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Die Luft zum Atmen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
352 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am28.03.2022
Von den Balkonen des Sanatoriums fällt der Blick auf die nebelumschlungenen Flüsse und Berge, einen einsamen Fuchs und die gewundene Straße zum Dorf. Während Europa im Ersten Weltkrieg versinkt, führen die Patienten der Tuberkuloseklinik hier am Tamarack Lake ihren eigenen Kampf ums Überleben. Als ein Neuankömmling vorschlägt, einmal die Woche für einen Vortrag zusammenzukommen, gerät der Alltag im Hospital aus den Fugen. Leidenschaftlich stürzen sich die Bewohner in ihre Studien, teilen ihr Wissen und erobern - neben der Welt Einsteins und Madame Curies - auch die längst verloren geglaubte Schönheit des Lebens zurück. Barrett erzählt von einer Schicksalsgemeinschaft, in der Erkenntnis zum Lebenselixier gereicht und Wissenschaft zu Poesie wird.

Andrea Barrett, geboren 1954 in Boston, wuchs in Cape Cod, Massachusetts, auf und studierte Zoologie. Nach ihrem Studium wandte sie sich dem Schreiben zu und wurde seither mehrfach für ihre Werke ausgezeichnet, u. a. mit dem National Book Award für ihren Erzählband Schiffsfieber, dem MacArthur Fellowship und dem Rea Award for the Short Story. Sie lehrt Kreatives Schreiben am Williams College und am Warren Wilson College und lebt in North Adams, Massachusetts.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR15,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99

Produkt

KlappentextVon den Balkonen des Sanatoriums fällt der Blick auf die nebelumschlungenen Flüsse und Berge, einen einsamen Fuchs und die gewundene Straße zum Dorf. Während Europa im Ersten Weltkrieg versinkt, führen die Patienten der Tuberkuloseklinik hier am Tamarack Lake ihren eigenen Kampf ums Überleben. Als ein Neuankömmling vorschlägt, einmal die Woche für einen Vortrag zusammenzukommen, gerät der Alltag im Hospital aus den Fugen. Leidenschaftlich stürzen sich die Bewohner in ihre Studien, teilen ihr Wissen und erobern - neben der Welt Einsteins und Madame Curies - auch die längst verloren geglaubte Schönheit des Lebens zurück. Barrett erzählt von einer Schicksalsgemeinschaft, in der Erkenntnis zum Lebenselixier gereicht und Wissenschaft zu Poesie wird.

Andrea Barrett, geboren 1954 in Boston, wuchs in Cape Cod, Massachusetts, auf und studierte Zoologie. Nach ihrem Studium wandte sie sich dem Schreiben zu und wurde seither mehrfach für ihre Werke ausgezeichnet, u. a. mit dem National Book Award für ihren Erzählband Schiffsfieber, dem MacArthur Fellowship und dem Rea Award for the Short Story. Sie lehrt Kreatives Schreiben am Williams College und am Warren Wilson College und lebt in North Adams, Massachusetts.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293311282
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum28.03.2022
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1903 Kbytes
Artikel-Nr.9090604
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe




2


In der Ortschaft Tamarack Lake, zweieinhalb Meilen westlich von uns gelegen, sind die Straßen, die fächerförmig vom See bergan führen, von privaten Kurpensionen gesäumt. Zu der Stunde, als sich Leo in seinem Zimmer einrichtete, war Naomi Martin in der Pension, die als »Mrs Martin s House« bekannt war - das Haus ihrer Mutter, nicht ihr eigenes: acht Zimmer, vermietet an Kranke, die ständiger Pflege und Nahrung bedurften -, eben dabei die nachmittäglichen Tabletts zu den Gästen zu tragen. Dreimal täglich bediente sie im Speisesaal und servierte zwischendurch Leckereien auf den Balkonen, wo sie ihre Liegekuren absolvierten. Aus einer Wochenend- und Ferienbeschäftigung war, seitdem sie im Juni die High School abgeschlossen hatte, ein Ganztagselend geworden. Tag für Tag war sie in dem Haus gefangen, in dem sie auch nach einem Jahrzehnt noch nicht heimisch geworden war.

Zuhause, das war, wie sie ihrer Freundin Eudora oft erzählt hatte, das Haus, in dem sie geboren war: gelbgrauer Stein mit zwei Schornsteinen, in der Mitte eine Tür mit einem Oberlicht und davor ein Rasen, der von einem Plattenweg in zwei Hälften geteilt wurde. Auf dem Rasen verstreut standen Tulpenbäume und Stechpalmen, und in den Staudenbeeten wurden die Pfingstrosen und Schwertlilien jedes Jahr dichter. Das Städtchen Chester war klein und ruhig, aber Philadelphia lag nahe genug zum Einkaufen und für besondere Ausflüge. Alles war in bester Ordnung gewesen, sie hatten Dienstboten gehabt. Ein Mann - er hatte George geheißen, glaubte sie - kümmerte sich um das Grundstück, den Wagen und die Pferde; und dazu hatten sie ein Hausmädchen gehabt, das Katie hieß, und eine Köchin. Nach dem Unfall, als die Dienstboten fort waren, hatte ihre Mutter die Küche selbst übernommen und sich aus einem Buch das Kochen beigebracht.

