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Jubiläumsmorde. Mord am Hellweg X

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
352 Seiten
Deutsch
Grafit Verlagerschienen am26.08.2021Auflage
Großes Jubiläum: ?Mord am Hellweg? geht in die zehnte Runde! Auch im Jubiläumsjahr schickt das größte Krimifestival Europas namhafte Autorinnen und Autoren der deutschen und internationalen Krimiszene in die Hellweg-Region. Zwischen Lippstadt, Unna und Witten, Hamm und Iserlohn wird munter gemordet - und um das zehnte Jahr gebührend zu feiern, wird der Kreativität der Autor*innen dieses Jahr keine Grenze gesetzt. Ein festes Thema? Fehlanzeige. Stattdessen gilt: Alles kann, nichts muss. Aber ein Toter ist Pflicht!

H.P. Karr heißt im wirklichen Leben Reinhard Jahn und gehört zu den Mitbegründern des 'Bochumer Krimi Archivs', das alljährlich die Vergabe des 'Deutschen Krimi Preises' organisiert.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,00
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextGroßes Jubiläum: ?Mord am Hellweg? geht in die zehnte Runde! Auch im Jubiläumsjahr schickt das größte Krimifestival Europas namhafte Autorinnen und Autoren der deutschen und internationalen Krimiszene in die Hellweg-Region. Zwischen Lippstadt, Unna und Witten, Hamm und Iserlohn wird munter gemordet - und um das zehnte Jahr gebührend zu feiern, wird der Kreativität der Autor*innen dieses Jahr keine Grenze gesetzt. Ein festes Thema? Fehlanzeige. Stattdessen gilt: Alles kann, nichts muss. Aber ein Toter ist Pflicht!

H.P. Karr heißt im wirklichen Leben Reinhard Jahn und gehört zu den Mitbegründern des 'Bochumer Krimi Archivs', das alljährlich die Vergabe des 'Deutschen Krimi Preises' organisiert.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783894257651
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum26.08.2021
AuflageAuflage
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1357 Kbytes
Artikel-Nr.9755536
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Friedrich Ani

Der Tod kommt heim nach Werl

Die Kälte war schneller als der Tod. Er spürte sie in den Augen; für ein paar Sekunden, vielleicht sogar Minuten, lenkten ihn die Stacheln des Windes vom flammenden Schmerz in seiner Brust ab. Er musste so heftig blinzeln, dass er sich einbildete, Blitze zu sehen, grotesk verschleierte Gestalten, die wie durch einen roten Sandsturm irrten. War er das? Nein; sie waren zu zweit, der riesige Nils und der andere, dessen Name ihm nicht einfiel, obwohl er ihn seit Ewigkeiten kannte.

Wieder krümmte er sich auf dem Asphalt. Über die Bewegungen seines Körpers hatte er keine Kontrolle mehr, schon seit â¦ Als bräuchte er dringend Klarheit darüber, schätzte er den Weg ab, den er zurückgelegt hatte; knapp zwei Kilometer müssten es gewesen sein. Sofort loderte die Wunde in seinen Eingeweiden auf; er stieß einen Schrei aus. Das bildete er sich bloß ein; sein Atem brachte keine Stimme mehr zustande, nicht einmal einen Schmerzenslaut; sein Wimmern ein dürftiges Kräuseln von Luft im Hals.

Henning Schultheiß, zweiundvierzig, eins einundsiebzig, achtundachtzig Kilo, fehlte jegliche Vorstellung von seiner Gegenwart. Gekrümmt, blutverschmiert, seine schrundige Wildlederjacke durchtränkt von Blut und vollends ruiniert von den Stürzen auf den Bürgersteig, seine blonden, gewöhnlich streng gegelten Haare ein strohiges Nest, das fleischige Gesicht steingrau - so lag er wie ein hingeworfenes Bündel neben seinem Restaurant, das er von den Eltern geerbt hatte, heimgesucht von unaufhörlich rotierenden Gedanken, die ihn daran hinderten, das Bewusstsein zu verlieren und zu sterben.

Er wusste, dass der Schuss tödlich sein würde. Er wunderte sich, dass er nicht längst tot war. Der Idiot hätte besser zielen müssen, dachte er vage und sah ihn plötzlich, wie leuchtend von fluoreszierendem Licht, vor sich, in voller Größe, den Kragen seines angeberischen Ledermantels hochgeschlagen, in der Hand, am lässig baumelnden Arm, die Pistole, auf die er so stolz war: Nils Balken, noch keine vierzig, eins dreiundneunzig, knapp achtzig Kilo, ein seit jeher durchtrainierter Kerl mit roten Haaren und lächerlichen Sommersprossen mitten auf der Stirn - einer, den niemand mochte und dem trotzdem alle hinterherliefen. Er nicht, Henning, er bestimmt nicht mehr.

