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Schiffsfieber

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am12.07.2022
Der junge Mendel streift durch seine Erbsenpflanzung, ein verwunschener Ort, in dem er das Geheimnis der Erblehre lüften wird und doch bald selbst nicht mehr daran glaubt. Zwei Frauen stellen sich gegen zähe Vorurteile und zweifeln die Lehrmeinungen an. Der alte Carl von Linné hat der Natur eine taxonomische Ordnung übergestreift, doch der Name seiner Tochter entschwindet im Nebel. Das heisere Gezänk nistender Möwen, nachtschwarze Jaguare, Vögel ohne Füße und der Zauber der Chemie befeuern die glühende Faszination an der Natur, den Drang, forschend die Welt zu erfassen. Andrea Barrett erzählt vom versteckten Preis hinter umwälzenden Erkenntnissen, von brennenden Zweifeln und dem, was bleibt, wenn es still wird.

Andrea Barrett, geboren 1954 in Boston, wuchs in Cape Cod, Massachusetts, auf und studierte Zoologie. Nach ihrem Studium wandte sie sich dem Schreiben zu und wurde seither mehrfach für ihre Werke ausgezeichnet, u. a. mit dem National Book Award für ihren Erzählband Schiffsfieber, dem MacArthur Fellowship und dem Rea Award for the Short Story. Sie lehrt Kreatives Schreiben am Williams College und am Warren Wilson College und lebt in North Adams, Massachusetts.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR15,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99

Produkt

KlappentextDer junge Mendel streift durch seine Erbsenpflanzung, ein verwunschener Ort, in dem er das Geheimnis der Erblehre lüften wird und doch bald selbst nicht mehr daran glaubt. Zwei Frauen stellen sich gegen zähe Vorurteile und zweifeln die Lehrmeinungen an. Der alte Carl von Linné hat der Natur eine taxonomische Ordnung übergestreift, doch der Name seiner Tochter entschwindet im Nebel. Das heisere Gezänk nistender Möwen, nachtschwarze Jaguare, Vögel ohne Füße und der Zauber der Chemie befeuern die glühende Faszination an der Natur, den Drang, forschend die Welt zu erfassen. Andrea Barrett erzählt vom versteckten Preis hinter umwälzenden Erkenntnissen, von brennenden Zweifeln und dem, was bleibt, wenn es still wird.

Andrea Barrett, geboren 1954 in Boston, wuchs in Cape Cod, Massachusetts, auf und studierte Zoologie. Nach ihrem Studium wandte sie sich dem Schreiben zu und wurde seither mehrfach für ihre Werke ausgezeichnet, u. a. mit dem National Book Award für ihren Erzählband Schiffsfieber, dem MacArthur Fellowship und dem Rea Award for the Short Story. Sie lehrt Kreatives Schreiben am Williams College und am Warren Wilson College und lebt in North Adams, Massachusetts.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293311275
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum12.07.2022
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2437 Kbytes
Artikel-Nr.9854734
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe




Habichtskraut


Dreißig Jahre lang, bis zu seiner Pensionierung, stellte mein Mann sich jedes Jahr im Herbst vor sein Genetikseminar für Fortgeschrittene und teilte Kopien von Mendels berühmtem Aufsatz über die Kreuzung von Gartenerbsen aus. Die Abhandlung sei von mustergültiger Klarheit, erklärte Richard seinen Studenten. Der Inbegriff dessen, wonach die Wissenschaft strebe.

Richard schritt vor der Tafel auf und ab und sprach frei und ungezwungen. Er war wie der Evolutionsforscher Robert Chambers mit einem sechsten Finger geboren und war sich seiner linken Hand mit der Operationsnarbe aus Kindertagen, als man ihm den überzähligen Finger entfernt hatte, immer noch unangenehm bewusst. Deshalb benutzte er, obwohl er mit ausladenden Gesten sprach, stets nur die rechte Hand und ließ die linke in der Hosentasche. Von der Rückseite des Raumes, wo ich jedes Jahr im Herbst saß, um mir diese Vorlesung anzuhören, konnte ich die Studenten beobachten.

Nachdem Richard die Abhandlung ausgeteilt hatte, erzählte er zunächst Gregor Mendels Lebensgeschichte in der konventionellen Form. Mendel, berichtete er, sei in einem Dörfchen im äußersten Nordwesten von Mähren aufgewachsen, das damals noch zum Habsburgischen Reich gehörte und später zur Tschechoslowakei. Mit einundzwanzig Jahren, als armer, bildungshungriger Mann, trat er in der Hauptstadt Brünn, dem heutigen Brno, in ein Augustinerkloster ein. Er absolvierte ein naturwissenschaftliches Studium und unterrichtete nach dem Examen an einer Oberschule der Stadt. 1856, im Alter von vierunddreißig Jahren, nahm er seine Versuche über Pflanzenhybriden auf, indem er Gartenerbsen künstlich befruchtete. Als Labor diente ihm ein kleines Beet an der Klostermauer.

