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Die Frau am Strand

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
576 Seiten
Deutsch
Frankfurter Verlagsanstalterschienen am10.03.2022
Als Liz von ihrer Nichte nach der Familiengeschichte ausgefragt wird, löst das eine wahre Kettenreaktion aus. Mit Hilfe von Dokumenten, Bildern, Briefen, Erbstücken und Erinnerungen macht sich Liz erstmals an die schriftliche Rekonstruktion vergangener Schicksale, Ende des 19. Jahrhunderts beginnend, und gerät dabei immer tiefer in ebenso ungeahnte wie abenteuerliche Lebensläufe. Große und kleine Katastrophen, zwei Welt- kriege, Scheidungen, Insolvenzen, Auswanderung und Tod führen die Figuren ihres Romans an Orte wie Gibraltar, Lissabon, Sylt, Spanien, Kalifornien, Riga, Palau, an den Monte Cassino und bis nach Finnland. Da ist ihre Großmutter Annie und deren Kindheit in den USA, geprägt durch den frühen Verlust der Eltern und die schmerzhafte Trennung vom geliebten Bruder, ihre Versuche als Malerin, die Bekanntschaft mit Ernst Ludwig Kirchner auf Fehmarn und mit dem spanischen Maler Sorolla, der ihr sein Gemälde »Die Frau am Strand« schenkt, ein Sinnbild ihres Lebens; und da ist Lena aus Riga, die ihre Ambitionen als Pianistin in einer norddeutschen Kleinstadt und einer schwierigen Ehe begraben muss. Und immer spielt dabei die Nähe des Meeres eine alles verbindende Rolle, und das Scheitern von Lebensentwürfen wird zum Auslöser neuer Perspektiven.

Christa Hein, geboren 1955 in Cuxhaven, veröffentlicht in deutscher und englischer Sprache. Sie lebt heute als freie Schriftstellerin und Dozentin in Berlin. Auf ihr erfolgreiches Debüt »Der Blick durch den Spiegel« (FVA 1998) folgten die Romane 'Scirocco« (FVA 2000), »Vom Rand der Welt« (FVA 2003) und zuletzt der Roman »Der Glasgarten« (FVA 2015). Die Autorin lebt in Berlin und in Cuxhaven.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR25,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextAls Liz von ihrer Nichte nach der Familiengeschichte ausgefragt wird, löst das eine wahre Kettenreaktion aus. Mit Hilfe von Dokumenten, Bildern, Briefen, Erbstücken und Erinnerungen macht sich Liz erstmals an die schriftliche Rekonstruktion vergangener Schicksale, Ende des 19. Jahrhunderts beginnend, und gerät dabei immer tiefer in ebenso ungeahnte wie abenteuerliche Lebensläufe. Große und kleine Katastrophen, zwei Welt- kriege, Scheidungen, Insolvenzen, Auswanderung und Tod führen die Figuren ihres Romans an Orte wie Gibraltar, Lissabon, Sylt, Spanien, Kalifornien, Riga, Palau, an den Monte Cassino und bis nach Finnland. Da ist ihre Großmutter Annie und deren Kindheit in den USA, geprägt durch den frühen Verlust der Eltern und die schmerzhafte Trennung vom geliebten Bruder, ihre Versuche als Malerin, die Bekanntschaft mit Ernst Ludwig Kirchner auf Fehmarn und mit dem spanischen Maler Sorolla, der ihr sein Gemälde »Die Frau am Strand« schenkt, ein Sinnbild ihres Lebens; und da ist Lena aus Riga, die ihre Ambitionen als Pianistin in einer norddeutschen Kleinstadt und einer schwierigen Ehe begraben muss. Und immer spielt dabei die Nähe des Meeres eine alles verbindende Rolle, und das Scheitern von Lebensentwürfen wird zum Auslöser neuer Perspektiven.