Oder?

Oder was?

Er war hier geboren, der nicht; er stammte aus der Gastro, der nicht; er hatte schon Verantwortung übernommen, da verscherbelte der andere noch Klappstühle beim Meckler; zu ihm kamen die Leute bis aus Paderborn und Bochum, die Wallfahrer und Touristen, treue Gäste; in der abgewrackten Kneipe von dem, gleich beim Lippstädter Bahnhof, hingen Verlierer rum, Junkies und Hartzer, solche und sonst niemand; sein Lokal hieß »Sälzerhof«, die Kaschemme in Lippstadt »Corleone«; das sagte alles.

Die Eltern von dem waren aus Berufsgründen aus dem Ruhrgebiet nach Werl gezogen; Lehrersöhnchen, dachte Henning. Seit ihrer ersten Begegnung nannte Nils ihn Schulti, was Henning zum Kotzen fand. Aus irgendeinem Grund hatte er es nie geschafft, sich den Namen zu verbitten. Wieso eigentlich nicht?, fragte er sich, sogar jetzt, in diesem erbärmlichen Zustand. Zu feige? Wieso? Nur weil der Ruhrpottler fast zwei Köpfe größer war als er? Und angeblich in der Kung-Fu-Akademie trainierte?

Daran wollte Henning nicht denken. Er wollte überhaupt nicht denken, sondern aufstehen und klingeln und seine Eltern wecken. Krampfhaft überlegte er, wie spät es sein mochte. Mitten in der Nacht, oder war es einfach immer noch dunkel und schon gegen fünf? Dann würde sein Vater gleich aufwachen; kurz darauf duftete das ganze Haus nach frischem Kaffee und â¦ Und sein bester Freund Theo hatte bei ihm übernachtet; auf dem Weg zur Schule würden sie den Autofahrern auf der Hammer Straße zuwinken, die in Richtung Autobahn unterwegs waren, und bei Frau Friedl in der Steinerstraße zwei Brezeln kaufen und â¦

Und das war doch nicht wahr! Du wirst nie wieder eine Brezel kaufen, sagte die Stimme in ihm, die früher einmal die seine gewesen war und jetzt zu einem Leichnam gehörte.

Er war noch nicht tot.

Oder doch?

Ihm kam es vor, als wäre er eingebunkert in einen Kühlschrank, mit offenem Gefrierfach, und seine Hände klebten an den Wänden fest. Die eisgekühlten Ouzogläser bei Nikos, er sah sie vor sich, aufgereiht zwischen ihnen - ihm, Nils, Jan und Theo; und dann auf ex; anschließend schnippte Nils mit dem Finger. Maria, die Wirtin, hasste das; sie brachte eine neue Runde und sagte zu Nils, er möge das lassen. Was?, fragte er, und sie sagte, frag nicht so dumm, und er: Trink was mit uns. Sie ging weg. Beim nächsten Mal schnippte er wieder; sie sagte nichts; beim übernächsten Mal sagte sie zaghaft, er möge das bitte nicht mehr machen, das sei unhöflich. Und er: Was denn? Und sie? Ging weg, wortlos.

Fast hörte er ihre Stimmen wieder. Auch bemerkte er die Blicke seines Freundes Theo. Er nickte ihm zu und zeigte mit der Spitze des Steakmessers, mit dem er das Fleisch jedes Mal in quadratische Stückchen teilte, zur Tür, unbemerkt von den anderen. Wahrscheinlich wollte Theo ihm bedeuten, zu verschwinden und die Situation nicht eskalieren zu lassen. War s so? So war s. Oder verwechselte er den Tag, den Monat? Er war dann tatsächlich rausgegangen, auf den Parkplatz â¦

In seinem Kopf, glaubte Henning, bildeten sich Eisschollen. Er musste schneller denken, herausfinden, was passiert war. Wieso hatte die schöne Maria den Angeber weiter bedient, anstatt ihn endlich rauszuschmeißen? Sie war die Wirtin, sie hatte das Recht dazu; sie traute sich nicht; wieso nicht?

Und wieso hatte Nils auf ihn geschossen?

Wo? Nicht im Lokal, das stand fest. Wie war er vom »Nikos« durch die Fußgängerzone bis in die Hammer Straße gelangt? Das war unmöglich. Nils hatte ihn erschossen.

Nein.

Er atmete doch noch.

