Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

(Un)heile Körper im altnordischen Baldermythos

E-BookEPUBDRM AdobeE-Book
990 Seiten
Deutsch
De Gruytererschienen am20.03.20231. Auflage
In der nordischen Religionsgeschichte nimmt der Gott Balder eine merkwürdig ambige Rolle ein. Keineswegs ist er ausschließlich der strahlende Lichtgott der Snorra Edda, der auf heimtückische Weise sein Leben verliert und damit den Untergang des ganzen Kosmos einläutet, die dänische Überlieferung kennt ihn vielmehr als den rücksichtslosen, lustgesteuerten, wenn auch im Ende gleichermaßen todesverfallenen Heroen. Trotz zahlreicher Interpretationszugänge ist es bis heute nicht gelungen, diese widersprüchliche Quellensituation in Einklang zu bringen. Vorliegende Arbeit versucht erstmals die Fragestellung zu wenden und vom Ergebnis her zu überlegen, in welchem mythischen Denkraum die Polysemien des Baldermythos jenseits narrativer Logiken nachgerade unhintergehbares strukturelles Kennzeichen wären: Es ist die Welt des Kults. Die bewusste Entscheidung für den transkulturellen religionswissenschaftlichen Vergleich wird dabei ebenso methodologisch thematisiert wie die Möglichkeiten neuerer und neuester kognitionswissenschaftlicher oder sprachtypologischer Zugänge. Sie ergänzen sich bei der Entschlüsselung prälogischer Körpercodes, die bekanntlich kaum Halt machen vor kulturellen wie disziplinären Grenzen heute wie vor Jahrzehntausenden.


Irina Kößlinger, Ludwig-Maximilans-Universität, München.
mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR210,00
E-BookEPUBDRM AdobeE-Book
EUR210,00

Produkt

KlappentextIn der nordischen Religionsgeschichte nimmt der Gott Balder eine merkwürdig ambige Rolle ein. Keineswegs ist er ausschließlich der strahlende Lichtgott der Snorra Edda, der auf heimtückische Weise sein Leben verliert und damit den Untergang des ganzen Kosmos einläutet, die dänische Überlieferung kennt ihn vielmehr als den rücksichtslosen, lustgesteuerten, wenn auch im Ende gleichermaßen todesverfallenen Heroen. Trotz zahlreicher Interpretationszugänge ist es bis heute nicht gelungen, diese widersprüchliche Quellensituation in Einklang zu bringen. Vorliegende Arbeit versucht erstmals die Fragestellung zu wenden und vom Ergebnis her zu überlegen, in welchem mythischen Denkraum die Polysemien des Baldermythos jenseits narrativer Logiken nachgerade unhintergehbares strukturelles Kennzeichen wären: Es ist die Welt des Kults. Die bewusste Entscheidung für den transkulturellen religionswissenschaftlichen Vergleich wird dabei ebenso methodologisch thematisiert wie die Möglichkeiten neuerer und neuester kognitionswissenschaftlicher oder sprachtypologischer Zugänge. Sie ergänzen sich bei der Entschlüsselung prälogischer Körpercodes, die bekanntlich kaum Halt machen vor kulturellen wie disziplinären Grenzen heute wie vor Jahrzehntausenden.


Irina Kößlinger, Ludwig-Maximilans-Universität, München.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783110789188
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisDRM Adobe
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum20.03.2023
Auflage1. Auflage
Reihen-Nr.133
Seiten990 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.10967635
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