Christa Hein, geboren 1955 in Cuxhaven, veröffentlicht in deutscher und englischer Sprache. Sie lebt heute als freie Schriftstellerin und Dozentin in Berlin. Auf ihr erfolgreiches Debüt »Der Blick durch den Spiegel« (FVA 1998) folgten die Romane 'Scirocco« (FVA 2000), »Vom Rand der Welt« (FVA 2003) und zuletzt der Roman »Der Glasgarten« (FVA 2015). Die Autorin lebt in Berlin und in Cuxhaven.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783627023058
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum10.03.2022
Seiten576 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1500 Kbytes
Artikel-Nr.9114080
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



 

2

Sylt im Jahr 1888

Zwischen den Dünen führt ein schmaler Fußweg ans Meer. Darauf geht ein kräftiger junger Mann mit ausgreifenden Schritten voran. Seine weitgeschnittenen Hosen, sein blaues Hemd, das gelbe Halstuch flattern im Wind. Dicht hinter ihm ein Mädchen, schlank und groß, in einem langen roten Rock und einer schwarzen Samtjacke. Ihr volles dunkles Haar ist unter einer Kappe verborgen. Als die beiden den menschenleeren Strand erreichen, dreht der Mann sich nach ihr um und nimmt ihre Hand. Die Brandung schlägt weiß schäumend auf den Sand. Der Mann legt ihr seinen Arm um die Schultern. Schweigend starren sie aufs Meer, als könne von weit draußen plötzlich etwas Unbekanntes auftauchen.

»Genau hier war es, Inken, oder? Die Odde ist die gefährlichste Stelle der Insel. Bevor es um den südlichen Bogen zum Festland geht, ist die Strömung am stärksten. Jedes Jahr wird der Küstenschutz nachgebessert.«

Noch nie hat sie jemandem von dieser furchtbaren Stunde erzählt, von jenem Mittag im Mai vor über zehn Jahren, der ihr noch immer erscheint, als sei es erst gestern gewesen. Aber wem, wenn nicht Brar, soll sie sich anvertrauen. Ganz langsam, fast stammelnd, beginnt sie zu sprechen.

»Ich lief damals mit meiner Schwester Lene über das harte Gras zwischen den Dünen hindurch an den Strand, genau wie wir eben. Wir waren übermütig und ausgelassen. Das lag an dem Besuch unseres Lieblingsonkels, des jüngsten Bruders meiner Mutter. Sein weißblondes Haar stand ihm vom Kopf ab wie die Federn der Möwen im Sturm. Er war nach zwei Jahren auf See aus dem Südpazifik zurück. Seine Seekiste hatte er mitten in unsere Kammer gestellt, sie duftete wunderbar nach Zimt und Koriander. Er hatte Mutter Gewürze mitgebracht und uns Mädchen jedem ein kostbares indisches Tuch. Die eingewebten Goldfäden darin glänzten wie die Bahnen von Sternschnuppen. Wir trauten uns kaum, sie zu berühren. Schließlich falteten wir sie auseinander, hüllten uns darin ein und kamen uns vor wie Maharadschas. Danach wollten wir sie nicht mehr ablegen. Wir dachten, ein Teil von uns müsse verlorengehen. Auch an jenem Tag trugen wir die Tücher. Es war Sturm, das Wasser stand höher als normal. Bevor wir mit dem Muschelsuchen begannen, falteten wir unsere Tücher sorgsam zusammen, legten sie höher auf die Vordünen, wo Wellen und Wind nicht hinkamen, und beschwerten sie mit Steinen. Dann suchten wir nach Muscheln und Seegras, mit dem Mutter unsere Kissen ausstopft, entdeckten plötzlich einen Heuler, vom Meer angespült. Er lebte noch. Sein silbergraues Fell mit den schwarzen Punkten glänzte in der Sonne. Lene lief auf ihn zu. Er war ganz zutraulich und ließ sich sogar von ihr streicheln. Seine dunklen großen Augen hatten es Lene angetan. Sie war entzückt, als er ihr mit seinen kleinen Flossen nachkroch, wenn sie sich nach Muscheln bückte. Sie taufte ihn Boyboy. Als sie versuchte, ihn auf den Arm zu nehmen, entwischte er ihr, schwamm ins tiefere Wasser, tauchte und kam wieder zurück. Wir spielten mit ihm in den auslaufenden Wellen. Plötzlich schwamm er weiter hinaus. Lene lief ihm nach. Ich schrie ihr zu, sie solle sofort umkehren, aber sie hörte nichts. Sie versuchte, ihn einzuholen, doch in der starken Brandung war das unmöglich. Ich lief hinterher, wollte sie zurückholen, aber der weiche Sand gab nach unter meinen Füßen. In diesem Moment sah ich sie kommen: eine besonders große Welle, die sich direkt vor Engellene auftürmte, gar nicht weit von mir. Sie riss meine Schwester um und drückte sie unter Wasser. Als sie endlich wieder auftauchte, war sie schon ein weites Stück hinausgezogen worden. Ich kämpfte mich durch die Brandung, zurück an Land, um Hilfe zu holen. Als ich mich wieder umsah, trieb Engellene bereits weit draußen. Immer noch sehe ich ihr Gesicht, ihre Augen. Sie blickten verwundert, wie die Augen von Boyboy. Man fand ihre Leiche später an einem Strand in Dänemark.«