Im Laufe der folgenden acht Jahre führte Mendel Hunderte von Experimenten mit Tausenden von Pflanzen durch und verfolgte die Muster, nach denen ihre Merkmale durch die Generationen weitergereicht wurden. Hochwüchsige und kleine Pflanzen mit weißen und lila Blüten; runzlige oder glatte Samen; Schoten, die sich um die Erbsen wölbten oder diese eng umhüllten. Er machte detaillierte Aufzeichnungen zu allen Kreuzungen und verwendete diese als Grundlage für die Abhandlung, welche die Studenten nun in Händen hielten. An einem klaren, kalten Abend des Jahres 1865 verlas er den ersten Teil dieser Abhandlung vor dem Kollegium des Naturforschenden Vereines zu Brünn, in dem er ebenfalls Mitglied war. Ungefähr vierzig Männer saßen im Publikum, einige wenige professionelle Wissenschaftler und zahlreiche engagierte Amateure. Mendel las eine Stunde lang, er beschrieb seine Experimente und die konstanten Muster der in seinen Hybriden auftretenden Merkmale. Einen Monat später, bei dem darauffolgenden Treffen des Kollegiums, stellte er die Theorie vor, die er zur Erklärung seiner Entdeckungen formuliert hatte.

Dort, in jenem kleinen überfüllten Raum, wurde die wissenschaftliche Genetik geboren, sagte mein Mann. Mendel habe nichts von Chromosomen oder Genen oder der DNS gewusst, aber er habe die Prinzipien entdeckt, mit deren Hilfe die Suche nach diesen Dingen möglich wurde.

»Hat man ihm applaudiert?«, pflegte Richard an diesem Punkt zu fragen. »Hat er jubelnde Zustimmung geerntet oder auch nur leisen Protest?« Eine rhetorische Frage; die Studenten wussten, dass er keine Antwort wollte.

»Nein, weder noch. Das Protokoll der Veranstaltung zeigt, dass keine Fragen gestellt wurden und es zu keiner Diskussion kam. Nicht ein Einziger unter den Anwesenden erkannte die Bedeutung dessen, was Mendel vorgestellt hatte. Als die Abhandlung ein Jahr darauf gedruckt wurde, fand sie keinerlei Echo.«

Die Studenten senkten ihre Blicke auf die ausgehändigten Aufsätze, und Richard kam rasch zum Ende seiner Erzählung, indem er schilderte, wie Mendel ins Kloster zurückkehrte und sich mit anderen Dingen beschäftigte. Er unterrichtete weiter und machte weitere Versuchsreihen; er züchtete Wein und Obstbäume und alle möglichen Blumen, und er hielt Bienen. Schließlich wurde er zum Prior seines Klosters gewählt, sodass er bis zu seinem Tod gänzlich von den Verwaltungsaufgaben in Anspruch genommen wurde. Erst 1900 wurde seine Abhandlung wieder entdeckt, und eine neue Generation von Wissenschaftlern erkannte endlich die Bedeutung seiner Arbeit.

Wenn Richard an diesen Punkt seines Vortrags kam, suchte er stets lächelnd meinen Blick hinten im Raum. Er wusste, dass ich wusste, was die Studenten am Ende des Semesters erwartete. Nachdem sie die Abhandlung gelesen und die Laborstunden überstanden hatten, in denen sie an in Reagenzgläsern gezüchteten Fruchtfliegen die Gesetze der Mendelschen Erblehre nachvollzogen, würde Richard ihnen die andere Geschichte von Mendel erzählen. Die Geschichte, die er durch mich kannte und die davon handelt, wie Mendel von einem herablassenden Wissenschaftlerkollegen und den Hybridformen des Habichtskrauts in die Irre geleitet wurde. Die Geschichte, in der seine Wissenschaft nicht nur ohne Anerkennung bleibt, sondern obendrein durch Einsamkeit und Sehnsucht verfälscht wird.

Ich hatte einen Grund, der Vorlesung jeden Herbst beizuwohnen, einen Grund, der sich nicht ausschließlich aus Pflichtbewusstsein und Eheweiblichkeit erklärt: Richard ist nicht derjenige, durch den Mendel in mein Leben getreten ist.

Als ich ein Kind war, zu Anfang der Weltwirtschaftskrise, arbeitete mein Großvater Anton Vaculik in einer Gärtnerei in Niskayuna nicht weit von Schenectady, wo Richard und ich bis heute wohnen. Es war nicht die einzige Arbeit, die mein Großvater gehabt hatte, aber es war die Stelle, die ihm von allen am meisten behagte. Er hatte Mähren 1891 verlassen und war mit seiner schwangeren Frau nach Bremen gereist. Von dort war er mit dem Schiff nach New York gefahren und mit einem weiteren Schiff nach Albany. Er hatte vorgehabt, bis in eine der großen tschechischen Ansiedlungen in Minnesota oder Wisconsin weiterzureisen, doch als meine Mutter sechs Wochen zu früh geboren wurde, ließ er sich stattdessen mit seiner Familie hier nieder. In der Gegend lebten ebenfalls einige tschechische Einwanderer, und einer von ihnen stellte meinen Großvater in seiner kleinen Fabrik zur Herstellung von Perlmuttknöpfen für Damenblusen ein.

