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Das Versprechen der Dunkelheit

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
480 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am01.06.2023
Für Francesca scheint ein Traum wahr zu werden: Sie und ihr Mann können in eine Wohnanlage am Rande Roms ziehen, wo fast nur junge Familien wohnen. Hier wird sie in Ruhe ihre Kinderbücher zeichnen können, hier werden ihre beiden Kinder Spielgefährten finden.
Doch ihr Mann arbeitet viel und ist kaum zu Hause, und so sehr die neuen Nachbarn sie auch willkommen heißen, so unheimlich empfindet Francesca bald die geschlossene Gesellschaft. Allein zu Fabrizio, einem stillen Cellisten, fasst sie Vertrauen und fühlt sich mehr und mehr zu ihm hingezogen.
Als eines Morgens ein Kind spurlos verschwindet, bricht die Vorstadtidylle zusammen, der Verdacht nistet sich in der Anlage ein, richtet sich gegen Fabrizio, und Francesca gerät in einen Sog namenloser Angst.

Antonella Lattanzi wurde 1979 in Bari geboren und studierte Literatur in Rom. Sie arbeitet als Drehbuchautorin für das Kino und ist für ihr Werk mit diversen Preisen ausgezeichnet worden. Seit 2010 unterrichtet Lattanzi an der von Alessandro Baricco und Carlo Feltrinelli gegründeten berühmtesten Schule Italiens für Creative Writing, der Scuola Holden. Antonella Lattanzi lebt in Rom.?
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Produkt

KlappentextFür Francesca scheint ein Traum wahr zu werden: Sie und ihr Mann können in eine Wohnanlage am Rande Roms ziehen, wo fast nur junge Familien wohnen. Hier wird sie in Ruhe ihre Kinderbücher zeichnen können, hier werden ihre beiden Kinder Spielgefährten finden.
Doch ihr Mann arbeitet viel und ist kaum zu Hause, und so sehr die neuen Nachbarn sie auch willkommen heißen, so unheimlich empfindet Francesca bald die geschlossene Gesellschaft. Allein zu Fabrizio, einem stillen Cellisten, fasst sie Vertrauen und fühlt sich mehr und mehr zu ihm hingezogen.
Als eines Morgens ein Kind spurlos verschwindet, bricht die Vorstadtidylle zusammen, der Verdacht nistet sich in der Anlage ein, richtet sich gegen Fabrizio, und Francesca gerät in einen Sog namenloser Angst.

Antonella Lattanzi wurde 1979 in Bari geboren und studierte Literatur in Rom. Sie arbeitet als Drehbuchautorin für das Kino und ist für ihr Werk mit diversen Preisen ausgezeichnet worden. Seit 2010 unterrichtet Lattanzi an der von Alessandro Baricco und Carlo Feltrinelli gegründeten berühmtesten Schule Italiens für Creative Writing, der Scuola Holden. Antonella Lattanzi lebt in Rom.?
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641286606
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum01.06.2023
Seiten480 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4063 Kbytes
Artikel-Nr.10228863
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


PROLOG

Unter dem unerbittlichen Ansturm der Wirklichkeit bleibt niemand unversehrt.

Wir stemmen uns gegen den Wind und setzen unseren Weg fort. Manche von uns können irgendwann nicht mehr und gehen wie vom Blitz getroffen zu Boden. Andere machen weiter. Stocksteif und mit eingezogenem Kopf ziehen sie im Unwetter die Mäntel enger um sich und geben nicht auf. Wieder andere müssen noch lernen: die Sonne zu sehen, auch wenn sie nicht scheint, oder die Wolken zu beobachten, um im richtigen Moment einen Ortswechsel vorzunehmen, jederzeit bereit, den ersten Lichtstrahl einzufangen. Sich aufzuwärmen.

Niemand ist mehr im Recht oder im Unrecht als die anderen. Niemand hat eine Schlacht gewonnen oder verloren. Wir alle haben einfach nur versucht zu leben, so gut es eben geht. Wir alle, die wir in diese Welt hineingeworfen wurden, sind heldenhaft.

Als meine Mutter mit meiner Schwester und mir in das Viertel zog, in dem wir aufwachsen sollten, war der Vorfall bereits geschehen. Nur wenige Monate zuvor. Damals, als wir dort ankamen, war noch vieles unklar. Das Wichtigste.

Alle dort nannten es nur den Vorfall.

Es war in unserer Wohnanlage passiert. In unserem Gebäude.

Ich war damals acht Monate alt und noch zu klein, um etwas zu verstehen. Auch meine Schwester war noch zu klein - sie war vier. Doch dass dort etwas nicht stimmte, merkten wir schon sehr bald.