»Wie alt war sie?«

Die nüchterne Frage Brars lässt Inken die Fassung verlieren. Sie bricht in Tränen aus. »Sieben. Sie war ein Jahr jünger als ich. Oft kommt es mir vor, als sei es gerade erst geschehen.«

»Ich verstehe deine Traurigkeit, aber all das ist über zehn Jahre her, Inken, und du kannst nichts mehr daran ändern. Quäle dich nicht mehr damit. Du musst auch vergessen lernen. Engellene würde es nicht anders wollen. Um ihretwillen musst du lernen, wieder froh in die Zukunft zu sehen.«

»Ich habe mich immer schuldig gefühlt an ihrem Tod. Wie oft habe ich in meinen Gebeten gewünscht, dass ich an ihrer Stelle fortgetrieben wäre. Sie war so fröhlich, so ein hübsches Mädchen.«

»Du hast getan, was du konntest. Ihr wart Kinder. Dich trifft keine Schuld. Das Meer hier ist gefährlich und unberechenbar, unter den anrollenden Wellen zieht unsichtbar eine starke Strömung nach draußen. Keiner kann dagegen ankommen. Auch Männer hätten nichts ausrichten können.«

Er streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Inken, meine Liebe. Wir wollen uns zusammentun und glücklich werden, wir wollen Kinder haben.«

Inken windet sich aus seiner Umarmung und tritt einen Schritt vor ihn. »Ich warne dich, Brar. Unsere Familie ist mit einem Fluch beladen. Unser Vater kam auf See um, genau wie sein Vater und davor schon dessen Vater. Und dann Engellene. Ich hätte Angst, auf dieser Insel ein Kind zur Welt zu bringen. Ihm scheint das Schicksal doch vorherbestimmt.«

Brar schüttelt sie, um sie aus ihrer Starre zu lösen. »Du hast ja recht. Man nennt unsere Heimat nicht ohne Grund die Inseln der Witwen und Waisen. Was deiner Familie passiert ist, ist doch hundertfach geschehen. Wie viele Grönlandfahrer sind nach monatelanger gefährlicher Reise wohlbehalten zurückgekehrt, um dann hier vor den Inseln, in Sichtweite der Heimat, auf den Sandbänken unterzugehen. Es gibt kaum eine Familie, die nicht von solchem Schicksal erzählen kann.« Es tut ihr gut, Brars Stimme zu hören. »Lass uns von hier fortgehen, Inken. Ich denke schon lange, dies ist nicht der richtige Ort für uns. Ich kann hier nie etwas Größeres werden ohne Grund und Boden, ohne eine gute Ausbildung; meine Arbeit im Gästehaus in Westerland vergangenen Sommer hat mir die Augen geöffnet. Ich war nichts als ein Sklave. Dabei fühle ich mich stark und weiß, dass ich vieles erreichen kann.«

Er zieht sie an sich und dreht sich so, dass Inken in seinen Windschatten kommt. »Der Wind weht aus Westen. Ich spüre ihn im Rücken. Er wird uns nicht abhalten. Wir werden ihm entgegengehen. Nach Amerika. Dort haben wir eine Chance.«

Während er redet, sieht er, wie ihr Blick durch ihn hindurchgeht, als wäre er Luft. »Was ist? Was siehst du mich so seltsam an? Was hast du, Mädchen?«