Was Naomi von dem Unfall noch wusste, war dies: ein Tag im Frühling 1903, als sie fünf Jahre und ihr Bruder Thomas fast vier Monate alt war. In der großen Wanne, am Ende des Tages, hatte sie fröhlich im Wasser geplanscht, das Katie in Kesseln auf dem Herd zum Kochen gebracht hatte. Draußen teilte ihre Mutter noch die Schwertlilien. Drinnen machte sie eine Überschwemmung, und Katie trocknete sie unsanft ab, schimpfte sie aus und ging neues Badewasser für Thomas aufsetzen. Sie lief in ihr Zimmer und bürstete sich die Haare. Ihre Mutter kam herein - damals hatte sie sie »Mama« genannt - und zog die Gartenhandschuhe aus und ging nach oben, um Thomas zu baden, denn das machte sie gern selbst, in der für ihn vorgesehenen Porzellanschüssel. Katie goss Wasser in die Schüssel und wandte sich ab, um frische Handtücher zu holen. Und ihre Mutter, die mit Katie über den Garten redete und in Gedanken vielleicht bei ihren Pflanzen war, tauchte Thomas in die Schüssel, ohne vorher die Temperatur zu prüfen. 

Blaue Augen oder braune? Braunes Haar oder schwarzes? Nach einer Weile wusste sie es nicht mehr. Sie erinnerte sich an Thomas Weinen und die Schreie ihrer Mutter und Katies Schluchzen. An die lauten Schritte ihres Vaters auf der Treppe und die Dinge, die er zu Katie und ihrer Mutter sagte. An den nächsten Tag, als Katie türenknallend das Haus verließ, nachdem ihr Vater sie entlassen hatte. Naomi hatte einen Onkel, der Arzt war, und einen anderen, der Apotheker war, und keiner von beiden konnte etwas tun; sie erinnerte sich an ihre Gesichter. Aber nicht an die Beerdigung, weil sie dahin nicht mitdurfte. Und später auch nicht mehr an ihren Vater: jedenfalls nicht mehr daran, wie er vor dem Unfall gewesen war. Wenn sie an ihn dachte, sah sie ihn danach, in dem Jahr, als er aufhörte, in die Kanzlei zu gehen, und dafür den ganzen Tag trank und ihr nie mehr Geschichten erzählte oder mit anderen Leuten sprach.

Das Haus verwahrloste, der Rasen verkam zur Wiese, Obst verfaulte am Boden, und überall wucherte Unkraut. Eines Tages verschwand ihr Vater, und später, als ihn jemand in Texas entdeckte, ließ sich ihre Mutter von ihm scheiden. Seine Brüder, Naomis Onkel, übernahmen das Haus. Anwälte und Bankangestellte gingen ein und aus, und auch die Frauen, die mit ihrer Mutter befreundet gewesen waren. Ihre Mutter fuhr ständig nach Philadelphia, bis sie eines Abends mit entschlossener Miene heimkam und Naomi befahl, ihre Sachen zu packen. Später war da noch die Bahnfahrt nach Norden und die grauhaarige Frau, die sie am Bahnhof abholte: Elizabeth Vigne, Eudoras Tante. Die Kurpension, ein großer Holzhaufen aus Zimmer um Zimmer, Balkonen über Balkonen, konnten sie haben, wenn sie wollten; Naomis Mutter nahm das Angebot an, und sie machten sich an die Arbeit.

Naomi war acht gewesen, als sie in Tamarack Lake ankamen, mit nichts als ein paar Kleidungsstücken und dem Rezeptbuch, das den Tisch ihrer Mutter berühmt machen sollte. Inzwischen war »Mrs Martin s House« bei potentiellen Gästen in so weit entfernten Städten wie Atlanta bekannt, und das, behauptete ihre Mutter, sei ihre Rettung. Naomi wäre fast alles andere lieber. Im Wald leben, am Meer leben, in einem anderen Land oder auf einem Schiff leben, überall, nur nicht an diesem Ort des Leidens. Bergauf, bergab standen Pensionen, von Balkonen verunstaltet, bis unters Dach voll kranker Leute. In manchen wohnten bevorzugt Kubaner, in manchen Varietékünstler, in manchen Versicherungsangestellte. In ihrem Haus die Reichen.

