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Die Optimistinnen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
208 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am07.09.20221. Auflage
Eine neue Perspektive auf die Geschichte der Gastarbeiterinnen Die 22-jährige Nour kommt in den siebziger Jahren nach Deutschland, um zu arbeiten. Sie ist eine der vielen Gastarbeiterinnen, sie ist jung, motiviert und optimistisch. Nour kommt aus Istanbul und lebt nun in einem Wohnheim in der Oberpfalz, mit Frauen aus Spanien, Italien, Griechenland, Jugoslawien, Marokko, Tunesien oder der Türkei. Während Nour Minirock trägt, tragen die oberpfälzischen Frauen im Dorf Kopftuch. Die Arbeitsbedingungen in der Fabrik sind fragwürdig, die Entlohnung ist nicht gerecht. Als Nour vom Frauenstreik im Thüringen der zwanziger Jahre erfährt, ist sie inspiriert und stellt sich diesem Land: Gemeinsam mit all ihren Freundinnen wird sie für die Rechte der Arbeiter und vor allem der Arbeiterinnen kämpfen.  Mit ihrem Debüt »Die Optimistinnen« feiert Gün Tank die vielen Frauen, die dieses Land mit aufbauten und veränderten, und die sich doch in der deutschen Geschichte kaum wiederfinden. Starke Frauen, mutige Frauen: unsere Mütter. Unsere Großmütter.

Gün Tank ist Autorin und Moderatorin. Sie war Kuratorin der Ausstellung »22:14 ...und es kamen Frauen« (2011), zu den ersten Arbeitsmigrantinnen der Bundesrepublik und der Veranstaltungsreihe CrossKultur, eine jährliche Kulturreihe mit Lesungen, Ausstellungen, Konzerten, Theater, Film und Konferenzen. Heute ist sie im Bezirk Tempelhof-Schöneberg Beauftragte für Menschen mit Behinderung. 2015 und 2021 erhielt sie vom Land Berlin das Arbeits- und Recherchestipendium Literatur. »Die Optimistinnen. Roman unserer Mütter« ist ihr Debütroman, der 2024 im Maxim Gorki Theater Berlin uraufgeführt wurde.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99

Produkt

KlappentextEine neue Perspektive auf die Geschichte der Gastarbeiterinnen Die 22-jährige Nour kommt in den siebziger Jahren nach Deutschland, um zu arbeiten. Sie ist eine der vielen Gastarbeiterinnen, sie ist jung, motiviert und optimistisch. Nour kommt aus Istanbul und lebt nun in einem Wohnheim in der Oberpfalz, mit Frauen aus Spanien, Italien, Griechenland, Jugoslawien, Marokko, Tunesien oder der Türkei. Während Nour Minirock trägt, tragen die oberpfälzischen Frauen im Dorf Kopftuch. Die Arbeitsbedingungen in der Fabrik sind fragwürdig, die Entlohnung ist nicht gerecht. Als Nour vom Frauenstreik im Thüringen der zwanziger Jahre erfährt, ist sie inspiriert und stellt sich diesem Land: Gemeinsam mit all ihren Freundinnen wird sie für die Rechte der Arbeiter und vor allem der Arbeiterinnen kämpfen.  Mit ihrem Debüt »Die Optimistinnen« feiert Gün Tank die vielen Frauen, die dieses Land mit aufbauten und veränderten, und die sich doch in der deutschen Geschichte kaum wiederfinden. Starke Frauen, mutige Frauen: unsere Mütter. Unsere Großmütter.

Gün Tank ist Autorin und Moderatorin. Sie war Kuratorin der Ausstellung »22:14 ...und es kamen Frauen« (2011), zu den ersten Arbeitsmigrantinnen der Bundesrepublik und der Veranstaltungsreihe CrossKultur, eine jährliche Kulturreihe mit Lesungen, Ausstellungen, Konzerten, Theater, Film und Konferenzen. Heute ist sie im Bezirk Tempelhof-Schöneberg Beauftragte für Menschen mit Behinderung. 2015 und 2021 erhielt sie vom Land Berlin das Arbeits- und Recherchestipendium Literatur. »Die Optimistinnen. Roman unserer Mütter« ist ihr Debütroman, der 2024 im Maxim Gorki Theater Berlin uraufgeführt wurde.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783104915616
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum07.09.2022
Auflage1. Auflage
Seiten208 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2945 Kbytes
Artikel-Nr.9165689
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Gesichter sprechen

Oberpfalz, 1972

Nour hatte sich alles viel größer vorgestellt. Moderner.

