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Schlichte Wut

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
352 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am18.10.20221. Auflage
Die piemontesischen Commissari Bramard und Arcadipane stehen vor einem ungewöhnlichen Fall: Ein vorbestrafter Junge wird verdächtigt, in der Turiner U-Bahn eine kolumbianische Immigrantin niedergeschlagen zu haben. Es gibt Aufnahmen von Überwachungskameras, die ihn am Tatort zeigen. Alles spricht für ihn als Täter, nur Commissario Arcadipane riecht, dass hier etwas nicht stimmt. Er holt sich Rat bei seinem ehemaligen Kollegen Corso Bramard. Die beiden sind ein unschlagbares Team. Die Spur führt zu einem sinistren Online-Spiel, in dem jemand junge Menschen dazu bringt, verbotene Dinge zu tun. Schreckliche Dinge. So weit der Fall. Aber da sind auch noch die familiären Umstände. Mit kühler Präzision beschreibt Longo die Melancholie einer Männergeneration, die es nicht hingekriegt hat, Beruf und Familie zu vereinen, nun die Rechnung dafür bekommt und nachzudenken beginnt. Alles eingetaucht in die einzigartige Longo-Stimmung, in piemontesische Regentage voller Tristesse und Poesie. 

Davide Longo, 1971 in Carmagnola im Piemont geboren, lebt in Turin, wo er am Literaturinstitut Scuola Holden unterrichtet. Er schreibt Prosa, Hörspiele und Drehbu?cher und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Premio Grinzane Cavour, dem Prix Le Point für den besten europäischen Kriminalroman 2024 und dem Premio Via Po. Aus seiner international gefeierten Krimireihe aus dem Piemont erschienen bisher: «Der Fall Bramard», «Die jungen Bestien», «Schlichte Wut» sowie «Am Samstag wird abgerechnet».
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR23,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextDie piemontesischen Commissari Bramard und Arcadipane stehen vor einem ungewöhnlichen Fall: Ein vorbestrafter Junge wird verdächtigt, in der Turiner U-Bahn eine kolumbianische Immigrantin niedergeschlagen zu haben. Es gibt Aufnahmen von Überwachungskameras, die ihn am Tatort zeigen. Alles spricht für ihn als Täter, nur Commissario Arcadipane riecht, dass hier etwas nicht stimmt. Er holt sich Rat bei seinem ehemaligen Kollegen Corso Bramard. Die beiden sind ein unschlagbares Team. Die Spur führt zu einem sinistren Online-Spiel, in dem jemand junge Menschen dazu bringt, verbotene Dinge zu tun. Schreckliche Dinge. So weit der Fall. Aber da sind auch noch die familiären Umstände. Mit kühler Präzision beschreibt Longo die Melancholie einer Männergeneration, die es nicht hingekriegt hat, Beruf und Familie zu vereinen, nun die Rechnung dafür bekommt und nachzudenken beginnt. Alles eingetaucht in die einzigartige Longo-Stimmung, in piemontesische Regentage voller Tristesse und Poesie. 

Davide Longo, 1971 in Carmagnola im Piemont geboren, lebt in Turin, wo er am Literaturinstitut Scuola Holden unterrichtet. Er schreibt Prosa, Hörspiele und Drehbu?cher und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Premio Grinzane Cavour, dem Prix Le Point für den besten europäischen Kriminalroman 2024 und dem Premio Via Po. Aus seiner international gefeierten Krimireihe aus dem Piemont erschienen bisher: «Der Fall Bramard», «Die jungen Bestien», «Schlichte Wut» sowie «Am Samstag wird abgerechnet».
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644012134
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum18.10.2022
Auflage1. Auflage
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse7770 Kbytes
Artikel-Nr.9140999
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1.

