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Raserei

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
240 Seiten
Deutsch
Schöffling & Co.erschienen am19.07.20221. Auflage
Es ist der heißeste Sommer seit Jahren. Auf der Rückkehr von einer Familienreise zerstört ein Autounfall das Leben des jungen Reisebloggers Jonas Nimrod. Der Fahrer Radomir Milic?, ein ehemaliger Bosnienkämpfer und bekannter Clananwalt, war mutmaßlich alkoholisiert, wird jedoch nicht belangt. Kaum vom Unfall genesen, kümmert er sich unbehelligt weiter um seine Geldwäschegeschäfte. Rasend vor Ohnmacht und Wut stellt Jonas ihn online an den Pranger - und fordert damit Milic? zu einem Duell, das keiner von beiden gewinnen kann. In diesem meisterhaft komponierten und atmosphärisch dichten Psychogramm zwischen digitaler Bohème und Berliner Unterwelt erzählt der preisgekrönte Autor Sascha Reh mit kompromissloser Wucht vom brennenden Verlangen nach Gerechtigkeit und Rache, von Reue und Vergebung - und von männlichen Rollenbildern im Augenblick ihres Scheiterns.

Sascha Reh, geboren 1974 in Duisburg, studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik in Bochum und Wien. Für seine Romane wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. 2011 mit dem Niederrheinischen Literaturpreis, 2014 mit dem Lotto Brandenburg Kunstpreis Literatur und 2015 mit dem Literaturpreis Ruhr. 2017 war er Stipendiat der Deutschen Akademie Rom in der Casa Baldi, 2018 wurde er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis nominiert. Sascha Reh lebt mit seiner Familie bei Berlin.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextEs ist der heißeste Sommer seit Jahren. Auf der Rückkehr von einer Familienreise zerstört ein Autounfall das Leben des jungen Reisebloggers Jonas Nimrod. Der Fahrer Radomir Milic?, ein ehemaliger Bosnienkämpfer und bekannter Clananwalt, war mutmaßlich alkoholisiert, wird jedoch nicht belangt. Kaum vom Unfall genesen, kümmert er sich unbehelligt weiter um seine Geldwäschegeschäfte. Rasend vor Ohnmacht und Wut stellt Jonas ihn online an den Pranger - und fordert damit Milic? zu einem Duell, das keiner von beiden gewinnen kann. In diesem meisterhaft komponierten und atmosphärisch dichten Psychogramm zwischen digitaler Bohème und Berliner Unterwelt erzählt der preisgekrönte Autor Sascha Reh mit kompromissloser Wucht vom brennenden Verlangen nach Gerechtigkeit und Rache, von Reue und Vergebung - und von männlichen Rollenbildern im Augenblick ihres Scheiterns.

Sascha Reh, geboren 1974 in Duisburg, studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik in Bochum und Wien. Für seine Romane wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. 2011 mit dem Niederrheinischen Literaturpreis, 2014 mit dem Lotto Brandenburg Kunstpreis Literatur und 2015 mit dem Literaturpreis Ruhr. 2017 war er Stipendiat der Deutschen Akademie Rom in der Casa Baldi, 2018 wurde er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis nominiert. Sascha Reh lebt mit seiner Familie bei Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783731762164
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum19.07.2022
Auflage1. Auflage
Seiten240 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1620 Kbytes
Artikel-Nr.9697798
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



10|10

Obwohl er besser Italienisch spricht als Vera - sicherer in der Grammatik, mit größerem Wortschatz -, ist meistens sie es, die das Reden übernimmt. Sie ist zugewandt und herzlich und gibt ihren Kooperationspartnern und Gastgeberinnen fast immer das Gefühl, langjährige Freunde zu sein. Sobald das Eis gebrochen ist und das Reden einmal begonnen hat - wie jetzt mit Andrea, der ihnen das Apartment in den Sassi besorgt hat -, fällt es Jonas leicht, sich von ihrer Lebendigkeit anstecken zu lassen. Dann werden die Dinge, die ihm sonst nicht einfallen wollen, plötzlich wichtig genug, um Gegenstand einer Unterhaltung zu werden. Während Vera von ihrer Neugier auf Matera spricht und sich in die Besonderheiten ihres Reiseziels einführen lässt - den Orten abseits der Touristenpfade, den Gewohnheiten der Einwohnerinnen -, steuert er Fakten bei. Meistens ist er es, der ihre Reisedaten überblickt, die An- und Abfahrtszeiten der Busse oder Züge im Kopf hat, die Termine mit Sponsoren oder die der verschiedenen Veranstaltungen. Er kennt den Eventkalender von Matera auswendig, nicht für das gesamte Jahr, aber doch für die Dauer ihrer Anwesenheit. Er hat den Ablaufplan des Tages vor Augen, schätzt (unter Berücksichtigung der kurzen Beine zweier fünfjähriger Kinder) den Zeitbedarf für die Wegstrecken, scannt die Umgebung, sobald sie an einem neuen Ort angekommen sind, auf die vorhandene Infrastruktur. Wo gibt es einen Supermarkt oder zumindest einen Einkaufsladen? Welche Orte eignen sich als Treffpunkte, falls sie die Zwillinge im Gedränge verlieren? Gibt es einen Waschsalon? Wo können sie gebührenfrei Bargeld abheben? Er weiß das alles meist schon, bevor sie ankommen, recherchiert es auf den touristischen Homepages oder Google Maps. Dennoch ist er weniger der Tourmanager als Veras Assistent. Sie ist der Star des ganzen Unternehmens. Sie hat die Kontakte zu all diesen Leuten überhaupt geknüpft und ist der Grund, warum diese nach der ersten Kooperation selten abreißen. Alle haben sie gern um sich, weil sie unkompliziert und offen und leicht zu begeistern ist. Sie lässt die Dinge auf sich zukommen und interessiert sich für alles. Sie hat selten einen Plan, auch wenn sie sich meist so gelassen und zielstrebig gibt, als hätte sie alles, was sie später als Reisebericht posten wird, schon zahllose Male erlebt.

