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Gegen Chancengleichheit

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
329 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am26.09.2022Deutsche Erstausgabe
Freiheit und Gleichheit waren lange gleichrangige Ziele. Trotz anderslautender Lamentos steht Freiheit weiterhin hoch im Kurs, während kaum eine Partei radikale Maßnahmen zur Reduzierung der materiellen Ungleichheit im Programm hat. Der kleinste gemeinsame Nenner ist Chancengleichheit: In der Konkurrenz um knappe Ressourcen sollen alle an derselben Startlinie loslaufen. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung übersetzt sich das in Begriffe wie »Chancenbudget« und »Kinderchancenportal«.
Die Logik der Chancengleichheit ist die Ideologie einer Gesellschaft, die sich nur noch als Wettbewerb aller gegen alle denken kann. Ihre Basis, so César Rendueles, ist die Zunahme der Ungleichheit seit den achtziger Jahren. Dabei sind wir Menschen, zeigt der spanische Soziologe, eine ausgesprochen egalitäre Spezies. Allerdings beruht Gleichheit auf einem entsprechenden Ethos und Institutionen wie dem Wohlfahrtsstaat. Wollen wir diese wiederherstellen, müssen wir begreifen, dass es um eine Gleichheit der Ergebnisse geht, dass dieser Kampf nie abgeschlossen sein wird - und dass wir ihn nur gemeinsam gewinnen können.


César Rendueles, geboren 1975 in Girona, lehrt Soziologie an der Universidad Complutense de Madrid.
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Verfügbare Formate
BuchKartoniert, Paperback
EUR20,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextFreiheit und Gleichheit waren lange gleichrangige Ziele. Trotz anderslautender Lamentos steht Freiheit weiterhin hoch im Kurs, während kaum eine Partei radikale Maßnahmen zur Reduzierung der materiellen Ungleichheit im Programm hat. Der kleinste gemeinsame Nenner ist Chancengleichheit: In der Konkurrenz um knappe Ressourcen sollen alle an derselben Startlinie loslaufen. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung übersetzt sich das in Begriffe wie »Chancenbudget« und »Kinderchancenportal«.
Die Logik der Chancengleichheit ist die Ideologie einer Gesellschaft, die sich nur noch als Wettbewerb aller gegen alle denken kann. Ihre Basis, so César Rendueles, ist die Zunahme der Ungleichheit seit den achtziger Jahren. Dabei sind wir Menschen, zeigt der spanische Soziologe, eine ausgesprochen egalitäre Spezies. Allerdings beruht Gleichheit auf einem entsprechenden Ethos und Institutionen wie dem Wohlfahrtsstaat. Wollen wir diese wiederherstellen, müssen wir begreifen, dass es um eine Gleichheit der Ergebnisse geht, dass dieser Kampf nie abgeschlossen sein wird - und dass wir ihn nur gemeinsam gewinnen können.


César Rendueles, geboren 1975 in Girona, lehrt Soziologie an der Universidad Complutense de Madrid.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518774762
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum26.09.2022
AuflageDeutsche Erstausgabe
Seiten329 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.9096110
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



7Einleitung: Das Trauma der Ungleichheit


Verglichen mit anderen Gesellschaften, verbringen Eltern im Westen viel Zeit damit, mit ihren Babys zu sprechen. Sie fördern das Brabbeln der Kinder, indem sie ihre Laute wiederholen, sie reden Babysprache und imitieren dabei den Tonfall der Kleinen. Diese Praxis ist so verbreitet, dass sie Eingang in die Untersuchungen der Kinderärzte gefunden hat, die von den Eltern wissen wollen, ob diese auch genug mit ihrem Nachwuchs sprechen, und die Ergebnisse danach beurteilen, wie viele Wörter die Kinder kennen und wiederholen können. Diese kommunikative Anstrengung war insofern erfolgreich, als die Kinder im Westen früher sprechen lernen als anderswo in der Welt. Aber insofern auch absolut überflüssig, als die Angehörigen anderer Gesellschaften genauso gut sprechen lernen wie wir.