Arcadipane schiebt den Dienstausweis und eine Zwanzig-Cent-Münze beiseite und ertastet endlich das letzte der Lakritzbonbons, die er am Tag zuvor bei Elsa gekauft hat. Behutsam zieht er es heraus, streift die Flusen vom Grund der Tasche ab, steckt es sich in den Mund und wartet auf den Moment, in dem die Zuckerkristalle an der Oberfläche zergehen und das Lakritz mit Orangenöl Wirklichkeit wird. Eine Sache von drei Sekunden, dann steigt er aus, schließt seinen Alfa 33 ab und geht quer über den Hof auf die Glastür zu, die auf höheren Befehl im letzten Monat angebracht wurde.

Auf dem Betonsockel markiert eine aufgeklebte Linie die Stelle, an der die Überwachungskamera das Bild aufzeichnet und sich die Tür öffnet. Arcadipane steht da und wartet. Nichts.

«Verdammt.»

Er macht einen Schritt vorwärts. Nichts. Einen Schritt rückwärts. Nichts: Das Teil starrt ihn weiterhin mit seinem roten Auge von oben an, gleichgültig gegenüber seinen einen Meter und achtundsechzig mal neunundachtzig Kilo. Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr, sechzehn Uhr und drei Minuten, während ein letzter Sonnenstrahl in den Hof fällt und in die zwei Meter Vorzimmer dringt.

«Aber da soll doch einer ...»

Er drückt das Gesicht an die Scheibe, wobei er sein Spiegelbild ignoriert, das verschwitzte Gesicht, die schlecht rasierten Wangen, die wenigen und zerrauften Haare, die in ihren urzeitlichen Höhlen versunkenen Augen. Fratamico thront in der Pförtnerloge wie das Jesuskind in seinen Windeln, den Kopf über den Computer gebeugt, bestimmt in seine Geschäfte mit Aquarien, Heizstäben und Wasserschildkröten vertieft.

«Scheißding ...»

Arcadipane schaut zu den Fenstern hoch, die auf den Hof gehen. Niemand. Scheinbar. Aber wie viele hat er sich in den letzten Wochen unter dieser Überwachungskamera winden sehen, begleitet vom Grinsen der Kollegen hinter den Jalousien? Es gibt sogar ein Video, das jemand auf YouTube gestellt hat. Erst recht, wenn der Gelackmeierte dieser Arsch ist, der dir anschafft, geh hierhin, geh dorthin, mach den Bericht fertig, wie konntest du das nur vergessen ... Ein gefundenes Fressen.

Er holt das Handy aus der Tasche und hält es unter die Überwachungskamera, tut so, als würde er eine Netzverbindung suchen. Nichts.

«Verdammt noch mal ...»

Jetzt, sagt sich Arcadipane, schieße ich auf dieses Dingsda, geh rauf ins Büro und unterschreibe, dass an seiner Stelle ein Rollladen angebracht wird, eine Toiletten-Falttür, eine Schwingtür, ein ... Die Tür öffnet sich.

In der Eingangshalle empfängt ihn der ungesunde Geruch von öffentlichen Gebäuden in der Übergangszeit: ein paar Heizkörper, die wer weiß warum noch an sind, billige Putzmittel, abgestandene Luft, Kaffee aus dem Automaten und Schuhsohlen.

«Ist sie nicht aufgegangen?», sagt Fratamico, den Finger noch auf dem roten Knopf für Öffnen.

«Was redest du denn da? Jeden Morgen stehe ich zehn Minuten vor der Tür, bis sich entscheidet, ob ich durchgelassen werde oder nicht! Sollten nicht die kommen, die sie montiert haben?»

«Sind sie auch. Und sind wieder gegangen», sagt Fratamico. «Ihrer Ansicht nach funktioniert das Teil millimetergenau. Man muss sich nur an den richtigen Punkt stellen.»

«Am besten schon drinnen, was?»

Fratamico sieht ihn an in Erwartung höherer Erleuchtung.

«Hör mal», befreit Arcadipane ihn von der Aufgabe, «lass sie offen. Es hat dreißig Grad hier.»

«Gewiss, Commissario. Immer offen.»