Sie erfahren, dass die Höhle, in der sie für die nächsten vier Tage wohnen werden, nur ein Zimmer hat - wenn »Zimmer« das richtige Wort ist. Die Sassi waren früher Zufluchtsstätten der Armen, erst in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden einige modernisiert und an die Strom- und Wasserversorgung angeschlossen. Ihre gehört allerdings nicht dazu. Die Wände sind weiß getüncht, die Einrichtung ist zwar geschmackvoll, aber spärlich, gekocht wird auf einem Holzofen. Das Wasser zum Kochen und Zähneputzen müssen sie aus einer Zisterne schöpfen, die Lampen werden von einem Kabel mit Strom versorgt, das sich durch den Höhleneingang die Felswand hinaufschlängelt und in eine nach Süden gerichtete Solarzelle mündet. Vera lässt sich angesichts der kargen Ausstattung keinerlei Enttäuschung anmerken. Das ist keine Verstellung: Er weiß, dass sie wirklich nicht enttäuscht ist. Sie nimmt alles, wie es ist. Sie urteilt nicht, es sei denn, sie ist begeistert. Das ist es, was ihn immer wieder an ihr erstaunt, hinreißt, überfordert: dass sie ihre Erlebnisse als Geschenk empfindet und dabei trotzdem nicht zu einer Klischeefigur aus einem Achtsamkeitsratgeber wird.

Matera ist natürlich erstaunlich, beeindruckend (vom touristischen Standpunkt aus), wenngleich er findet, dass der Trubel einer Kulturhauptstadt die Zwillinge überfordert. Die Ausstellungen, Konzerte und Events sind für kulturhungrige Erwachsene gedacht, nicht für Vorschulkinder. Schulkinder, korrigiert er sich: Nach diesen Ferien werden Mats und Enno Schulkinder sein.

Bislang haben sie als Nomaden gelebt, ländliche Nomaden: ob im Kanu den Tarn herunter, im Eselswagen durch die Voralpen (mit Übernachtungen in Almhütten und Heuschobern) oder mit dem Fahrrad entlang der irischen Südküste. Überall hatte er das Gefühl, den Jungs etwas Wertvolles zu offenbaren, etwas, das es in Berlin nicht gibt: Ursprünglichkeit und Abenteuer. Vera sagt, dass eine Kulturreise einfach der nächste Schritt in ihrer Entwicklung sei, und auch in Matera gebe es schließlich andere Kinder zum Spielen. Das ist richtig, aber es geht bei dieser Reise nicht nur um die Entwicklung der Kinder, sondern auch um das Portfolio ihres Blogs: LifeIsAJourney.com. Sie müssen ihr Repertoire erweitern. Nicht, dass Vera ihre geschäftlichen Interessen über das Wohl ihrer beiden Kinder stellen würde. Aber Vera ist es gewohnt, Gegensätzliches zu vereinen, Lösungen zu finden, Dinge möglich zu machen. Er lässt sich gern von ihrem Optimismus mitreißen, hat es immer getan. Dabei ist er selbst kein Optimist.

Er legt seine Hand auf Veras Bauch, lässt sie wandern. Es ist früher Morgen, aber die Zwillinge sind schon wach.

»Wie sieht s aus, Jungs?«, fragt er. »Habt ihr nicht Lust, ein paar Cornetti zu holen?« Vera, seine wahren Absichten erratend, lächelt.

»Hä? Eis? Wir sollen jetzt Eis essen?«

Der Bäcker ist unten an der Piazza Vittorio Veneto. Sie lassen die Kinder ihre Mission generalstabsmäßig planen.

»Wir sammeln Steine«, sagt Enno mit begeisterter Ernsthaftigkeit. Er ist es, der von den beiden für ausgefeilte Planungen zuständig ist. »Wir legen alle zwei Schritte oder so einen Stein hin. Und dann wissen wir ganz genau, welchen Weg wir zurück nehmen müssen.«

Auf Jonas Frage, wer von den beiden die Schubkarre mit den Steinen schiebt, versetzt Mats, dass es ja wohl auch mit Kordel gehe, Adriana aus dieser einen Geschichte habe das doch auch so gemacht.