Später, als er besser Englisch konnte, fand er die Stelle, in der er sich so wohlfühlte. Dort blieb er dreißig Jahre; er war so geschickt im Züchten von Pflanzen und Veredeln von Bäumen, dass die Besitzer der Gärtnerei ihn noch eine ganze Weile als Teilzeitkraft weiter beschäftigten, nachdem er schon längst das Pensionsalter überschritten hatte. Er hieß bei allen in der Gärtnerei nur Tony, wie es für amerikanische Ohren vertraut war. Bei mir hieß er Tati, als Abkürzung von tatínek, dem tschechischen Wort für Papa, mit dem meine Mutter ihn rief. Ich wurde nach ihm Antonia getauft. 

Wir mussten nie hungern, als ich klein war; es ging uns besser als vielen anderen, aber unser tägliches Leben war überall von Sparsamkeit bestimmt. Meine Mutter nahm Näharbeiten an, änderte Jacken und flickte Hosen; beim Bügeln hob sie die Aufschläge bis zuletzt auf, wenn das Eisen schon abkühlte, nachdem es ausgestöpselt war. Meinem Vater hatte man im Elektrizitätswerk den Lohn gekürzt, und meine älteren Brüder versuchten, zum Unterhalt beizutragen, indem sie sich allerlei kleine Arbeiten suchten. Ich war das einzige Familienmitglied, das nichts zu tun hatte, deshalb überließ mich meine Mutter an den Wochenenden und im Sommer manchmal Tati. Ich liebte es, für ihn arbeiten zu dürfen. 

In der Gärtnerei standen ganze Felder voller Obstbäume, Pfirsich- und Apfel- und Birnbäume, und lange niedrige Gewächshäuser voller Sämlinge. Ich heftete mich an Tatis Fersen und half ihm beim Umpflanzen oder bei der Arbeit mit seinem scharfen sichelförmigen Messer und dem Baumwachs. Ich setzte mich neben ihn auf einen hohen Holzhocker und hielt seine Pinzette oder das Glas mit vergälltem Spiritus, wenn er Blumen die Staubgefäße abnahm. Er erzählte, während er arbeitete, und so erfuhr ich von seiner ersten Zeit in Amerika.

Nur wenn sein neuer Chef auf der Bildfläche erschien, verstummte Tati regelmäßig, und sein Lächeln verflog. Der ehemalige Obergärtner Sheldon Hardy war unser Freund gewesen: Er war ungefähr so alt wie Tati und hatte jahrelang Seite an Seite mit ihm gearbeitet, Stecklinge gesetzt und Obstbäume veredelt. Doch 1931, in dem Jahr, als ich zehn war, erlitt Mr Hardy einen Herzinfarkt und zog zu seiner Tochter nach Ithaca. Kurz darauf wurde Otto Leiniger eingestellt und raubte uns fortan täglich einen Teil der Freude an unserer Arbeit.

Leiniger muss Ende fünfzig gewesen sein. Er beeilte sich sogleich, Tati zu erklären, dass er ein Magisterdiplom von einer Universität im Westen besitze. Und sein weißer Kittel sowie die Bücher in seinem Büro zeigten deutlich, dass er sich für einen Gelehrten hielt. Dort saß er hinter einem großen Eichenschreibtisch und verfasste mit einem eleganten Füllfederhalter, der einmal bessere Zeiten gesehen hatte, Listen mit Aufgaben für Tati. Leiniger war vorher der Direktor einer Baumschule gewesen. Diese Listen heftete er mit Reißzwecken an die Treibhaustische, wo sie sich in der feuchten Luft aufrollten wie Hobelspäne, und wenn wir in die Arbeit vertieft waren, kam er ins Treibhaus geschlendert und lungerte in unserer Nähe herum. Er beschwerte sich nicht über meine Anwesenheit, aber er behandelte Tati wie einen einfachen Arbeiter. Eines Tages erwischte er mich allein in einem Treibhaus voll kleiner Begonien,...


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Autor

Andrea Barrett, geboren 1954 in Boston, wuchs in Cape Cod, Massachusetts, auf und studierte Zoologie. Nach ihrem Studium wandte sie sich dem Schreiben zu und wurde seither mehrfach für ihre Werke ausgezeichnet, u. a. mit dem National Book Award für ihren Erzählband Schiffsfieber, dem MacArthur Fellowship und dem Rea Award for the Short Story. Sie lehrt Kreatives Schreiben am Williams College und am Warren Wilson College und lebt in North Adams, Massachusetts.

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