Arcadipane nimmt die Treppe, der Lift ist kaputt, geht durch den Flur, beantwortet die Grüße mit minimalistischer Gesichtsmimik, geradlinige zweiundfünfzig Meter beruhigende Heuchelei, dann erreicht er sein Büro, tritt ein und lässt die Tür offen. Ein Zeichen. Und tatsächlich kommt nach wenigen Sekunden Pedrelli, schließt die Tür hinter sich und setzt sich nicht, weil er sich nie setzt.

«Der Junge ist unten, Commissario. Wir haben ihn heute früh abgeholt, wie Sie gesagt haben.»

Arcadipane betrachtet den Mann, der seit zwanzig Jahren sein Vize ist: immer im Hemd, immer mit Scheitel, immer Piemontese, immer pünktlich, nie krankgeschrieben, immer anständig, immer altmodisch, immer nervig, immer, immer, was würde ich machen ohne ihn.

«Wie hat er reagiert?», fragt er.

«Er ist anstandslos mitgekommen. In der Wohnung war nur die Mutter. Sie weinte, aber nur ein wenig. Sie glaubt sicher, es geht um die übliche Drogendealerei.»

Arcadipane nimmt die Akte mit dem grünen Aktendeckel, die seit gestern spätabends auf seinem Schreibtisch liegt. Darauf steht in Druckbuchstaben U-BAHN, so wie jemand schreibt, der sich dabei nicht wohlfühlt. Also er.

«Erst schauen wir uns noch mal die Aufzeichnung an», sagt er und steht auf.

Diesmal grußlos gehen sie wieder durch den Flur, der vor sechs Jahren angelegt wurde, um die Büros nach amerikanischem Vorbild zu gestalten: nur durch eine Glasscheibe voneinander getrennt. Arcadipane schwerfällig wie ein Traktor, Pedrelli schmal und leicht wie ein Page. Zu ihrer Linken die Schreibtische der Kollegen, zwei oder drei pro Einheit: Die anderen sind draußen unterwegs, denn der Job des Polizisten wird zur Hälfte fürs Gehalt ausgeübt, zur Hälfte draußen.

Der Videovorführraum ist im Halbparterre. Francos Reich. Man braucht sich nicht anzumelden. Er ist immer da. Wenn er nicht an dem Material arbeitet, das ihm die Staatsanwälte rüberschieben, gestaltet er Videos von Hochzeiten, Firmungen, Rallyes und Fußballspielen. Damit verdient er sich was dazu, und niemand hat etwas dagegen einzuwenden, denn er macht seine Sache gut, ist pünktlich und entgegenkommend. Das bisschen Strom und die Abnutzung der Geräte werden den Staat schon nicht ruinieren.

Er sitzt am Bildschirm. Rötliche Haare und jungenhaftes Aussehen, auch wenn er sechsunddreißig Jahre alt ist, zwei Kinder hat, einen Abschluss in Informatik und so viel Verstand, dass er keine Karriere machen will.

Arcadipane setzt sich auf den Drehstuhl.

«Kann ich sie noch mal sehen?»

Franco klickt, und die Aufnahme, die er auf dem Bildschirm parat hatte, startet. Oben im Bild erscheint ein Timer mit Datum und Uhrzeit. Es beginnt bei zweiundzwanzig Uhr sechzehn, die Sekunden laufen schnell, wie Sekunden das so an sich haben. Eine Gestalt erscheint oben an der Rolltreppe. Franco hält sie in der Bildschirmmitte fest.

«Das ist er in der U-Bahn-Station Lingotto.»

Arcadipane streckt den Kopf vor. Franco vergrößert das Bild.

«Noch größer wird´s unscharf», sagt er, «so ist es am besten.»

Arcadipane schiebt sein Gesicht noch weiter vor, dann zurück auf der Suche nach der richtigen Entfernung. Der Typ trägt eine Kittelbluse, die in der Taille von einem Gürtel gehalten ist, und Strandbermudas mit vielen Blumen. An den Füßen Militärstiefel. Und er zieht sich eine Maske über.

«Wegen der Maske seid ihr sicher?»