Ganz allgemein illustriert die Obsession mit der frühkindlichen Förderung das Verständnis von Sozialisationsprozessen, wie es sich in den letzten Jahrzehnten in westlichen Ländern durchgesetzt hat. Wir sind fast alle davon überzeugt, dass die Erfahrungen, die wir in der frühen Kindheit sammeln und für die fast ausschließlich die Eltern der Kernfamilie verantwortlich sind, unauslöschliche Spuren in unserer Persönlichkeit hinterlassen - auch wenn wir uns später nicht an diese Erfahrungen erinnern. Eine Flut an wissenschaftlich nicht besonders rigoroser Literatur flößt uns Angst vor Fehlentwicklungen ein, zu 8denen es kommen kann, wenn wir nicht genug Energie in die Förderung der geistigen und emotionalen Fähigkeiten von unseren Kindern investieren, die noch nicht stehen können und ohne jeden Einwand akzeptieren, dass ein magisches Nagetier nachts unter ihr Kissen kriecht, um Geschenke gegen ausgefallene Milchzähne zu tauschen.[1]  Hingegen waren viele Gesellschaften früher möglicherweise ganz zu Recht der Ansicht, dass die Kindheit eine eher unwichtige Phase in der Persönlichkeitsentwicklung darstellt. Die Entscheidungen, die uns als Menschen prägen, finden in der Pubertät statt, im Übergang zum Erwachsenenalter. Es gibt ein ganzes und sehr interessantes Subgenre der Literatur, das sich mit diesem Thema beschäftigt: den Bildungsroman.[2]  In solchen Werken wird beschrieben, wie ein Jugendlicher Lernprozesse durchläuft und Erfahrungen sammelt, die seinen Charakter formen, sein Schicksal beeinflussen und durch die er die Kindheit wie bei einer Häutung abstreift. Eventuell ist es symptomatisch für unsere Epoche, dass dieser Prozess in der Literatur, im Kino und in Fernsehserien auf die Schilderung erwachender Sexualität reduziert wird.

Im selben Maße, wie wir davon überzeugt sind, dass Eltern durch ihr Verhalten die Zukunft ihres Nachwuchses formen, unterschätzen wir systematisch, welche Folgen die Sozialisation unter Gleichaltrigen für Kinder hat. 9Wahrscheinlich ist der Einfluss, den die Eltern auf die Persönlichkeit ihrer Sprösslinge nehmen, viel geringer, als wir meinen. Erstens aus dem Grund, dass genetische Vererbung - auch wenn uns das als fortschrittliche Menschen skandalös erscheinen mag - sehr wohl von Bedeutung ist. Möglicherweise sind aggressive Kinder nicht allein deshalb aggressiv, weil sie in einer konfliktreichen sozialen Umgebung aufgewachsen sind, sondern einfach auch deshalb, weil sie als Kinder aggressiver Menschen geboren wurden. Zweitens gibt es in Beziehungen wechselseitige Einflüsse: Die Kinder erziehen auch uns. Wir Erwachsenen sehen uns selbst gerne als vollendete Stücke einer Art individueller Goldschmiedekunst. Tatsächlich jedoch übt die soziale Interaktion das ganze Leben lang eine Wirkung auf uns aus, und der Kontakt mit den Kindern verändert uns genauso wie sie. Der Sozialtheoretiker Jon Elster erzählt dazu folgenden Witz: » Mit Dani muss man Geduld haben, er kommt aus einer kaputten Familie , sagt ein Lehrer zu seinen Kollegen. Das glaube ich gerne , antwortet ein anderer, Dani kann alles kaputt machen. «

Drittens gibt es Peergroups, und Kinder beeinflussen sich auch untereinander. Eltern und Lehrer können das Verhalten der Kinder in ihrer Anwesenheit formen, aber mehr auch nicht. Eltern können vor allem einige Merkmale jener Kinder auswählen, mit denen ihr Nachwuchs zu tun hat: die Nachbarschaft, die Schule, das soziale Umfeld etc. Darüber hinaus sind Kinder aber sehr aktive Akteure ihrer eigenen Sozialisation. Sie nehmen nicht nur Inputs von außen auf, sondern bringen sie energisch, mit 10gelegentlich beunruhigenden Resultaten und trotz gegenteiliger Anstrengungen von Angehörigen und Lehrern selbst hervor. Deshalb reproduzieren sie in ihren Spielen bestimmte Normen und Konventionen, obwohl sie in ihrem unmittelbaren Umfeld über Gegenbeispiele verfügen. Die Psychologin Judith Rich Harris schildert den Fall eines Mädchens, das beim Puppenspielen zu ihrer Freundin sagt: »Mädchen können keine Ärzte werden, nur Krankenschwestern.« Dabei arbeitete ihre eigene Mutter als Ärztin in einem Krankenhaus.[3] 