Alle Eltern unserer Wohnanlage, auch meine Mutter, ließen uns Kinder nie allein in den Hof. Stets mussten wir in Sicht- und Hörweite bleiben. Nicht in der irgendeines uns bekannten Erwachsenen - eines Nachbarn aus demselben Stockwerk zum Beispiel oder eines langjährigen Bekannten unserer Eltern, eines Verwandten. Auch nicht in der eines Großvaters oder einer Großmutter. Ich bekam mit, dass es Frauen gab, die ihre Kinder nicht dem eigenen Ehemann anvertrauten beziehungsweise Männer, die ihre Kinder nie mit der Ehefrau allein ließen. Das sah ich, und das sah auch meine Schwester. Wir haben das damals beide mitbekommen. Es war unmöglich, es nicht zu sehen. Doch meine Schwester und ich haben uns nie gefragt, warum es so war. Wir waren dort praktisch geboren worden.

Die Schule war ganz nah, doch keines der Kinder unseres Viertels ist jemals allein oder mit Freunden dorthin gegangen, wie es ab einem gewissen Alter üblich ist. Irgendetwas stimmte dort nicht, das merkten wir. Aber unser Vater hatte die Familie kurz vor dem Umzug verlassen, und meiner Mutter ging es nicht gut, ihr ging es generell nicht gut. Meine Schwester und ich hatten zu viel anderes im Kopf, um uns mit dem Vorfall auseinanderzusetzen.

Als ich siebzehn war, sah ich meinen Vater nach langer Zeit wieder. Er verplapperte sich und verriet, was passiert war. Vielleicht dachte er, unsere Mutter hätte uns davon erzählt. Es war etwas Entsetzliches - etwas ganz Schlimmes, aber mit Sicherheit kein Vorfall.

Es gab Gründe dafür, jemand hatte es getan, und zwar ganz bewusst. Etwas so Entsetzliches, dass ich verstand, warum es diesen Ort für immer brandmarkte. Manche glauben, dass Orte von Geistern heimgesucht werden. Sie sind dann verflucht, heißt es. Ich weiß nicht recht, was ich glauben soll. Aber ich bin mir sicher, dass manche Orte Schmerz in sich tragen. Allerdings auch Liebe.

»Wann habt ihr es erfahren?«, fragte ich meinen Vater, als ich vor einer Pizza saß, auf die mir der Appetit vergangen war.

»Kurz bevor wir den Mietvertrag unterschrieben haben«, erwiderte er. »Ein Nachbar hat uns angesprochen und gesagt, der Vorfall sei noch nicht aufgeklärt. Es wäre zu gefährlich, mit zwei kleinen Mädchen dorthin zu ziehen. Ich rate Ihnen aufrichtig: Suchen Sie sich eine andere Wohnung , hat er gesagt. Noch haben Sie ja Zeit. «

»Und ihr?«, fragte ich.

»Wir hatten aber keine Zeit mehr«, meinte mein Vater so leise, dass seine Stimme im Lärm der Pizzeria fast unterging. »Deiner Mutter ging es nicht gut. Sie wollte diese Wohnung unbedingt und war fest davon überzeugt, sie wäre die Rettung.« Er betonte das letzte Wort. Und du, Papa?, hätte ich ihn am liebsten gefragt. Er trank einen Schluck Bier und starrte in sein Glas. »Ich hab es nicht geschafft, ihr das auszureden.« Deshalb hast du uns verlassen? Uns allein an diesem Ort mit ihr zurückgelassen? Ich wusste nicht einmal mehr, dass er uns damals verlassen hatte. Es kam mir so vor, als wäre das alles längst vorher passiert, direkt nach meiner Geburt. Vielleicht hatte meine Mutter mir so etwas erzählt. Hast du uns verlassen, weil wir in Gefahr waren, Papa? So was tut ein Vater nicht. Ein Vater beschützt seine Kinder.

Aber es gibt Dinge, die kann man nicht fragen, sonst geht man daran zugrunde. Stumm haben wir die Rechnung verlangt, ich glaube, wir haben auch noch die kalte und gummiartige Pizza gegessen. Bis auf den letzten Bissen.

Meiner Mutter habe ich beim Heimkommen nichts davon erzählt. Ich wollte sie nicht verletzen. Und mich nicht an ihren Worten verletzen. Ich wollte die Wahrheit nicht wissen. Ich wollte nur meine Ruhe.

Meine Schwester wohnte damals schon nicht mehr bei uns. Ich konnte es mir nicht verkneifen, ihr zu erzählen, was ich von meinem Vater erfahren hatte. »Es ist in unserer Wohnung passiert!«, schrie ich ins Telefon. »Das hätten wir sein können!« Meine Schwester und ich, die als Kinder immer füreinander da gewesen waren, redeten bereits seit einiger Zeit nicht mehr miteinander. Schmerz verbündet. Schmerz trennt. Es war der Schmerz, der mich zum Telefon hatte greifen lassen, um sie anzurufen. Vor allem aber kam mir das Wort Vorfall wirklich wie eine Riesenunverschämtheit vor. Auch uns beiden gegenüber. Meine Schwester meinte, dass man manchen Dingen, die einfach zu schrecklich sind, etwas harmlosere Bezeichnungen gibt, damit sie nicht so wehtun. Wiederhole man die nur oft genug, könnten sie die Vergangenheit verändern. »In gewisser Weise zumindest.«