Franco legt die Finger auf eine kleinere Tastatur. Ein anderer Bildschirm, der bisher dunkel war, geht an. Da ist eine Maske zu sehen, weiß, Augen, Nase und Mund dunkel, die Gesichtszüge zu einer Grimasse verzerrt. Die Bilder haben eine sehr gute Auflösung.

«Das ist der Horrorfilm, in dem sie zum ersten Mal benutzt wurde, danach wurde sie in einer Reihe von schwachsinnigen Filmen wieder verwendet. Du findest sie im Netz, in Supermärkten, in Schreibwarengeschäften. Ich würde sagen, es kennt sie mehr oder weniger jeder.»

Arcadipane lehnt sich zurück, dreht sich nach rechts und links, wippt auf und ab.

«Okay, jetzt zeig mir, wie er rauskommt.»

Franco arbeitet an der Tastatur, bis anstelle des vorigen Bilds in der U-Bahn-Station ein anderes erscheint: derselbe Typ, die Maske auf, er fährt die Rolltreppe hinauf. Franco hält das Bild an. Er zeigt auf den Timer.

«Principe d´Acaja, das sind elf Stationen. Zehn Uhr achtunddreißig. Warte- und Fahrtzeit mitgerechnet, das passt», er vergrößert das Bild, «und das ist der Kimono. Der Name des Fitnessstudios ist gut zu erkennen.»

Arcadipane legt die Hände vor den Mund, als wollte er hineinblasen. Er starrt auf die dunkle Schrift auf dem hellen Stoff.

«Der Besitzer des Fitnessstudios?»

«Ein seriöser Typ», sagt Pedrelli, der hinter ihm stehen geblieben ist, «Meister alter Schule, im Milieu kennen ihn alle. Er sagt, der Junge kommt seit zwei Jahren. Er weiß von den Vorstrafen, aber im Studio benimmt er sich gut. Er hat auch Wettkämpfe gewonnen. Keine Probleme mit den Kollegen.»

«Haschisch? Marihuana?»

«Er dealt vor seiner alten Schule und vielleicht auch in der Diskothek, wo er arbeitet, aber im Studio anscheinend nicht.»

Arcadipane steht auf, streift Franco an der Schulter, was seine Art ist, sich zu bedanken, und geht hinaus.

Sie steigen die Treppe ein Stockwerk hinunter, dann noch eins. Alles schweigend, denn ein älterer Boxer und sein Assistent haben sich auf dem Weg von der Umkleide zum Ring nicht viel zu sagen. Arcadipane macht dem Wachposten ein Grußzeichen und tritt als Erster ein. Pedrelli hinter ihm.

Der Junge sitzt an dem Tisch in der Mitte des Zimmers, das quadratisch scheint, aber in der Breite fehlen sechzehn Zentimeter. Er ist achtzehn, die Haare an den Seiten rasiert, oben in der Mitte etwas Schopf. Das übliche Arschgesicht aus den Mietskasernen.

Arcadipane geht an den Tisch und legt die Aktenmappe darauf ab.

Der Junge scheint nicht dick, aber er trägt eine weite Jacke. Arcadipane schaut seine Handgelenke an und sieht, dass sie kräftig sind, solide Mechanik, Material, das nicht bricht. Der Hals ist schlank, aber sehnig. Er stellt ihn sich...
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Autor

Davide Longo, 1971 in Carmagnola im Piemont geboren, lebt in Turin, wo er am Literaturinstitut Scuola Holden unterrichtet. Er schreibt Prosa, Hörspiele und Drehbücher und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Premio Grinzane Cavour, dem Prix Le Point für den besten europäischen Kriminalroman 2024 und dem Premio Via Po. Aus seiner international gefeierten Krimireihe aus dem Piemont erschienen bisher: «Der Fall Bramard», «Die jungen Bestien», «Schlichte Wut» sowie «Am Samstag wird abgerechnet».Barbara Kleiner, geboren 1952, lebt in München. Übersetzerin u.a. von Primo Levi, Ippolito Nievo, Italo Svevo, Paolo Giordano, Davide Longo; ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW, dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung.