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Gegen die Zeit

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
360 Seiten
Deutsch
Schöffling & Co.erschienen am04.08.2015
'Anfang der siebziger Jahre herrscht Aufbruchsstimmung in Santiago de Chile: Der sozialistische Präsident Salvador Allende ist fest entschlossen, das Land aus seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit zu führen und die Not der verarmten Bevölkerung zu mildern.Dafür setzt er auf ein kühnes Projekt: Die Fabriken des unwegsamen Andenstaates sollen vernetzt und von einem zentralen Rechner gesteuert werden. Ein internationales Team, unter ihnen der junge deutsche Industriedesigner Hans Everding, wird beauftragt, das Datennetzwerk aufzubauen. Begeistert ergreift Hans die Chance, an der Revolution mitzuwirken und für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen.Der Putsch des Militärs setzt diesem Traum jäh ein Ende. Alle, die an dem Netzwerk mitgearbeitet haben, geraten in Lebensgefahr. Niemand weiß, wer Freund und wer Feind ist, und die gesammelten Daten dürfen keinesfalls in falsche Hände geraten.'Gegen die Zeit' erinnert an ein historisches Experiment mit überraschender Aktualität: eine dramatische Geschichte von Aufbruch und Enttäuschung, von Vertrauen und Verrat.'

Sascha Reh, geboren 1974 in Duisburg, studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik in Bochum und Wien. Für seine Romane wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. 2011 mit dem Niederrheinischen Literaturpreis, 2014 mit dem Lotto Brandenburg Kunstpreis Literatur und 2015 mit dem Literaturpreis Ruhr. 2017 war er Stipendiat der Deutschen Akademie Rom in der Casa Baldi, 2018 wurde er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis nominiert. Sascha Reh lebt mit seiner Familie bei Berlin.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR21,95
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

Klappentext'Anfang der siebziger Jahre herrscht Aufbruchsstimmung in Santiago de Chile: Der sozialistische Präsident Salvador Allende ist fest entschlossen, das Land aus seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit zu führen und die Not der verarmten Bevölkerung zu mildern.Dafür setzt er auf ein kühnes Projekt: Die Fabriken des unwegsamen Andenstaates sollen vernetzt und von einem zentralen Rechner gesteuert werden. Ein internationales Team, unter ihnen der junge deutsche Industriedesigner Hans Everding, wird beauftragt, das Datennetzwerk aufzubauen. Begeistert ergreift Hans die Chance, an der Revolution mitzuwirken und für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen.Der Putsch des Militärs setzt diesem Traum jäh ein Ende. Alle, die an dem Netzwerk mitgearbeitet haben, geraten in Lebensgefahr. Niemand weiß, wer Freund und wer Feind ist, und die gesammelten Daten dürfen keinesfalls in falsche Hände geraten.'Gegen die Zeit' erinnert an ein historisches Experiment mit überraschender Aktualität: eine dramatische Geschichte von Aufbruch und Enttäuschung, von Vertrauen und Verrat.'

Sascha Reh, geboren 1974 in Duisburg, studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik in Bochum und Wien. Für seine Romane wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. 2011 mit dem Niederrheinischen Literaturpreis, 2014 mit dem Lotto Brandenburg Kunstpreis Literatur und 2015 mit dem Literaturpreis Ruhr. 2017 war er Stipendiat der Deutschen Akademie Rom in der Casa Baldi, 2018 wurde er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis nominiert. Sascha Reh lebt mit seiner Familie bei Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783731760764
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum04.08.2015
Seiten360 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2017 Kbytes
Artikel-Nr.3201776
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


0001

DER DRITTE WEG

Ich war Anfang 1969 nach Frankfurt gekommen, nachdem ich an der Fachhochschule für Gestaltung in Ulm Industriedesign studiert und mein Diplom mit 23 abgelegt hatte - als einer der Jüngsten, seit es den Studiengang gab.

In einen Betrieb zu wechseln, kam für mich nicht infrage. Forschung und Lehre hätten mir durchaus offengestanden und interessierten mich weitaus mehr als Lohnerwerb, doch ich wollte nicht in Ulm bleiben. Einige Monate lang erschien mir alles, was ich hätte beginnen können, als die Art Falle, in die, jeder auf seine Weise, auch meine Eltern geraten waren. Ich wollte nicht in irgendeiner Firma landen, um dort Tand so aufzuhübschen, dass ein Bedürfnis an die Stelle trat, wo vorher keines gewesen war. Ich wollte kein Teil jener Maschinerie sein, die die Menschen lediglich als Werktätige oder Konsumenten sieht. Meine Euphorie ist mir nach allem, was geschehen ist, abhandengekommen, aber noch vor drei Jahren war ich überzeugt, Sullivans »form follows function« könne tatsächlich die Gesellschaft verändern. In Ulm hatte ich dafür eine zeitgemäße Formensprache gefunden, die Design wirklich in die Lebenswelt der Menschen zu integrieren versuchte. Über diese, wahrscheinlich ist das der Preis für fachliche Obsession, wusste ich allerdings wenig.

Ich ging nach Frankfurt, um mich dort für Soziologie einzuschreiben. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich das Studium war oder die Protestbewegung, die mich dorthin zogen; vielleicht war es auch etwas, das über beides hinausging. Ich besorgte mir ein kleines Zimmer und fand schnell einen Hilfsjob als Bauzeichner, mit dem ich mein Studium finanzieren konnte.

Meine Immatrikulation an der Goethe-Universität wäre allerdings fast vereitelt worden. Mehrere Tage im Frühjahr hatten Studenten die Verwaltung der Universität blockiert, um alle Immatrikulationen und Rückmeldungen zu verhindern. Daniel Cohn-Bendit hatte zu diesem Boykott aufgerufen, wenngleich erst, so wurde kolportiert, nachdem er selbst sich zurückgemeldet hatte. Jedenfalls protestierten Tausende auf dem Campus und hinderten die Studenten am Zugang zur Verwaltung, selbst unter Polizeischutz gelang es den meisten nicht, die Blockade zu durchbrechen. Und so musste auch ich draußen bleiben.

Am Anfang schloss ich mich den Protesten nicht an, im Gegenteil, schließlich war ich von ihren Auswirkungen betroffen. Außerdem hatte ich durchaus meine Schwierigkeiten herauszufinden, was überhaupt ihr Anlass war. Während ich neugierig durch die hin und her schwappende Menge mäanderte und gelegentlich nach Feuer sowie den näheren Umständen der Veranstaltung fragte, erhielt ich die unterschiedlichsten Antworten. Es gehe selbstverständlich um den Krieg, sagte einer, oder vielmehr gegen die Militärdiktatur in Griechenland, wie ein Zweiter präzisierte, was allerdings Unfug sei, so ein Dritter, weil jeder wisse, dass man gegen den kalifornischen Gouverneur Ronald Reagan protestiere, der die Studenten in Berkeley vom Militär hatte niederknüppeln lassen. Von alldem wusste ein Vierter wiederum nichts, ließ sich allerdings mit mir gemeinsam von einem kundigen Fünften belehren, dass unsere Unkenntnis der Situation von bourgeoiser Ignoranz, wenn nicht barem Schwachsinn zeuge. So ging das noch einige Zigarettenlängen weiter, bevor meine beharrlichen Erkundigungen schließlich ergaben, dass im Fokus der Proteste ein iranischer Student stand, den die Bundesregierung nach irgendeiner nichtigen Verfehlung in den Iran hatte abschieben wollen; seine »Deportation« sei allerdings in letzter Sekunde von einem »Kommando« des SDS noch auf dem Rollfeld des Frankfurter Flughafens vereitelt worden. Nun wolle sich der Perser wieder an der Goethe-Universität einschreiben, was ihm aber behördlicherseits verboten worden sei.

Irgendwo vor uns brach Lärm aus, Glas splitterte; durch die Luft kroch der gärende Gestank von Buttersäure.

»Das heißt, weil der Perser sich nicht einschreiben darf, soll es keiner dürfen?«, wollte ich wissen. Mein Gegenüber, ein bärtiger Student mit fränkischem Einschlag, unterwies mich in beeindruckender Rhetorik, dass der Fall Taheris, so der Name des Persers, als Symptom der allgemeinen Beschneidung verbürgter Freiheitsrechte interpretiert werden müsse und dass es auf der Weltbühne imperialer Repression letztlich ein Minimalanspruch des Klassenbewusstseins sein sollte, seine Kritik in konkreten Aktionen wie diesen zu entfalten - die affirmativen Kräfte des Bestehenden würden andernfalls jedwede Solidarität ersticken.

Wiewohl der Mensch von knöchernem Ernst war und seine in der Frühlingssonne spiegelnden Brillengläser mich daran hinderten, ihm in die Augen zu sehen, nahmen mich sein vertrauter Dialekt und mehr noch die fraglose Selbstverständlichkeit seines Vortrags für ihn ein. Er redete, als könne sich das alles jeder, der nur wolle, ohne große Mühe selbst herleiten, statt sich von der offiziellen Meinungsindustrie dumm machen zu lassen.

Um uns herum wurde ein Katalog von Parolen skandiert, eine Art Medley all der Beschwerden des Zeitgeistes, denen die Studenten Gehör verschaffen wollten. Natürlich hatte ich sie auch in Ulm schon gehört - die Meldungen über das Massaker von My Lai, den Obristenputsch der Rechten in Griechenland, die Unruhen in Berkeley -, allerdings war mir das alles dort unten sehr fern geblieben. Hier hingegen, in Frankfurt, war es kaum möglich, sich dem allgemeinen Gefühl zu entziehen, dass die Zeit zum Handeln gekommen sei, wie auch immer.