»Du meinst Ariadne? Das war aber Theseus.«

Ihr Vater, meinen darauf die Jungs, solle lieber nützliche Ideen beisteuern, anstatt sich durch Besserwisserei unbeliebt zu machen.

Jonas hofft, dass das Cornetti-Projekt Vera und ihm zwanzig Minuten, vielleicht eine halbe Stunde Qualitätszeit zu zweit verschaffen wird. Aber sie sind kaum bei der Unterwäsche angekommen, da knistert schon Ennos Walkie-Talkie.

»Hier Basislager, bitte kommen«, sagt Vera, während Jonas seiner Frau den Slip über die Hüften streift.

Sie hört aufmerksam zu, nicht besorgt, eher amüsiert. Jonas kann hören, dass Mats aufgeregt ist.

»Da haben sich zwei Jungs verlaufen und wollen abgeholt werden«, sagt Vera und greift nach dem Büstenhalter, den Jonas ihr bereits resigniert hinhält.

Von Matera bis Napoli sind es über fünf Stunden Busfahrt. Für Mats und Enno sind drei Stunden Fahrt am Stück die absolute Schmerzgrenze, schon die Hinreise ist eine Qual für die beiden gewesen. Für alle eigentlich. Der Tag in Neapel reicht trotz fabelhafter Pizza und einem passablen Bett in einer billigen Airbnb-Wohnung nicht zur Erholung. Die Weiterfahrt über Rom bis Verona, wenn auch im Zug, geht ihnen dann schon an die Reserven. Alle drei Minuten wollen die Jungs aufs Klo oder etwas trinken, sie kabbeln sich ohne Unterlass. Als Veras Vater sie vom Bahnhof in Verona abholt (worauf nicht Vera oder Jonas, sondern Veras Mutter bestanden hat), stehen die Zwillinge kurz vor der Kernschmelze.

Veras Vater kommt ohne Marlene, sonst hätte der Platz im Auto nicht gereicht. Er lenkt den Wagen ruhig die Etsch hinauf Richtung Bardolino. Er ist ein Mensch, dessen Ruhe und Geduld bei Jonas den Eindruck erwecken, als würde er das meiste von dem, worüber andere streiten, für längst geklärt halten. Er beneidet den Älteren ein wenig darum. Die Zwillinge rechts und links von ihm machen sich im Minutentakt sein Smartphone streitig, um darauf Laserbreak zu spielen. Natürlich gibt es zwei Smartphones, aber Veras Akku ist in Neapel in die Knie gegangen, und auch seiner schwächelt, was ein Glück ist.

»Du bist die Kröte einer neunschwänzigen Katze!«, sagt Enno zu seinem Bruder, was offenbar die schlimmste Beleidigung ist, die er sich vorstellen kann.

Den beiden geht es nicht um das Spiel, sondern um die Auseinandersetzung. Sie erleben es als die größtmögliche Ungerechtigkeit, in ihrer Spieldauer vom anderen übervorteilt zu werden: Für sie geht es um Würde oder Erniedrigung, Ehre oder Schande. Jonas versucht, sich auf seinen Atem zu konzentrieren, auf das Lichterspiel der Sonne zwischen den Zypressen, die die Landstraße säumen.

»Die weite Fahrt!«, ruft Marlene statt einer Begrüßung, als sie die beiden erledigten Kinder sieht. Es wird das Thema dieses Abends: »Ob das so eine gute Idee war!«

Jonas würde darauf gern sagen: Danke für die nette Begrüßung. Aber erstens ist Marlene nicht seine Mutter, und zweitens hat sie recht. Die Reise war viel zu lang. Er hat das von Anfang an gewusst und letztlich Veras Zuversicht nachgegeben. Jetzt fühlt er sich ausgelaugt und gereizt.

»Matera war großartig«, sagt Vera unbeirrt.

»Wir haben in einer richtigen Höhle gewohnt«, ergänzt Mats aufgeregt, noch während sie sich an den großen Esstisch setzen, auf dem Marlene schon kalte selbstgemachte Holunderlimonade bereitgestellt hat. Mats erzählt von den grob behauenen Felswänden, Kerzen am Abend, von nicht vorhandenen Fenstern.

»Gemütlich«, sagt Marlene ironisch, und als Mats und Enno draußen beim Planschbecken sind, an Veras Adresse, aber so, dass Jonas es hören kann: »Wie lange wollt ihr das eigentlich noch machen?«

Jonas weiß, was die Frage soll. Marlene ist der Ansicht, dass ein Blog kein Beruf ist, auch kein Ersatz dafür. Bei mehr als...

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Autor

Sascha Reh, geboren 1974 in Duisburg, studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik in Bochum und Wien. Für seine Romane wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. 2011 mit dem Niederrheinischen Literaturpreis, 2014 mit dem Lotto Brandenburg Kunstpreis Literatur und 2015 mit dem Literaturpreis Ruhr. 2017 war er Stipendiat der Deutschen Akademie Rom in der Casa Baldi, 2018 wurde er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis nominiert. Sascha Reh lebt mit seiner Familie bei Berlin.

Bei diesen Artikeln hat der Autor auch mitgewirkt