Nour fällt auf im Dorf. Ihr kurzer Rock, ihre langen schwarzen Haare. Jeden Morgen glättet Nour ihr lockiges Haar mit dem Bügeleisen. Vorsichtig, damit es keine Brandwunden am Ohr gibt. Ihre selbstgenähten Kleider hat sie von zu Hause mitgebracht. Viele der älteren deutschen Frauen im Dorf tragen lange Kleider und Kopftücher. Sie schweigen und lächeln. Nour lächelt zurück.

Nour ist nicht allein. Mit ihr leben viele weitere Frauen im Wohnheim. Frauen, die ihre Eltern, Geschwister oder Ehemänner und Kinder zu Hause gelassen haben. Arbeiten. Geld verdienen und das Geld nach Hause schicken, an die Lieben zu Hause, ins andere Dorf, in die Stadt, deshalb sind sie hier. Die Frauen kommen aus verschiedenen Ländern und Regionen.

Cemile kommt vom Schwarzen Meer. Ihre Hände erzählen von der Haselnussernte. Eine frühe Heirat, dann die Scheidung. Sie hat keine Kinder. Sie ließ ihre kranke Mutter allein im Dorf zurück. Medikamente sind teuer in der Türkei. Mit dem Lohn aus Almanya will sie die Kosten für die ärztliche Behandlung und die Medikamente für ihre Mutter zahlen. Von hier aus wird sie für sie sorgen.

Da ist auch Meral, aus Ankara. Ihre manikürten Hände hatten bei einer Bank Geldbeträge ausgezahlt. Ihren einzigen Sohn ließ sie bei ihrer Mutter. Studieren möchte sie eigentlich. Und ihren Sohn nachholen. Ihrem Sohn soll es eines Tages besser gehen. Arzt oder Astronaut soll er werden.

Tülay lebte in Antalya. Ihre Hände sind rau von der Hausarbeit. Drei Kinder und ein Ehemann sind zurückgeblieben. Das Gehalt ihres Mannes, eines Lehrers, reichte nicht für die Familie. Er blieb bei den Eltern und Kindern in Antalya. Sie zog - für ihren Mann und die Kinder - in die Fremde.

Heute, eingetaucht im Gestern


Auch Mamutschka verließ ihre Eltern und Geschwister, um zum Unterhalt beizutragen. Und sie erhoffte sich Bildung und Reisefreiheit, Victor Hugo sollte sie nach Paris begleiten.

Dede, mein Großvater, gab meiner anne zu verstehen:

»Auch in Almanya ergibt nicht jedes geschriebene Wort ein kluges Buch!« Und sagte zum Abschied: »Tochter, es wird nicht leicht für dich werden. Du hast einen starken Charakter. Starke Frauen haben es immer schwerer. Aber du wirst es schaffen.«

Seine berufliche Laufbahn hatte er vor Jahrzehnten im Osten des Landes begonnen als Dorfschullehrer. Später, in der Stadt, wechselte er von einer Tätigkeit zur nächsten, um seine Familie durchzubekommen. Bauarbeiter. Marktverkäufer. Hausmeister. Buchhalter. Bauarbeiter war er nur wenige Tage, seine weichen Hände hielten dem rauen Alltag auf dem Bau nicht stand.

 

Seit ich denken kann, hat dede graues Haar, der weiße Bart umschlingt sein dünnes Gesicht, und dicke graue Augenbrauen verdecken fast vollständig die kleinen lachenden Augen. Mein dede. Ein gut aussehender Mann, schwärmen sogar die jungen Frauen in der Nachbarschaft.

Bei jedem unserer Besuche in der Türkei spuckt er mir rechts und links über die Schulter.

