lyrikband Im Grunde sind wir sehr verschieden (Limbus Verlag) für großes mediales Interesse, es folgte die Teilnahme am Poesiefestival Treci Trg in Belgrad. Ihre Erzählungen erschienen in zahlreichen Anthologien. Ihr Erzählband Schalenmenschen erschien 2019. Wolgaland (2022) ist ihr erster Roman.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR16,99

Produkt

KlappentextDas Leben in einer wolgadeutschen Kolonie, die Deportation der Familie nach Sibirien in den Vierzigerjahren und die Suche nach einem Ort, der eine neue Heimat werden könnte - all das kennt Alexandr aus eigener Erfahrung und aus den Erzählungen seines Vaters über die Vergangenheit. Tagein, tagaus begleitet ihn die Erinnerung an früher. Doch auch nach der Übersiedlung in die »Urheimat«, aus der einst die Vorfahren ausgewandert waren, fühlt Alexandr, nun schon im fortgeschrittenen Alter, sich fremd und unverstanden. Selbst die Musik, die ihn sein Leben lang begleitet hat, bringt ihm keinen Trost mehr. Als das Gefühl, verfolgt zu werden, immer stärker wird, fasst er einen Plan. Lana, die Tierärztin, die aushilfsweise im Dorfgasthof kellnert, ist Alexandr in stiller Sympathie verbunden. Sie wahrt nach allen Seiten hin ihre Unabhängigkeit und wird dabei doch aufgerieben zwischen dem ratlosen Bemühen um eine tiefere Beziehung zu ihrem Sohn, der weit entfernt bei seinem Vater lebt, und den mütterlichen Gefühlen, die sie für die Tochter ihres Freundes hegt. Als eines Tages eine weitere russlanddeutsche Familie ins Dorf zieht, weckt das zunächst kaum Interesse. Nur Jonathans Welt wird auf den Kopf gestellt. Der junge Mann, der, von künstlerischen Ambitionen getrieben, in der Enge des Dorflebens zu ersticken droht, sieht im Sohn der Familie schon bald seine Rettung. Doch die faszinierenden Ähnlichkeiten, die er zwischen sich und dem Neuankömmling zu entdecken glaubt, stürzen ihn in einen seelischen Taumel, der ihm zum Verhängnis wird.

Lydia Steinbacher geboren 1993, lebt und arbeitet in Wien und Niederösterreich, studierte Deutsche Philologie an der Universität Wien. Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung sowie des Literaturkreises Podium. Sie wuchs in Hollenstein an der Ybbs auf und sammelte schon früh Erfahrungen im Schreiben, u. a. im Rahmen der Schreibakademie Niederösterreich. Steinbacher ist Trägerin zahlreicher nationaler und internationaler Aufenthalts- und Literaturstipendien. 2017 sorgte ihr Lyrikband Im Grunde sind wir sehr verschieden (Limbus Verlag) für großes mediales Interesse, es folgte die Teilnahme am Poesiefestival Treci Trg in Belgrad. Ihre Erzählungen erschienen in zahlreichen Anthologien. Ihr Erzählband Schalenmenschen erschien 2019. Wolgaland (2022) ist ihr erster Roman.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783903061910
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum08.03.2022
Seiten240 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1198 Kbytes
Artikel-Nr.8992390
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


 

1

 

Die Fliege landete direkt auf dem Aralsee. Auf dieser Karte hatte er noch seine einstige Größe und verschwand dennoch zur Gänze unter dem schwarzen Insektenkörper. Sie machte ein paar Schritte nach Nordosten, da kam der hellblaue Fleck wieder zum Vorschein, vielleicht schon ein bisschen kleiner als noch vor einem Augenblick.

Nicht mehr als ein armseliger Schwarm Fliegen wäre der Chor ohne ihn gewesen, der Zusammenklang im Summen kaum ertragbar. Alexandr Niebel legte hohe Maßstäbe an die Sänger an, vor allem aber verlangte er sich selbst viel ab. Und seinen Arrangements. Er wischte mit der Hand über die Weltkarte, um das Tier zu verscheuchen - die tausenden Ommatidien sahen die Bewegung lange vor der Berührung kommen, der Körper hob ab und verlor sich im Raum, suchte sich ein Fenster, prallte gegen das Glas, fünfmal, fünfzigmal. Manchmal war es ein Zufall, so wie die Wahl dieser Fliege, sich für ein paar Sekunden in der Steppe niederzulassen, diese Stelle in der Welt zu wählen, der Alexandr näher zu seinem alten Leben brachte. In seinem Gesicht stand ein genügsames Lächeln. Es war unauffällig wie seine gesamte körperliche Erscheinung, die Unauffälligkeit war auf beschwerlichem Wege zu erwerben gewesen. Er strich sich die grauen Haare nach hinten, eines der Härchen sichelte wie vom Mond gefallen hinter ihm zu Boden. Draußen war es längst dunkel, da nahm Alexandr wieder beim Pianino Platz, einem alten Lauberger & Gloss. Jegliche von Klavierstimmern unternommenen und nicht ganz billigen Versuche, das Instrument in seinen einstigen Klang zurückzuführen, waren vergebens gewesen. Doch war dieser frühere Klang selbst nur etwas Angedichtetes, eine Vorstellung, denn Alexandr hatte ihn nie gehört. Er strich über den geöffneten Tastendeckel, als könnte er verstehen, dass es sich nicht verändern lassen wollte von fremder Hand - das hatte immer etwas Grausames. Der Tastenanschlag war schwerfällig und träge. Schuld war aber nicht das Instrument, es kam nicht für die Schwäche der Menschen auf, die es zu spielen nicht in der Lage waren. Wer es spielen wollte, brauchte eine Stärke in den Fingern. Und wie die Stärke in den Fingern brauchte er im Geist die Vorstellung eines großen blauen Flusses, kleiner gepflegter Höfe und von Kindern, die im Übermut stolperten, die Alexandr sich immerzu vergegenwärtigte in der Musik, in all ihren Facetten, was aber niemand außer ihm wusste. Auch diese Unauffälligkeit hatte er auf beschwerlichem Weg erworben.