Im Allgemeinen tendieren wir dazu, den Einfluss unserer Mitmenschen auf unser Verhalten zu unterschätzen. Doch die Beziehung zu Peergroups hat sehr starke Auswirkungen auf uns. Harris erwähnt eine Untersuchung der Soziologin Anne-Marie Ambert, die ihre Studierenden aufforderte, sich an ihr voruniversitäres Leben zu erinnern. Eine ihrer Fragen lautete: »Was macht dich ganz besonders unglücklich?« Im Gegensatz zur Hollywood-Mythologie, laut der beispielsweise die Abwesenheit von Vätern bei Baseballspielen ihrer Söhne schlimme Folgen haben soll, nannten nur 9 Prozent der Befragten Ablehnung oder Vernachlässigung durch ihre Eltern. 37 Prozent hingegen verwiesen auf negative Erfahrungen mit Gleichaltrigen, die sie dauerhaft verunsichert hätten.

Möglicherweise sind Kränkungen unter Gleichen deshalb besonders verletzend, weil die Ungleichheit selbst er11niedrigend ist. Nur ein gewaltiger Fetischismus erlaubt es uns, diese tief in unseren Körpern verankerte Realität zu ignorieren. Die Ungleichheit ist für eine erschütternde Zahl beschädigter Lebensläufe und kollektiver Dilemmata verantwortlich. Gleichheit ist nicht in erster Linie die Voraussetzung für irgendetwas anderes - für persönlichen Erfolg, Rechtsstaatlichkeit etc. -, sondern ein Ziel an sich, weil sie eine der Grundlagen unseres gemeinsamen Lebens darstellt. Die Gleichheit gehört zu den biologischen und kulturellen Fundamenten der menschlichen Soziabilität, unseres Vermögens und Bedürfnisses, zusammen zu leben. Die Ablehnung der Ungleichheit und die kollektive Missbilligung mächtiger Individuen sind tief in unserer Evolutionsgeschichte verwurzelt: Wir sind sehr viel weniger hierarchische Tiere als andere Primaten. Zudem zeigt die historische Erfahrung, dass wachsende Ungleichheit mit gesellschaftlichem Zerfall, einem Verlust an Solidarität und der Zunahme kollektiven Misstrauens verknüpft ist. Die Ungleichheit zerstört die sozialen Bindungen, die für jedes Projekt eines guten Lebens unverzichtbar sind.

Dieses Buch will diese These - der zentralen sozialen, kulturellen und ethischen Bedeutung der Gleichheit - aus der Perspektive aktueller emanzipatorischer Bewegungen vertiefen. Gleichheit ist gleichermaßen eine Voraussetzung für die soziale Organisation der menschlichen Spezies als auch für unsere individuelle persönliche Entwicklung und Autonomie. Der Psychoanalytiker Donald Winnicott definiert das Trauma - ein trotz seiner häufigen Verwendung recht schwammiger Begriff - als »Riss in der Konti12nuität des Seins«. Die allgemeine Ungleichheit unserer Gesellschaften ist ein kollektives Trauma, ein gesellschaftlicher Riss, der sich auf unsere Fähigkeit auswirkt, Beziehungen zu anderen zu knüpfen, und der erschreckende politische und persönliche Folgen hat. Trotzdem nimmt die materielle Gleichheit in politischen Projekten der Gegenwart lediglich eine marginale oder zumindest nicht besonders zentrale Stellung ein. Nur zwei Aspekte des egalitären Projekts sind gesellschaftlich mehr oder weniger akzeptiert: die Chancengleichheit sowie die moralische Empörung über extreme Ungleichheit und Armut. Bei der Chancengleichheit handelt es sich meiner Ansicht nach jedoch um eine meritokratische Perversion des Egalitarismus; die Empörung ist folgenlos oder führt zumindest nicht sonderlich weit. In den ersten drei Kapiteln werde ich versuchen, die Grundzüge eines konsequenten Egalitarismus zu skizzieren, um dann im weiteren Verlauf...

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