»Mein Porzellankind. KıvırcıÄım, mein Lockenkopf«, sagt er. Das erste Mal im Sommer 1978.

Ich war drei, schaute irritiert zu anne und fragte: »Was habe ich denn gemacht? Warum spuckt mich dede an?«

Und spuckte zurück, mit ordentlich Speichel. Er lächelte, die grauen Augenbrauen tanzten.

»Es ist gegen nazar, den bösen Blick«, sagte er. »Auf dieses Kind musst du sehr, sehr gut achtgeben«, rief er nene zu, meiner Großmutter, und seine Augen strahlten. Eigentlich spuckte dede nie richtig. Das verstand ich aber erst später.

 

Knapp ein Jahr später war nene mit mir auf dem Markt. Ich saß im Kinderwagen, und sie feilschte mit einem Verkäufer. Als sie nach ein paar Minuten das ergatterte Gemüse und Obst in die Tasche legen wollte, saß ich nicht mehr im Wagen. Nene fragte den Händler und die Passanten rechts und links. Ein junger, gepflegter Mann habe mich auf die Schultern genommen und sei mit mir davon, hieß es. Der Händler hatte gedacht, ein Familienmitglied, zumal ich fröhlich lachte. Nene blieb die Luft weg, und die Beine wurden ihr schwer. Sie sackte zu Boden, zwei Frauen fächelten ihr mit Tüchern Luft zu. Der Händler reagierte. Er sprang auf und mobilisierte im Handumdrehen die anderen Händlerinnen und Händler sowie Marktgäste. Es schien, als beteiligte sich der gesamte Markt an der Verfolgung des Mannes. Mit Erfolg: Der junge Mann wurde gefasst, verprügelt und laufen gelassen. Er schwor, dass er seine kinderlose Frau hatte beglücken wollen und so etwas nie wieder tun würde.

Zu Hause angekommen, mit mir auf dem Arm, flüsterte nene meiner anne ins Ohr: »Vaters Spucke allein wird nicht reichen. Dieses Kind darfst du nie aus den Augen lassen.« Noch Jahre später zittert ihre Stimme beim Erzählen dieser Geschichte.

 

Eigentlich ist es meine Großmutter, die den »bösen Blick« fürchtet, nicht mein Großvater, noch heute. Sie nimmt den »bösen Blick« ernst, sie glaubt an eine negative Energie einiger Menschen. Um diese negative Energie abzulenken, trägt sie nazarlıks, Amulette, wie das Auge der Fatima. Bei jedem unserer Besuche im Sommer gab es eine extra Dosis an nazarlıks für mich: ein Kettenanhänger, ein Armband oder Ohrringe. Selbst heute lassen ihre Augen mich nicht los. Sie ist immer bei mir, ihre besorgte Stimme in meinem Ohr.


Oberpfalz, 1972

Ohne Sprache und ohne Stimme, allein in einem Land. Früh um vier kräht der Hahn. Dann ziehen sich die Frauen an: Zwei liegen im Bett, zwei ziehen sich an. Stehend. Rechts und links kein Spielraum. Und dann tauschen sie. Angekleidet liegen die zwei ersten im Bett und schauen den anderen beiden zu.

Um fünf geht es in die Fabrik. Maschinen. Laute und große Maschinen. Aus der Werkhalle schlägt ein enormer Geräuschpegel auf Nours Ohren, beißender Geruch füllt die Nase, und stickig heiße Luft umschlingt sie. Die Hallentür schließt. Verschiedene Sprachen, von Frauenmund zu Frauenohr, werden von einem langen »Achtung« unterbrochen. Die dunkle Befehlsstimme eines Mannes im grauen Anzug. Hinter ihm stehen fünf blau bekittelte Männer. Ein Kittel teilt die Frauen in Gruppen auf. Der Anzug beobachtet den Kittel mit verschränkten Armen. Die Frauen werden namentlich aufgerufen und auf die anderen Kittel verteilt. Nour versteht nichts. Sie beobachtet. Ein Kittel hält seine Arme seitlich am Körper, die Schultern sind gerade, der Hals ist lang, den Kopf hält er leicht schräg. Seine braunen Augen wandern entspannt durch den Raum, dann und wann ziehen die Mundwinkel leicht nach oben. Bevor Nour aufgerufen wird, springt sie aus der Reihe und stellt sich zu dem Lächler. Der Aufteiler, wie die Frauen ihn unter sich nennen, weist sie wieder in die Reihe, Nour folgt nicht. Der graue Anzug zetert. Nour bleibt. Der Braunäugige vermittelt, Nour bleibt. Sie hat sich durchgesetzt.