Lana klopfte mit ihren Ringen, die sie alle an der linken Hand trug, gegen das Rauchglas der Tür. Alexandr wandte sich abrupt in ihre Richtung. Fast klang es, als würde die Scheibe zerspringen, aber es war ihre übliche Begrüßung am Dienstagabend. Zuerst das Klopfen mit den Silberringen gegen das Glas, gleich darauf öffnete sie die Tür zum Proberaum, der eigentlich der Veranstaltungssaal des kleinen Gasthauses war. Es war ihre Art, die Männer vorzuwarnen, denn sie beherrschte auch die Kunst, unvermutet und lautlos aufzutauchen. Die Fliege huschte unter ihrer Achsel aus dem Zimmer in den Gang, so hatte ihr Lana unversehens ein Schlupfloch geöffnet. Ihre Schicht begann um fünf, die Chorprobe um acht Uhr abends, für gewöhnlich mit einer Viertelstunde Verspätung, weil ein paar Sänger sich stets die Freiheit nahmen, die anderen warten zu lassen. Lana war eine schlanke Frau, ihr Alter unterlag großen Schwankungen wie ihr Gemüt, einmal sah sie aus wie gerade einmal dreißig und an einem anderen Tag, es konnte auch der darauffolgende sein, hätte man sie nach einem flüchtigen Blick ins Gesicht auf gut fünfundvierzig schätzen wollen, die Wahrheit war in ihrer Gegenwart unaussprechlich. Jede Woche bot sie Alexandr etwas anderes zu trinken an und immer wünschte er sich nur das Übliche. Lana warf den Kopf auf eine Seite, sodass man ihren Pferdeschwanz über die Schulter fliegen sah. Festhalten unmöglich - alle Lasten, alle ihr lästig Fallenden, ehe man sich s versah, wieder abgeworfen. Lana, die das Endgültige verabscheute. Sie schaute Alexandr noch eine Weile an, obwohl der Dialog schon abgespult war. Jede Woche trug er denselben grauen Anzug, der dennoch faltenfrei war, vorbildlich gebügelt und ohne Makel. Dahinter stand ein penibles Zeitmanagement, bis zum nächsten Probenabend hatte er seine Kleidung immer rechtzeitig gewaschen und gebügelt. Jonathan ist übrigens auch schon da, ist noch vorn an der Bar, kommt gleich, sagte Lana, verließ den Proberaum und ging zur Schank, ohne die Tür zu schließen. Es war Gelächter zu hören und die Beine der Barhocker, die über den Boden kratzten. Der Zigarettenrauch wuchs langsam in das Glas der Tür.