An diesem Nachmittag hegte sie die Hoffnung, Miles Fairchild, den wohlhabendsten der Gäste ihrer Mutter, zu einem Gefallen zu bewegen. Bald nach seiner Ankunft war er in ihr größtes Zimmer eingezogen, wo er in den Genuss eines roten Sessels, eines Nussbaumbettes und eingebauter Bücherschränke beidseits des Kamins kam. Seine Heizung lief ständig, und sein Liegestuhl bot, wie sie beim Hinaustreten auf den Balkon erinnert wurde, einen ausgezeichneten Blick. Am Fuß des Bergs leuchtete grün und still der See, wie ein Fausthandschuh geformt, hier und da mit Booten getupft. In weiche Kapokpolster gebettet hätte sich Miles an den Paaren erfreuen können, die auf Segelbooten tändelten, den Kindern, die Angelschnüre aus Ruderbooten hängten, einem Blaureiher, der aus dem Schilf aufstieg und mit langsamen Flügelschlägen dicht über dem Wasser zum Park am anderen Ende flog - doch stattdessen war er in ein Buch vertieft. Den an seiner Rückenlehne befestigten Schirm hatte er so gestellt, dass der Schatten auf die Seiten fiel und seine Augen vor jedem Zuviel an Helligkeit schützte.

Sie straffte die Schultern und ging mit dem Tablett auf ihn zu. Ein rotes Band hielt ihre Haare auf eine Weise, von der sie wusste, dass es sie kleidete. Die umgeschlagenen Ärmel gaben ihre Handgelenke frei, ihre Schürze war frisch und ordentlich gebügelt, und als sie seinen Milchreis absetzte, legte sie es darauf an, dass er sie ansah. Er war siebenunddreißig, fast zwanzig Jahre älter als sie, aber noch nicht tot; in den letzten Monaten hatte er zugenommen und eine Unrast entwickelt, die sie möglicherweise zu ihren Gunsten zu wenden hoffte.

»Reizend«, sagte er, mit einem Blick zunächst auf die Schüssel, aber dann auf sie, wobei er seine Beine verschob und das Buch zuklappte. »Danke schön.«

»Mit extra viel Schlagesahne«, verkündete sie und trat einen Schritt zurück, sodass sie von der Aussicht gerahmt vor ihm stand. Als seine Augen ihr folgten, fuhr sie fort: »Zu dem, was Sie gestern Abend sagten â¦«

Beim Abendessen, als sie das gebratene Hähnchen und die Pastinaken herumreichte, hatte er gefragt, ob vielleicht jemand wisse, wo er ein Auto mit Chauffeur mieten könne. Er wolle ein neues Projekt in Angriff nehmen, hatte er gesagt, offensichtlich mit sich zufrieden. Irgendetwas, das mit den Insassen von Tamarack State zu tun hatte, wo er einen Nachmittag die Woche hinwollte; er brauche einen Chauffeur. Sie ging weiter um den langen weißen Tisch und schob die Platte zwischen dunkle Schultern, während ihre Mutter sich der Sauciere annahm, nickte stumm, wenn ein Gast ihr dankte, und sagte noch immer nichts, als sie die Platte auf der Kredenz absetzte und die Vasen geraderückte. Doch noch ehe sie die Pendeltür zur Küche aufstieß, hatte sie begonnen, einen Plan zu schmieden.

»Ja?«, sagte Miles jetzt, den Löffel über der Schüssel bereit.

»Ich dachte, vielleicht könnte ich Sie zum Tamarack State fahren«, sagte sie. »Ich bin eine ausgezeichnete Fahrerin; ich mache jetzt schon die meisten Besorgungen für das Haus, aber ich hätte gern eine Möglichkeit, selbständig zu arbeiten. Um ein wenig Geld zu verdienen.«

In den letzten sechs Monaten, erklärte sie, als er zweifelnd auf ihre Hände blickte, habe sie bei Eudoras Bruder, der in der Tankstelle von Tamarack Lake arbeite, eine gründliche Fahrschule absolviert. Außerdem habe sie eine Reihe einfacher Reparaturen gelernt, darunter das Reifenwechseln und den Gebrauch der Werkzeuge im Kasten auf dem Trittbrett. »Von daher brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, dass Sie liegenbleiben«, schloss sie. »Außerdem kenne ich jede Straße im Dorf und die meisten Strecken zwischen hier und Lake Placid. Ich kann Sie überall hinfahren, wohin Sie wollen, jederzeit.«

»Mittwochs würde ich Sie brauchen«, sagte er. »Zumindest fürs Erste. Sind Sie da frei?«

Sie schob die nimmer endenden Forderungen ihrer Mutter sowie die Tatsache beiseite, dass der Model T in der Remise eigentlich gar nicht ihnen gehörte, und sagte: »Ich kann es einrichten.« Die Eigentümerin des Autos, wie ihrer gesamten Habe abgesehen von ihren persönlichsten Dingen, war in Wirklichkeit...


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Autor

Andrea Barrett, geboren 1954 in Boston, wuchs in Cape Cod, Massachusetts, auf und studierte Zoologie. Nach ihrem Studium wandte sie sich dem Schreiben zu und wurde seither mehrfach für ihre Werke ausgezeichnet, u. a. mit dem National Book Award für ihren Erzählband Schiffsfieber, dem MacArthur Fellowship und dem Rea Award for the Short Story. Sie lehrt Kreatives Schreiben am Williams College und am Warren Wilson College und lebt in North Adams, Massachusetts.

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