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Die Schwalben von Montecassino

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Berlin Verlagerschienen am28.07.2022Auflage
Vier blutige Monate lang dauerte es 1944, die von den Deutschen besetzte Abtei auf dem Berg zu erobern. Dafür opferten sich Menschen aus aller Welt: Briten und Amerikaner, Inder, Nepalesen, Maghrebiner, Maori. Und Polen, eine ganze polnische Armee aus Ex-Gulag-Insassen, die für Freiheit von Hitler und Stalin kämpften. Unter ihnen 1000 Juden, so wie Irka, die aus dem Getto floh, nur um in Sibirien zu landen. Oder auch Milek, ein jüdisch-polnischer Veteran ... 2007 fahren zwei junge Männer nach Montecassino, um die Vergangenheit ihrer Familien besser zu verstehen. Kunstvoll verwebt Helena Janeczek Orte, Geschichten, Epochen, Schicksale - u. a. das ihrer eigenen Tante - zu einem kunstvollen, berührenden Epos des »italienischen Stalingrad«. »Helena Janeczek hat ein unglaublich starkes Buch geschrieben. Darin wird Montecassino zum Krieg von uns allen, zu dem Ort, von dem wir alle kommen.« Roberto Saviano, La Repubblica

Helena Janeczek wurde 1964 in München als Tochter einer jüdisch-polnischen Familie geboren und ging 1983 nach Italien. Sie lebt in Gallarate, wo sie auch ein Literaturfestival kuratiert. 1989 publizierte sie im Suhrkamp-Verlag einen Lyrikband (Ins Freie). Fortan schrieb sie auf Italienisch: 1997 erschien bei Mondadori ihr Buch, Lezioni di tenebra, (Lektionen des Verborgenen, Kiepenheuer und Witsch 1999). Darin verhandelt sie Autobiografisches, die Übertragung der tabuisierten Erinnerung der Mutter an ihre Deportation nach Auschwitz auf die Tochter. 2002 folgte der Roman Cibo (Essen, Kiepenheuer und Witsch 2002), ein Romanmosaik in dem es um das komplizierte Verhältnis des modernen Menschen zu seiner Lebensgrundlage geht. Es folgten Essays und Erzählungen und zwei weitere Romane. 2017 erschien ihr Roman, La ragazza con la Leica (Das Mädchen mit der Leica) der es auf die Shortlist des Premio Campiello schaffte und mit dem Premio Strega ausgezeichnet wurde.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextVier blutige Monate lang dauerte es 1944, die von den Deutschen besetzte Abtei auf dem Berg zu erobern. Dafür opferten sich Menschen aus aller Welt: Briten und Amerikaner, Inder, Nepalesen, Maghrebiner, Maori. Und Polen, eine ganze polnische Armee aus Ex-Gulag-Insassen, die für Freiheit von Hitler und Stalin kämpften. Unter ihnen 1000 Juden, so wie Irka, die aus dem Getto floh, nur um in Sibirien zu landen. Oder auch Milek, ein jüdisch-polnischer Veteran ... 2007 fahren zwei junge Männer nach Montecassino, um die Vergangenheit ihrer Familien besser zu verstehen. Kunstvoll verwebt Helena Janeczek Orte, Geschichten, Epochen, Schicksale - u. a. das ihrer eigenen Tante - zu einem kunstvollen, berührenden Epos des »italienischen Stalingrad«. »Helena Janeczek hat ein unglaublich starkes Buch geschrieben. Darin wird Montecassino zum Krieg von uns allen, zu dem Ort, von dem wir alle kommen.« Roberto Saviano, La Repubblica