 

Nour erinnert sich an ihren Vater, der sagte: »Gesichter sprechen, sie sagen manchmal mehr als die Worte, die über die Lippen nach draußen getragen werden.«

Sie hat starkes Heimweh. Es begleitet sie auf dem Weg zur Arbeit, am Arbeitsplatz und auf dem Weg ins Wohnheim. Nicht selten weint sie, möchte zurück nach Hause. Eine deutsche Kollegin, Birgit, nimmt sie dann in den Arm. Birgit ist groß und kräftig und hat langes blondes Haar. Nour versinkt in den Armen von Birgit, manchmal für mehrere Sekunden. Sie schüttet ihr Herz auf Türkisch aus. Birgit spricht Deutsch. Sie verstehen sich, umarmen sich, ohne die Sprache der anderen zu beherrschen. »Gesichter sprechen!«, wie recht ihr Vater hatte. Birgit ist die Einzige, die mit ihnen spricht, die anderen deutschen Gesichter schweigen.

Immer mehr lernt Nour, Gesichter zu lesen. Sie antwortet, die Mimik deutend, mit einem lächelnden Ja oder einem kopfschüttelnden Nein. Fast immer liegt sie richtig, aber einmal nicht. Ihre erste Zugfahrt in Deutschland. Zu Hause, in der Türkei, ist sie oft mit dem Zug gefahren. Hier ist es die erste Reise allein. Sie will nach Köln, zu Freundinnen. Am Bahnhof angekommen, sucht sie den Fahrkartenschalter. Kann ihn nicht finden und versucht, zwei junge Männer zu fragen. Die Zieladresse steht auf einem sorgfältig zusammengefalteten Zettel. Den Zettel in der Hand, tippt sie mit dem Finger auf die Adresse und schaut die beiden fragend an. Diese zeigen ihr den Bahnsteig und den Zug, in den sie steigen muss. Mit Händen und Füßen erklärt sie, dass sie einen Fahrschein braucht. Sie reibt Daumen und Zeigefinger aneinander, geht am Bahnsteig auf und ab und versucht sich in der Rolle einer Schaffnerin. Doch die Männer verstehen sie nicht. Sie bieten ihr Geld an, diskutieren untereinander, und dann packt der eine sie links, der andere rechts. Ein paar Sekunden später sitzt sie im Zug nach Köln. Ohne Fahrschein. Ohne Sprache.

Nour gegenüber sitzt eine ältere Frau. Daneben versteckt sich ein Mann hinter einer Zeitung. Nour schaut aus dem Fenster. Noch nie ist sie ohne Fahrschein gefahren. Ausgerechnet sie, die in der Schule noch nicht einmal abschreiben konnte, ohne rot zu werden. Sie wendet den Blick vom Fenster ab...
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Gün Tank ist Autorin und Moderatorin. Sie war Kuratorin der Ausstellung »22:14 ...und es kamen Frauen« (2011), zu den ersten Arbeitsmigrantinnen der Bundesrepublik und der Veranstaltungsreihe CrossKultur, eine jährliche Kulturreihe mit Lesungen, Ausstellungen, Konzerten, Theater, Film und Konferenzen. Heute ist sie im Bezirk Tempelhof-Schöneberg Beauftragte für Menschen mit Behinderung. 2015 und 2021 erhielt sie vom Land Berlin das Arbeits- und Recherchestipendium Literatur. »Die Optimistinnen. Roman unserer Mütter« ist ihr Debütroman, der 2024 im Maxim Gorki Theater Berlin uraufgeführt wurde.