1âEinleitung: Problemstellung und Quellenlage



Balder ist ein geduldiger Gott: Nicht nur in seiner wohl berühmtesten, altnordischen Konzeptualisierung eines leidenden und sterbenden Gottes, so wie ihn bekanntlich der mittelalterliche Mythograph und Literaturtheoretiker Snorri Sturluson in seiner Edda entwirft, sondern gerade auch in seiner scheinbar unbegrenzten Aufnahmefähigkeit von einer Vielzahl weiterer Interpretationsmuster: Balder, der Lichtgott, der Vegetationsgott, der heidnische Christus, das altsemitische Gotteskonzept, Balder, der unsympathische, lustgesteuerte Heroe, der knabenhafte Initiand, Balder, der geopferte Gott, der auferstandene Gott, der gerade nicht auferstandene, der tote Gott, und schließlich, wenn auch am wenigsten beachtet, Balder, der König und Ahne. Tatsächlich ein Wissensberg, ein mountain of previous scholarship ,1 der im Laufe einer nahezu zweihundertjährigen Forschungsgeschichte buchstäblich über dem nordischen Gott zusammengetragen wurde, ohne rechte Hoffnung, dem dermaßen Verschütteten näher zu kommen: [A]âfter two centuries of research they [die Forschung, d. Verf.] are so far from the desired solution that walking round the mountain of previous scholarship appears to hold out greater promise than adding another stone to it. 2 Schließlich gebe es, so Anatoly Liberman (mit Bezug auf den Titel3 seiner Balder-Untersuchung), bis heute wohl keinen einzigen Aspekt im Baldermythos, der nicht kontrovers diskutiert worden sei: All, rather than some, aspects of the Baldr myth are controversial. 4 Ähnlich Kurt Schier, gewiss einer der besten Kenner der Balder-Problematik : Bei der Interpretation des Wesens und der Herkunft von Balder gehen bis heute die Meinungen weit auseinander, und man ist bald völlig verwirrt, wenn man versucht, den verschiedenen Erklärungsversuchen zu folgen. 5 Als besonders schwierig stelle sich dabei die Frage nach den immer wieder postulierten Ähnlichkeiten zu einer gewissen Gruppe östlicher Gottheiten dar, den so genannten sterbendeâ[n] und wiederauferstehendeâ[n] Vegetationsgottheitâ[en] ,6 eine indes ihrerseits hochproblematisierte religionsgeschichtliche Kategorie. Wie etwa diese Ähnlichkeiten, wenn sie denn überhaupt zu erweisen wären, dann beurteilt werden könnten, als lediglich typologische Entwicklungen oder als womöglich wie auch immer geartete historische Abhängigkeiten. Bis dato sei die Forschung damit vor kaum lösbaren Problemen 7 gestanden. Jan de Vries selbst habe innerhalb seiner Altgermanischen Religionsgeschichte zur Balder-Frage mehrere Kehrtwenden vollzogen und damit eher zur Konfusion denn zur Klärung beigetragen.8 Konsens ist also bis heute kaum in Sicht, Einmütigkeit herrscht offenbar nur über die Uneinigkeit.

Die auffallend widersprüchliche Quellensituation mag das Ihre dazu beigetragen haben, sie ist bekanntlich ebenso charakteristisch wie berüchtigt für den Baldermythos. Aber welchem Umstand mögen diese tiefgreifenden Unterschiede in der Überlieferung geschuldet sein? Wem oder was verdankt der Gott Balder seine Ambivalenzen und Polysemien? In der Vergangenheit wurde dies häufig genug dem (Un)-verständnis der christlichen Überlieferer zugeschrieben, also christozentrische Manipulationen, wenn auch aus den unterschiedlichsten Gründen. Aber wie, wenn im Gott Balder diese Gegensätzlichkeiten womöglich schon immer so angelegt wären, wie, wenn er tatsächlich alle diese oben genannten Aspekte in sich vereinigte, dass gerade die Zweideutigkeit sein Hauptwesenszug wäre und die Diskrepanz der Quellenlage das unablässige Abarbeiten an diesem Umstand darstellte? Ja, könnte damit nicht sogar jene narrative Vielfalt zur Verbündeten werden, indem entsprechend die Fragestellung gewendet und vom Ergebnis her gefragt würde: In welchem mythischen (wie rituellen) Denkrahmen sind Widerspruch, Antagonismus, Paradoxie, Unentschiedenheit nachgerade unhintergehbares strukturelles Kennzeichen?

Wir kennen den Baldermythos zunächst einmal in zwei Hauptüberlieferungen, als so genannte nordskandinavische, isländische Version, die am ausführlichsten im ersten Teil der Snorra Edda,9 der Gylfaginning, erscheint. In seiner sorgfältig durchstrukturierten Zusammenstellung altnordischer Mythen berichtet Snorri vom Schicksal des strahlenden Gottes Balder, des Götterlieblings. Er stirbt durch die Hand seines blinden Bruders HÇ«ðr den wohl berühmtesten, tragischsten und konsequenzenreichsten Tod der germanischen Göttergeschichte. In der isländischen Überlieferung, und offenbar nur hier, wird sein Tod zur Krisis, zum Wendepunkt im Götter- wie Menschenschicksal.10 Durch Balders Tod beginnt die Welt nunmehr unaufhaltsam auf ihr Ende zuzusteuern, auf die Apokalypse, ragnarÇ«k (ragnarøkkr), die Götterdämmerung .