Helena Janeczek wurde 1964 in München als Tochter einer jüdisch-polnischen Familie geboren und ging 1983 nach Italien. Sie lebt in Gallarate, wo sie auch ein Literaturfestival kuratiert. 1989 publizierte sie im Suhrkamp-Verlag einen Lyrikband (Ins Freie). Fortan schrieb sie auf Italienisch: 1997 erschien bei Mondadori ihr Buch, Lezioni di tenebra, (Lektionen des Verborgenen, Kiepenheuer und Witsch 1999). Darin verhandelt sie Autobiografisches, die Übertragung der tabuisierten Erinnerung der Mutter an ihre Deportation nach Auschwitz auf die Tochter. 2002 folgte der Roman Cibo (Essen, Kiepenheuer und Witsch 2002), ein Romanmosaik in dem es um das komplizierte Verhältnis des modernen Menschen zu seiner Lebensgrundlage geht. Es folgten Essays und Erzählungen und zwei weitere Romane. 2017 erschien ihr Roman, La ragazza con la Leica (Das Mädchen mit der Leica) der es auf die Shortlist des Premio Campiello schaffte und mit dem Premio Strega ausgezeichnet wurde.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783827080608
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum28.07.2022
AuflageAuflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse7401 Kbytes
Artikel-Nr.9330955
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Mein Vater war in Montecassino, er hat unter General Anders im Zweiten polnischen Korps gekämpft. Auf seinem Weg die Adria hinauf nach Bologna wurde er in Recanati verwundet. Während seiner Genesung auf einem Bauernhof lernte er ein Mädchen aus den Marken kennen. Meine Mutter, den Grund, weshalb er in Italien blieb.

Italien, der Grund, weshalb ich nach über sechzig Jahren meinen Nachnamen mehrmals ins Telefon buchstabieren muss. Der Taxifahrer, der das nicht überhören konnte, erkundigt sich, ob ich zufällig aus Polen sei wie er.

»Wussten Sie, dass polnische Soldaten, die eine Italienerin heirateten, ihr Anrecht auf Staatsbürgerschaft verspielten, mit dem die Engländer sie als treue Mitstreiter im Kampf gegen die Nazis belohnten?«, frage ich, während am Ende der Straße bereits die Überführung auftaucht, die die Stadtgrenze von Mailand markiert.

Nein, das wusste er nicht.

Die Exilpolen sind mit ihren Frauen bis in die entlegensten Winkel der Erde emigriert, von Argentinien bis Australien, erzähle ich ihm. In Italien sind nach dem Krieg nur wenige geblieben, nur rund zweihundert - von den tausend am Fuß der Benediktinerabtei Begrabenen einmal abgesehen. Ein halbes Jahrhundert lang hat diese Handvoll Überlebender den Friedhof gepflegt, die Erinnerung an die Schlacht weitergegeben, die Beziehung zu Polen lebendig gehalten.

»Waren Sie einmal dort? Kennt man in Polen noch Czerwone Maki na Montecassino?«

Der Tag hat schlecht begonnen, Zugverspätung, Taxi, um es pünktlich zu schaffen, Diskussion mit dem Telefonanbieter, doch gerade scheint er sich zum Besseren zu wenden. Als wir die Via Corelli erreichen, lasse ich mich zu dem Lied vom roten Mohn in Montecassino hinreißen, und der Taxifahrer fällt beim Refrain mit ein.

»Do widzenia!«, verabschiede ich mich, gebe mehr Trinkgeld als sonst und mache mich leise summend auf den Weg ins Büro.

So hätte dieser Herbstmorgen laufen können, wäre mir das alles eingefallen. Aber ich habe dem Taxifahrer nie erzählt, dass mein Vater in Montecassino gekämpft hat. Ich habe ihm bloß gesagt, er stamme aus Polen und keine Ahnung was sonst noch, um seinen Fragenhunger zu stillen: »Woher kommt Ihr Vater? Seit wann leben Sie in Italien? Haben Sie noch Verwandte in Polen? Wo genau? Sehen Sie sich ab und zu? Warum sprechen Sie kein Polnisch?«

Ich stolperte hinter glaubhaften Antworten her, zahlte meine spontane Aufrichtigkeit mit der Plumpheit improvisierter Lügen. Ich hatte mir eine italienische Mutter gegeben, um meine spärlichen Polnischkenntnisse zu rechtfertigen, jedoch nicht mit den anderen Fragen gerechnet. Ich kam ins Schleudern, antwortete mit Halbwahrheiten und begriff, dass einem unter Zugzwang nichts Brauchbares einfällt und dass spontane Lügen hässlich sind. Dem Mann, der sie mir aus der Nase gezogen hatte, fiel das womöglich nicht auf, aber mir schon. Ich sah das schwindelerregende Gefälle zwischen dem, was ich erzählte, und dem, was ich verschwieg, und wie zerbrechlich der verbale Schutzschild war, den ich vor mir aufgespannt hatte, ohne ihn wirklich zu brauchen.