Lana erinnerte Alexandr an jemanden, ohne dass er sagen konnte, an wen. Seltsam, dass ihm der Gedanke erst jetzt kam, wo er sie schon so lange kannte. Es konnte sich nur um ein winziges Detail handeln, vielleicht die Anordnung der Falten auf ihrer Stirn, die ihn an seine Tante denken ließ und natürlich auch an die Mutter, von der er nicht einmal ein Bild besaß, nur unendliche Vorstellungen. Dachte er aber an die Zeit in Sibirien zurück - denn an die Jahre vor der Deportation konnte er sich kaum erinnern und fast war ihm, als hätte die ersten Jahre seiner Kindheit jemand anderer für ihn gelebt und er wäre erst nachher hineingeplatzt -, dann hörte er immer die Stimme seines Vaters, vielleicht war sie auch notwendig, um sich überhaupt zu erinnern. Nach der Zwangsarbeit in der Trudarmee hatte er, sobald es dunkel wurde und an nebeligen Tagen, nur über eines gesprochen, über die Heimat, die Wolgarepublik, im Flüsterton. Aber was mit den Falten auf der Stirn der Tante, was nun? Im ersten Lebensjahr hatte sie Alexandr angeblich mit verdünnter Ziegenmilch gefüttert, und weil er sich dennoch normal entwickelt hatte, war sie so stolz gewesen, dass sie bei jeder Gelegenheit davon berichtet hatte, es noch Jahrzehnte später bei Treffen mit ihren Freundinnen immer wieder ansprach. Wahrscheinlich war es nur die Art, wie Tante Nelly ihn damals skeptisch angeschaut hatte, wenn er nachmittags von der Schule heimkommend seine Hefte auf dem Küchentisch aufgeschlagen hatte, um Hausaufgaben zu machen, die man sehr ähnlich auch in Lanas Gesicht bemerken konnte. Nur diese drei besonders angeordneten und gar nicht tiefen Falten auf der Stirn, mehr nicht. Falten für Sorgen, Zweifel, Unverständnis. Tante Nelly hatte über seine Schulter in seine Hefte gelugt, als hätte sie bei jedem Umblättern Angst gehabt, da einen Vermerk des Lehrers zu entdecken - nicht die Texte betreffend, die Alexandr in schönster kyrillischer Schreibschrift in die Zeilen setzte, sein Russisch war perfekt, annähernd zumindest. Sondern etwas Grundlegendes bemängelnd, was nicht richtig war, was aus der Reihe tanzte. Oft war Alexandr traurig von der Schule heimgekommen, dann hatte sie ihm die Hand auf den Kopf gelegt, seine Haare zurückgestreichelt wie das Fell eines dummen Hundes, aber sie meinte es so: Du kannst das noch nicht richtig verstehen, aber du musst keine Sorge haben, du bist kein Faschist. Dann hatte sie ihm etwas zu essen gebracht und egal was es war, es fühlte sich an wie ein Lindenblatt im Magen, etwas, das dazu imstande war, fast alles wieder gut zu machen. Ob es nur genügend Blätter gab? Er hatte die Tante sehr geliebt.

 

Die Stunden nach der Chorprobe waren für Alexandr leere Nacht ohne Schlaf und ohne Beschäftigung. Erschöpft vom Dirigieren, aber vor allem von den Gesprächen und dem aufgesetzten Lächeln wie ein Riss durch eine Mauer, saß er auf der Bettkante vor seinem Bücherregal und starrte die Buchrücken an. Er besah sich genau, welche Beschriftungen nach links und welche entgegengesetzt ausgerichtet waren, unwillkürlich kippte er den Kopf dabei ganz leicht - eine Bewegung, für die man verspottet würde, er verspottet würde. Da stand Lore Reimers Senfkorn, ihr unlängst erschienener Band, zwischen den Vielen guten Kameraden von Nora Pfeffer und - ja, was sollte das? - Schumanns Waldszenen gleich rechts daneben. Der unverhältnismäßig große, aber umso dünnere Notenband hatte den ihm eigentlich zugewiesenen Platz nicht in diesem Regal. Wer käme auch auf die Idee, Noten aufrecht zwischen irgendwelche Romane und Gedichtbände zu zwängen? Wahrscheinlich war er übernächtigt gewesen, oder es war, wie leicht dahingesagt, das Alter, das sich in kurzen Augenblicken in einer merkwürdigen Verwirrung der Sinne zeigte und wieder hinter einem Fleck auf der Haut versteckte. Etwas irritierte Alexandr jedoch. Weil er sich auch nach längerem Überlegen nicht daran erinnern konnte, den Notenband zwischen die Bücher gesteckt zu haben, und auch keinen Sinn darin entdecken konnte, nahm er ihn heraus und ging damit die paar Schritte auf die andere Seite des Raums, wo sich ein kniehohes Regal nur für die Musik befand. Im Halbdunkel legte er das Heft auf das dritte Brett. Alexandr machte immer nur so wenig Licht wie nötig, und obwohl ihm diese Angewohnheit oft das Ärgernis seiner Mitmenschen eingebracht hatte, änderte er sie nicht. Gleich darauf ließ er sich wieder auf der Bettkante nieder, studierte weiter die Bücher, hoffte, es würde ihn müde machen, zum Einschlafen bewegen. Er dimmte das Licht der Stehlampe noch ein bisschen weiter, legte den Polster auf seine Oberschenkel und die Arme darauf. In Gedanken ging er zum wiederholten Mal die...
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Autor

Lydia Steinbacher
geboren 1993, lebt und arbeitet in Wien und Niederösterreich, studierte Deutsche Philologie an der Universität Wien. Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung sowie des Literaturkreises Podium. Sie wuchs in Hollenstein an der Ybbs auf und sammelte schon früh Erfahrungen im Schreiben, u. a. im Rahmen der Schreibakademie Niederösterreich. Steinbacher ist Trägerin zahlreicher nationaler und internationaler Aufenthalts- und Literaturstipendien. 2017 sorgte ihr Lyrikband Im Grunde sind wir sehr verschieden (Limbus Verlag) für großes mediales Interesse, es folgte die Teilnahme am Poesiefestival Treci Trg in Belgrad. Ihre Erzählungen erschienen in zahlreichen Anthologien. Ihr Erzählband Schalenmenschen erschien 2019. Wolgaland (2022) ist ihr erster Roman.