An diesem Tag schrieb ich mich nicht ein, weil die Belagerung des Campus durch die Studenten und in wachsendem Maße durch die Polizei schließlich in einen heftigen Straßenkampf mündete. Die Aggression sei - zumindest war das so am nächsten Tag in den Zeitungen zu lesen - von den Demonstranten provoziert worden, die »ohne Anlass« Flaschen, Steine und sogar Molotowcocktails gegen die Polizei geworfen hätten. Die Frage, wer angefangen hatte, war für mich allerdings irrelevant geworden, seit ich in der Nacht gemeinsam mit einer fröhlichen Hebammenschülerin namens Claudia Wuppke und ihrer politisch, so schien es, eben im Erwachen begriffenen Clique bei einer friedfertigen Sitzblockade von einer offensichtlichen Übermacht der Polizei mit Wasserwerfern und Schlagstöcken überrannt worden war. Eben noch hatten wir geschwatzt und gesungen, zum Zeltlager hatte eigentlich nur noch ein Lagerfeuer gefehlt, eine Flasche Wein machte die Runde, da tauchte eine teils berittene Garde der Polizei in Kampfmontur auf, und unsere zufällig konstituierte Gruppe zerstob in ihre Einzelteile. Ich rannte; als ich mich umsah, hatte ich die anderen aus den Augen verloren. Während ich selbst, ich weiß nicht wie, mich allen Handgreiflichkeiten entziehen konnte und mich ein wenig fühlte wie bei einer erwachsenen Version von Räuber und Gendarm, ging es für viele nicht so harmlos zu. Männer wie Frauen wurden, teilweise an ihren Haaren, über den Asphalt gezerrt, während drei, vier oder fünf Polizisten wie im Rausch auf sie eindroschen. Diese Übergriffe durchkreuzten schon bald Strategie und Ziel meiner eigenen Bewegungen, irgendwie schloss ich mich einer anderen Gruppe an, und bald entsann ich mich schon nicht mehr, welche Absperrung wir zu überwinden versuchten und aus welchem Grund. Was wir wollten, schien überhaupt unerheblich: Plötzlich waren wir im Widerstand.

Irgendwann tauchte aus der nur von Leuchtgranaten erhellten Dunkelheit ein Karren mit Pflastersteinen auf, wie eine Lieferung per Expressversand, bitte bei Erhalt quittieren: Ausgestattet mit diesem Kampfmaterial erschien es nicht nur mir völlig folgerichtig, es auch zu benutzen. Ich spürte wenig von meiner Furcht, geschweige denn Skrupel, dafür eine mir bis dahin völlig unbekannte Erregtheit, die Furcht in Aktion übersetzte. Mir stand das Bild eines Abenteurers vor Augen, eines Gerechten, der in irgendwelchen Wirrnissen kämpft, über deren Zusammenhänge er kaum etwas weiß, nicht für sich selbst, sondern für andere, und sich darin für einen Gesandten in heiliger Angelegenheit hält.

Letztlich entkam ich im allgemeinen Durcheinander durch Bockenheimer Nebenstraßen, in denen brusthoch das Tränengas stand, wie ein Nachtschwärmer nach reizvollen, aber kraftraubenden Ausschweifungen.

Auf meiner Bude am nächsten Morgen fühlte ich mich wie verkatert, während mir nach und nach die Details jener Dummheiten wieder ins Bewusstsein stiegen, zu denen ich mich in der Menge hatte hinreißen lassen. Mein erster Gedanke nach dem Aufwachen galt jenem gesichts- und namenlosen Beamten, den ich vielleicht verletzt, jenem unbeteiligten Privatmenschen, dessen Auto ich ganz sicher beschädigt hatte. Wozu, fragte ich mich: Was hatte mich da geritten? Mein Gerechtigkeitsgefühl? Die Inbrunst der Nacht war mir peinlich. Von dem Perser hörte ich nie wieder.

Wenn ich zurückdenke an die Monate im Sommer 1969, als die Motoren des Protestes auf höchster Umdrehung heißliefen und sich schließlich an dem festfraßen, was damals wie heute gesellschaftlicher Konsens war, kann ich in mir keine Wut entdecken, nicht einmal Empörung, lediglich Erstaunen. Es war vermutlich mein schlechtes Gewissen angesichts fehlender Solidarität, das mein Engagement, oder was ich dafür hielt, entfacht hatte.

Das schlechte Gewissen blieb; mein Engagement aber nahm ich mir nicht ab. Nach der Befreiung Baaders erlebte ich den Verfall einer politischen Kultur, die Argumente durch unablässiges Geschrei ersetzte. Ich beobachtete das mit einem Gefühl wachsenden Heimwehs nach dem Frankfurt, das ich mir ersehnt hatte, so als wären die,...

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Autor

Sascha Reh, geboren 1974 in Duisburg, studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik in Bochum und Wien. Für seine Romane wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. 2011 mit dem Niederrheinischen Literaturpreis, 2014 mit dem Lotto Brandenburg Kunstpreis Literatur und 2015 mit dem Literaturpreis Ruhr. 2017 war er Stipendiat der Deutschen Akademie Rom in der Casa Baldi, 2018 wurde er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis nominiert. Sascha Reh lebt mit seiner Familie in Berlin.
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Reh, Sascha

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