»An jenem Unglückstag hatte ich furchtbare Angst, nach Haus zu gehen. Angst vor Mutters Vorwürfen. Aber sie blieb erschreckend ruhig. Stumm nahm sie mich in die Arme so wie jetzt du. Ich glaube, sie wusste bereits alles. Man hat mir erzählt, sie habe im Garten Kartoffeln ausgegraben. Plötzlich habe sie den Spaten beiseitegeworfen und sei an den Zaun gelaufen, der in Richtung See liegt. Im nächsten Moment habe sie immer wieder Engellenes Namen gerufen. Es war in den Minuten ihres Todes. Und es war wie damals bei Vater. Wir standen nebeneinander in der Küche, ich schürte das Feuer im Herd, als Mutter plötzlich mitten in der Bewegung innehielt, die Hände nach oben hob und rief: John! Mehrmals hintereinander: John! Ihr Gesicht war kreideweiß, danach sprach sie mit niemandem. Als eine Weile später der Nachbar an die Tür klopfte, den Hut in der Hand und mit einer fürchterlichen Miene, wusste ich: Vater war tot.«

Brar dreht sich um und hält Inken dabei weiter fest. Dann dreht er auch sie, so dass der Sturm beiden ins Gesicht bläst. Sein Mund an ihrem Ohr ruft er in dem tosenden Lärm: »Inken, das sind Spökenkiekereien. Es nützt nichts, dass du über die Vergangenheit grübelst. Sieh her.« Er hebt seine Hände mit ausgestreckten Zeigefingern. Dann führt er sie nach unten, mit beiden Fingern vor sich auf den Boden weisend: »Das hier ist die Gegenwart! Und das«, er hebt die Hände, bis die Finger zum Horizont zeigen, »das dort ist die Zukunft. Das Einzige, was für uns beide zählt. Weißt du, was die Chinesen sagen? Das Menschenleben ist nur ein Morgenfrost auf den Dachziegeln. Diese kurze Spanne, die man hat, die muss man nutzen! Alles, was man selbst erwirbt, das bleibt einem für immer. Das Gefühl, es aus eigener Kraft geschafft zu haben, kann einem niemand nehmen, auch wenn die Zeiten sich ändern.«

Sie verlassen den Strand Arm in Arm. In einer windgeschützten Mulde hält Brar an. Die Sonne lässt das harte Dünengras um sie her aufblitzen wie kleine Schwerter, dumpf ist das Brechen der Wellen zu vernehmen. Er zieht Inken nah zu sich heran, sie legt den Kopf in den Nacken, und sie küssen sich leidenschaftlich. »Inken«, flüstert Brar. »Geh mit mir fort.«

Sie erwidert nichts, er löst schließlich seine Umarmung. Noch einmal setzt er an: »Zu was kann ich es hier denn bringen? Kapitän kann ich nie werden als unehelicher Sohn einer armen Mutter. Sie lebte nicht umsonst allein außerhalb von Keitum in einer kleinen Kate, die der Gemeinde gehörte. Ich war ihr ganzes Glück, obwohl sich viele im Dorf das Maul zerrissen haben über uns. Sie ist dennoch in Frieden gestorben. Für mich ist jetzt der Weg frei. Sie braucht nicht mehr zu erleben, dass ich diese Insel verlasse.«

»Und was ist mit mir?«

»Du musst mit mir kommen. Gerade deinetwegen kann ich mich nicht kleiner machen, als ich bin. Du als Allererste würdest mich nicht wollen als Knecht oder Matrose oder Laufbursche für die Badegäste. Ich...

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Autor

Christa Hein, geboren 1955 in Cuxhaven, veröffentlicht in deutscher und englischer Sprache. Sie lebt heute als freie Schriftstellerin und Dozentin in Berlin. Auf ihr erfolgreiches Debüt »Der Blick durch den Spiegel« (FVA 1998) folgten die Romane "Scirocco« (FVA 2000), »Vom Rand der Welt« (FVA 2003) und zuletzt der Roman »Der Glasgarten« (FVA 2015). Die Autorin lebt in Berlin und in Cuxhaven.

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