Eine dazu - zumindest prima facie - auffallend abweichende, südskandinavische Version liefert der dänische Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus in seinem Geschichtswerk Gesta Danorum,11 die Geschichte der Dänen von ihren sagenhaften Anfängen bis zur Gegenwart des 13. Jhs. Im dritten Buch berichtet Saxo ausführlich vom wechselvollen Schicksal des hier als historisch gedachten dänischen Königs Balderus und seines Gegenspielers Hotherus. In lateinischer Sprache entwirft auch Saxo Grammaticus das Bild einer tödlichen Gegnerschaft, aber wie wenig Übereinstimmung findet sich hier zu Snorris Beschreibung. Glichen sich nicht die Namen der Hauptpersonen Balder, HÇ«ðr (bzw. Balderus und Hotherus), Nanna (die Ehefrau Balders in der isländischen Version, bei Saxo die heftig Umworbene beider Helden und schließlich Ehefrau Hotherus) und einige weitere, in der Tat sehr zentrale Motive, man würde wohl nicht einmal eine Verbindung zwischen beiden Überlieferungen vermuten. Dabei sind die Berichte nicht nur räumlich aufs engste benachbart ,12 wie bereits Gustav Neckel vermerkt, sie sind darüber hinaus auch nahezu zeitgleich abgefasst, Saxo beginnt sein Werk sogar noch zwei Jahrzehnte früher als Snorri (circa um 1200) und ist so betrachtet überhaupt der Erste, der sich eine Zusammenstellung der nordischen Göttergeschichten zur Aufgabe gemacht hat. Beide Schreiber entstammen, wichtig genug, dem gleichen geistigen Milieu. Es ist der christlich abendländische, nordisch mittelalterliche Gelehrtendiskurs, in dem sich ein neuerwachtes Interesse christlicher Gelehrter an ihrer heidnischen Vergangenheit etablieren konnte, eben jene gelehrte Renaissance , durch die auch die Isländer des 12. Jhs. nachhaltig und auf überaus fruchtbare Weise mit antiker Bildung und Literatur in Kontakt kamen.13 Es ist also nicht nur der explizit postpagane Blick auf ein heidnisches Religionskonzept, den beide Autoren teilen,14 man kann wohl auch mit Schier von einem wie auch immer gearteten Zusammenhang zwischen den norwegisch isländischen und den dänischen Vorstellungen ausgehen, eineâ[r] gemeinsameâ[n] Grundlage [â¦], wie auch immer die ausgesehen haben mag. 15 Freilich, die ganz unterschiedlichen Erzählmuster, die diametralen Charakterisierungen der Protagonisten wie Antagonisten machen diese doch bemerkenswert ähnlichen Voraussetzungen dann noch weniger erklärlich.

Beide Erzählungen zeigen sich jeweils auf ihre Weise geschlossen und gut ausgearbeitet, sie erscheinen narrativ plausibel und doch war und ist es offenbar bis heute Snorris Version, die für sich Deutungshoheit beanspruchen kann, es ist seine Version, die bis heute als locus classicus, als die Bedeutungs-Mitte des Baldermythos gelten darf. Snorris Bericht stelle sich fast als untadeliges Ganzes dar, so schon Neckel, wo er hingegen bei Saxo manche Mängel und Unklarheiten entdeckt haben will, entsprechend sei ersterer vorzuziehen.16 Sophus Bugge verweist auf die lange Reihe von ermüdenden Einzelheiten , durch die man sich in Saxos Darstellung durchzuarbeiten habe,17 und die (wohl nicht nur in seinen Augen) den Lesegenuss deutlich schmälerten. An dieser Vorliebe hat sich in der zweihundertjährigen Rezeptionsgeschichte zum Baldermythos kaum etwas geändert. Nun ist es aber wohl gerade diese Untadeligkeit, die wir gut im Auge behalten müssen, in der Forschung hat sie jedenfalls, wohl durchaus zu Recht, auch ein gewisses Misstrauen erweckt:

Snorri s versions of the individual myths and his systematic presentation of the whole mythology are so clear and readable, and his attitude towards pagan religion so non-judgemental, that we are often inclined to take the Edda at face value as a record of the myths of the pagan north as they were actually used in the pagan north. ,If Snorri says it, it must be trueÊ» has frequently been the attitude of modern readers towards his version of the mythology. But we must be wary of letting Snorri s account seduce us into thinking it is a simple record of the stories his pagan ancestors told about the gods, for nothing could be further than the truth.18

In der Tat sind Erzählstrategien, Rezeptionslenkungen, die bei Saxo an vielen Stellen so offenkundig zu Tage treten, bei Snorri bei weitem weniger greifbar, und wenn, erscheinen sie durchaus unaufdringlicher als beim relativ durchsichtigen Kalkül eines Saxo Grammaticus. Das Verletzen bis hin zum...

mehr

Autor

Irina Kößlinger, Ludwig-Maximilans University Munich, Germany.
Weitere Artikel von
Kößlinger, Irina