Ein einziges Wort hätte genügt - Montecassino -, und schon hätte er mich in Uniform und Waffen gesehen. Es hätte genügt, das Lied vom roten Mohn tatsächlich zu kennen, statt es nur in einem Film über die polnische Eroberung der zerstörten Abtei gehört zu haben, gesungen von der Tenorstimme Adam Astons, der bereits vor dem Krieg ein echter Star gewesen war und in Filmschmonzetten verewigt ist, in denen der Held zu den schmachtenden Klängen eines Tangos, angestimmt von einem befrackten Herrn im Kreis einer Zigeunerkapelle, die Hand der Heldin ergreift. Es hätte genügt zu wissen, dass Aston im wahren Leben Adolf Loewinsohn geheißen hatte und ein in Warschau geborener Jude war, den es 1939 in ein Theater nach Lwiw verschlagen hatte, ehe er die Sowjetunion 1942 mit General Anders´ Truppen verließ. Doch seine größte patriotische Tat war dieses Lied gewesen, aufgenommen 1944 in Rom, in Gedenken an seine im blühenden Mohn gefallenen Kameraden.

Auch mein Vater hatte eine schöne Stimme und war polnischer Jude: genau wie meine Mutter, meine Großeltern, meine Onkel und Tanten und alle meine Verwandten, die tatsächlich in Polen geblieben sind, wenn auch als Tote. Das war es, was ich dem neugierigen Taxifahrer nicht unter die Nase reiben wollte, erst recht nicht, als ich erfuhr, wo er herkam.

Kielce: die Geburtsstadt des Schriftstellers Gustaw Herling, ehemaliger Häftling im sowjetischen Gulag, ehemaliger Soldat des Zweiten Armeekorps, Überlebender von Montecassino. Diese Assoziation hätte ich mit dem Taxifahrer teilen können, aber der Name der Stadt beschwor etwas ganz anderes in mir herauf.

Kielce: Schauplatz des ersten großen Pogroms der Nachkriegszeit, Massaker an rund vierzig überlebenden Juden, woraufhin meine Eltern beschlossen, Polen für immer den Rücken zu kehren.

Wie der berühmte Sänger Adam Aston trug auch mein Vater einen anderen als seinen Geburtsnamen. Allerdings nicht als Künstlernamen, sondern weil er ihn zum Überleben brauchte.

Hätte er ihn abgelegt und seinen jüdischen Namen wieder angenommen, der Pole aus Kielce hätte mir in seinem Taxi keine Fragen gestellt.

Aber der falsche Name meines Vaters ist mein Nachname. Mit ihm bin ich geboren und aufgewachsen, tausendmal habe ich seine Herkunft erklärt, und häufig werde ich für eine Einwanderin, eine Pflegekraft, gar eine Nutte gehalten, weil ich in Italien heute einen slawischen Namen trage. Wie kann ich etwas für falsch halten, das mir seinen Stempel aufgedrückt hat? Wie kann es dieser Name sein, dem mein Vater sein Leben und ich meines verdanke? Was ist eine Täuschung, wenn sie wahrhaftig wird, wenn sie den Lauf der Geschichte zu ändern vermag, die Wirklichkeit formt und sich gleichfalls durch sie verändert? Zu was wird die Lüge, wenn sie sich als Rettung erweist?