Mit immenser Anstrengung hob Henning Schultheiß den Kopf - oder er bildete es sich ein - und horchte; wie von selbst öffnete sich sein Mund; staubiger, körniger Wind wehte hinein; so borgte Henning sich Atem aus der Luft und fächelte gleichzeitig das Feuer in ihm. Unbestellte Erinnerungen verstörten ihn.

In so manch kreiselnder Nacht war er aus dem »Nikos« getorkelt - vielleicht nach einem Abschiedskuss von Maria -, auf der Suche nach der ihm gemäßen Richtung; wie ein abgefüllter Kanadier in der Nachkriegszeit, der vor seinem Stammlokal in der Krämergasse Ausschau nach seinem Camp im Stadtwald hielt, drehte Henning sich am Ende der Melsterstraße im Kreis, bis er nach Gutdünken übers Kopfsteinpflaster schlurfte und alle fünf Meter an ein Schaufenster klopfte. Was er damit bezweckte, blieb ihm ein Rätsel. Befand er sich in Begleitung seines besten Freundes Theo, klopften sie beide an die Scheiben, abwechselnd oder synchron; sie trommelten einen Rhythmus, der gelegentlich zu wütenden Protesten aus der Nachbarschaft führte; unmusikalische Anwohner rissen die Fenster auf und schrien nach Ruhe.

Sie haben geschrien, sagte die Stimme in ihm, sie haben sich getraut. Wir nicht, Maria und ich, wir haben Nils Balken kein einziges Mal in die Schranken gewiesen. Schon damals nicht, als er aus lauter Überdruss und Gehässigkeit und im Vollrausch ein Fenster in einem der letzten Erbsälzerhäuser einschlug und einen selbst gebastelten Molotowcocktail reinwarf; die Mieter, das hatte er erfahren, hielten sich zu dem Zeitpunkt an der Ostsee auf. Was er nicht wusste, war: Das Ehepaar hatte der fünfundsechzigjährigen Schwester der Frau die Wohnung überlassen; sie war eine passionierte Wallfahrerin; zum ersten Mal besuchte sie die päpstliche Basilika mit der aus dem zwölften Jahrhundert stammenden Marienstatue, zu der jedes Jahr Hunderttausende Menschen pilgerten. Die alte Dame erstickte im Rauch. Keine Zeugen - abgesehen von denen, die Jahre später in einem griechischen Lokal einen Stammtisch bildeten, gemeinsam mit dem Mörder: Jan Gödde, Theo Baum, Henning Schultheiß.

War was, Schulti?, fragte Nils einen Monat später, nachdem die Ermittlungen zu keinem Ergebnis geführt hatten und Anita Glaubert, das Opfer, in ihrer Heimatstadt Nürnberg beigesetzt worden war.

Niemand hatte geredet. Wir müssen endlich die Wahrheit sagen, dachte Henning, und dann: Das hab ich doch getan! Wann? Heute! Gestern?

Auf dem Rücken liegend, starrte er in den schwarzen Himmel, seine Hände, über Kreuz auf dem Bauch, fühlten sich nass und klebrig an; Hagel prasselte auf ihn nieder. Im nächsten Moment begriff er: Das war kein Hagel, das mussten die gefrorenen Fäuste des Windes sein; eine andere Erklärung gab es nicht; die Fäuste trommelten auf ihn ein, so, wie er als Betrunkener an die Schaufenster der Geschäfte getrommelt hatte, an die Metzgerei vom Lugauer, an das Bekleidungsgeschäft der Familie Kopeck, an die Marien-Apotheke, an die Tür der Bäckerei Friedl. Und wie einst, so scheuchte er auch jetzt, in dieser gottverfluchten Januarnacht, von irgendwoher Leute auf; unsichtbar, unüberhörbar schrien sie auf ihn ein, das Lügen sein zu lassen, das von Grund auf verkehrte, lächerliche Leben.

Am Ende eines lächerlichen Lebens wollte er nicht sterben.

Er wollte, dass das Leben richtig gewesen war, bevor er sterben durfte.

Zu spät, dachte er, maßlos verwirrt über seinen nächsten Atemzug.

Für Nils Balken war die Sache ein Versehen. Weiterführende Gedanken über den Gesundheitszustand seines Partners machte er sich auf dem Weg zurück ins Lokal eher weniger. Partner? Das hatte sich anscheinend erledigt. Blöder Hund, dachte Nils. Er steckte die...
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Autor

H.P. Karr heißt im wirklichen Leben Reinhard Jahn und gehört zu den Mitbegründern des "Bochumer Krimi Archivs", das alljährlich die Vergabe des "Deutschen Krimi Preises" organisiert.