Die entsetzliche Wahrheit über den Ort, an dem wir gelebt hatten, weckte all die Erinnerungen an unsere Kindheit. Die schönen natürlich, denn die gab es durchaus auch. Vielleicht war es sogar umso schmerzhafter, dass es sie gab. Unsere Mutter hatte uns eine so schwierige Kindheit beschert, dass meine Schwester und ich uns noch heute schwer damit tun, die Vergangenheit hinter uns zu lassen. Doch auf ihre Art hat sie uns fraglos bis zur Selbstaufgabe geliebt. An diese Liebe wollten wir nicht erinnert werden. Wenn einem jemand ausschließlich wehtut, hasst man ihn. Wenn einem jemand ausschließlich guttut, liebt man ihn. Aber wenn einem jemand gut und weh zugleich tut, bleibt einem nicht einmal mehr die unzerstörbare Kraft des Hasses.

Die entsetzliche Wahrheit weckte also sämtliche Erinnerungen an unsere Kindheit. Die schönen, aber eben auch die weniger schönen. Und davon gab es jede Menge. Vielleicht haben wir deshalb, weil wir sie, also unsere Kindheit, nicht ansprechen wollten, nach diesem Telefonat keinerlei Kontakt mehr gehabt. Im Stillen begann auch ich, es den Vorfall zu nennen.

Und dann, man glaubt es kaum, habe ich ihn irgendwann vergessen.

Viele Jahre später - ich hatte den Ort, an dem ich geboren bin, schon seit einer ganzen Weile verlassen - stieß ich in der Zeitung auf eine Meldung: In einer Wohnanlage der Stadt, in die ich gezogen war, war etwas Entsetzliches passiert. Etwas Entsetzliches, gewiss - aber warum hatte ich das Gefühl, es hätte etwas mit mir zu tun? Ich konnte mich gar nicht mehr von dieser Geschichte losreißen, suchte überall nach weiteren Informationen. Warum?

Da fiel es mir wieder ein. Auch in meiner Wohnanlage hatte es, als ich noch ein Kind war, einen Vorfall gegeben, den gleichen Vorfall. Wie hatte ich das bloß vergessen können? Und warum fiel es mir jetzt wieder ein? Ich wollte mich nicht daran erinnern, ich wollte mich nicht an meine Kindheit erinnern, ich wollte mich an gar nichts erinnern.

Die Vergangenheit holt einen immer wieder ein. Sie stöbert einen auf, egal, wo man ist. Ich möchte nicht von der Vergangenheit aufgestöbert werden. Da zog ich einen Schlussstrich. Ich las nichts mehr darüber, recherchierte nicht weiter. Jahrelang. Bis ich eines Tages meine Mutter anrief und mir warum auch immer die Frage herausrutschte: »Wie ging es dir, Mama, als wir noch klein waren?«

Wie geht es dir heute, Mama? Aber so etwas kann man nicht fragen. »Was hast du gesagt?«, fragte sie.

»Nichts, Mama«, wich ich aus.

Doch inzwischen konnte ich mich dem Sog der Vergangenheit nicht länger entziehen. Ich suchte den Ort auf, an dem dieser Vorfall, der meinem so ähnelte, passiert war. Die Wohnanlage, in der er sich zugetragen hatte, gab es als solche nicht mehr. Nur ein verrostetes Gittertor war noch übrig, mit dem ein oder anderen scharlachroten Fleck, der an einigen Stellen hervorblitzte. Stellte man sich direkt davor, sah man, wie die heruntergekommenen Gebäude, die einmal strahlend blau gewesen sein mussten, nun baufällig und verblichen der Witterung trotzten, die Balkongeländer von Rost zerfressen und an mehreren Stellen gebrochen, das Glas von Fenstern und Türen Guillotinen-scharf zersplittert, die Laternen kaputt, die Vegetation tot. Am Boden lagen Putzbrocken, an einigen Stellen waren die Mauern eingestürzt, und Eisenträger ragten aus dem Beton. Man konnte in diese Wohnungen hineinschauen, und es wirkte, als hätte sie jemand überstürzt verlassen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wegen eines Erdbebens, eines Krieges. Oder eines Fluchs.

Es gab auch einen kleinen Spielplatz, beziehungsweise es hatte ihn gegeben: eine Schaukel und eine Rutsche, angenagt vom Zahn der Zeit und vom Regen....

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Autor

Antonella Lattanzi wurde 1979 in Bari geboren und studierte Literatur in Rom. Sie arbeitet als Drehbuchautorin für das Kino und ist für ihr Werk mit diversen Preisen ausgezeichnet worden. Seit 2010 unterrichtet Lattanzi an der von Alessandro Baricco und Carlo Feltrinelli gegründeten berühmtesten Schule Italiens für Creative Writing, der Scuola Holden. Antonella Lattanzi lebt in Rom.¿