Und welche Geschichten, frage ich mich schließlich, kann ich wiederum erzählen? Auf welche Legende kann ich zurückgreifen, bin ich doch der lebende Beweis, dass zwischen Wahrem und Falschem, zwischen Wirklichkeit und Fiktion eine brüchige Grenze verläuft, die Leben und Tod voneinander trennt? Was kann ich erzählen, wohl wissend, dass sich hinter jeder durch falsche Papiere geretteten Existenz ein schwindelerregender Abgrund wahrer Namen, vergessener Namen, verlorener Namen, verschwundener Namen auftut: ausgerottete Familien, Bürger aller Nationen, von den Bomben in schwarze Stümpfe verwandelt, bis zur Unkenntlichkeit zerfetzte Leiber, Leichen, die nie von den Schlachtfeldern getragen wurden, unbekannte Soldaten.

Ich, Helena Janeczek, geboren in München, seit über zwanzig Jahren wohnhaft in Italien, mit polnischen Wurzeln, weil meine jüdischen Eltern aus Polen kamen, und erst recht, weil ich einen slawischen Namen trage, habe, ohne bewusst danach zu suchen, eines schönen Herbsttages einen Ort gefunden: Einen Winkel der Welt, der am Ende sehr viel mehr war als eine Ausflucht, um einen Rattenschwanz plumper Lügen durch eine Geschichte zu ersetzen, die so sagenhaft klingt, dass sie bei ihren Zuhörern sämtliche Fragen erstickt.

Im Mittelpunkt steht eine Abtei: das erste Kloster des Abendlandes, viermal zerstört. Nur wenige Schritte darunter der polnische Friedhof. Weiter unten im Tal, gleich hinter Cassino, der des Commonwealth. Die Deutschen sind in Caira begraben, die Amerikaner in Anzio, die Franzosen in Venafro, die Italiener in Mignano Monte Lungo. Soldaten, die während des Italienfeldzugs und vor allem in der Schlacht um Montecassino gefallen sind, zu der man die vier alliierten Offensiven zwischen Januar und Mai 1944 zusammenfasst. Die Abtei wurde wiederaufgebaut und die Fundamente eines römischen Tempels sichtbar gelassen, den die Bomben ans Licht gebracht hatten; der Felssporn, auf dem sie sich erhebt, ist von dichtem Grün bewachsen, das die letzten Reste des Krieges zudeckt. Nur sind es viel mehr Tote als die auf den umliegenden Ehrenstätten Begrabenen: über dreißigtausend. Dreißigtausend von Millionen. Millionen Männer, aus den fernsten Winkeln angesogen und in den Trichter eines bergumsäumten Tales gespuckt.

Unter ihnen war ein Cousin meiner Mutter: Dolek Szer. Vermutlich hat auch ein guter Freund der Familie dort gekämpft: Emilio Steinwurzel. Beide waren im Zweiten polnischen Korps. Doch kann man höchstens von einem...
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Autor

Helena Janeczek wurde 1964 in München als Tochter einer jüdisch-polnischen Familie geboren und ging 1983 nach Italien. Sie lebt in Gallarate, wo sie auch ein Literaturfestival kuratiert. 1989 publizierte sie im Suhrkamp-Verlag einen Lyrikband (Ins Freie). Fortan schrieb sie auf Italienisch: 1997 erschien bei Mondadori ihr Buch, Lezioni di tenebra, (Lektionen des Verborgenen, Kiepenheuer und Witsch 1999). Darin verhandelt sie Autobiografisches, die Übertragung der tabuisierten Erinnerung der Mutter an ihre Deportation nach Auschwitz auf die Tochter. 2002 folgte der Roman Cibo (Essen, Kiepenheuer und Witsch 2002), ein Romanmosaik in dem es um das komplizierte Verhältnis des modernen Menschen zu seiner Lebensgrundlage geht. Es folgten Essays und Erzählungen und zwei weitere Romane. 2017 erschien ihr Roman, La ragazza con la Leica (Das Mädchen mit der Leica) der es auf die Shortlist des Premio Campiello schaffte und mit dem Premio Strega ausgezeichnet wurde.Verena von Koskull, geboren 1970, studierte Italienisch und Englisch in Berlin und Bologna. Sie übersetzte unter anderem Carlo Levi, Gianrico Carofiglio und Salman Rushdie ins Deutsche.