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Von Mäusen, Menschen und Revolutionen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
264 Seiten
Deutsch
Hamburger Edition HISerschienen am30.05.2023
Was haben Mäuse, Chicago und die Französische Revolution gemeinsam? Sie nehmen in der Biologie beziehungsweise der Sozialforschung jeweils die Rolle von Modellfällen ein. Es handelt sich um besonders beforschte Einzelphänomene, deren Eigenschaften generalisiert werden und unser Verständnis gesellschaftlicher Vorgänge unverhältnismäßig stark prägen. Auch wenn die Untersuchungsgegenstände und Erkenntnisinteressen in den Geistes- und Sozialwissenschaften schwerer zu umreißen sind als in anderen Bereichen, stürzen sich die Forschenden, wie Monika Krause in ihrer viel gelobten Studie zeigt, auf einen Kanon von Objekten: Die Französische Revolution etwa hat allgemeine Vorstellungen des Umsturzes, der Staatsbürgerschaft und der politischen Moderne tiefgreifend beeinflusst, ebenso wie Studien u?ber Ärzt:innen die Agenda fu?r die Forschung über Berufe bestimmt haben. Krause analysiert, wie und warum sich Forschende oft auf immer die gleichen Modellfälle verlassen und wie dieses Vorgehen einer problematischen Selbstbeschränkung gleichkommt, wenn diese Entscheidungen unreflektiert bleiben. Ihr Buch ist ein Wegweiser, um sich Potenziale und Begrenzungen einer Sozialforschung begreiflich zu machen, die selbst maßgeblichen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben hat.

Monika Krause ist Professorin an der London School of Economics und Ko-Direktorin des LSE Human Rights. 2019 erhielt sie den Lewis A. Coser Award fu?r Theoretical Agenda Setting in der Soziologie.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR35,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
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E-BookPDF1 - PDF WatermarkE-Book
EUR31,99

Produkt

KlappentextWas haben Mäuse, Chicago und die Französische Revolution gemeinsam? Sie nehmen in der Biologie beziehungsweise der Sozialforschung jeweils die Rolle von Modellfällen ein. Es handelt sich um besonders beforschte Einzelphänomene, deren Eigenschaften generalisiert werden und unser Verständnis gesellschaftlicher Vorgänge unverhältnismäßig stark prägen. Auch wenn die Untersuchungsgegenstände und Erkenntnisinteressen in den Geistes- und Sozialwissenschaften schwerer zu umreißen sind als in anderen Bereichen, stürzen sich die Forschenden, wie Monika Krause in ihrer viel gelobten Studie zeigt, auf einen Kanon von Objekten: Die Französische Revolution etwa hat allgemeine Vorstellungen des Umsturzes, der Staatsbürgerschaft und der politischen Moderne tiefgreifend beeinflusst, ebenso wie Studien u?ber Ärzt:innen die Agenda fu?r die Forschung über Berufe bestimmt haben. Krause analysiert, wie und warum sich Forschende oft auf immer die gleichen Modellfälle verlassen und wie dieses Vorgehen einer problematischen Selbstbeschränkung gleichkommt, wenn diese Entscheidungen unreflektiert bleiben. Ihr Buch ist ein Wegweiser, um sich Potenziale und Begrenzungen einer Sozialforschung begreiflich zu machen, die selbst maßgeblichen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben hat.

Monika Krause ist Professorin an der London School of Economics und Ko-Direktorin des LSE Human Rights. 2019 erhielt sie den Lewis A. Coser Award fu?r Theoretical Agenda Setting in der Soziologie.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783868544879
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum30.05.2023
Seiten264 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1366 Kbytes
Artikel-Nr.11802692
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Materielle Forschungsobjekte und privilegierte materielle Forschungsobjekte
2 Wie materielle Forschungsobjekte ausgewählt werden
3 Modellfälle und der Traum von kollektiven Methoden
4 Wie Teilgebietskategorien das Wissen prägen
5 Die Schemata der Sozialtheorie
6 Modellfälle des globalen Wissens
Schlussfolgerungen

Thomas Hoebel
Positives Unbehagen
Ein Nachwort
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Leseprobe

1
Materielle Forschungsobjekte und privilegierte materielle Forschungsobjekte

Ein Ethnograf verbringt einen Tag in einem bestimmten Stadtteil von Boston. Er trifft sich mit zwei oder drei Informanten, begleitet einen von ihnen einen Nachmittag lang und geht nach Hause, um sich Notizen zu seinen Beobachtungen zu machen. Gestützt auf mehrere Hundert Seiten von Notizen zu seinen Feldstudien und mehrjährige Forschungsarbeit wird er später eine These über die Situation von Armen und die Versuche zur Wiederbelebung heruntergekommener Stadtteile entwickeln.

Ein Forscher sammelt Daten über die hundert größten Ballungszentren in den Vereinigten Staaten. Seine Erkenntnisse werden später im Ausland in der Auseinandersetzung mit Fragen von »Segregation« und »Stadtentwicklung« zitiert.

Eine amerikanische Stadt mit 546 000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist seit ihrer Gründung nicht ein einziges Mal von einer Ethnografin besucht worden.

Wenn Soziologinnen eine ethnografische Studie in einem bestimmten Stadtteil von Boston durchführen, ist dieser Stadtteil der Ort ihrer Feldforschung. Sie machen sich Notizen zu ihren Beobachtungen, und die Antworten ihrer Interviewpartner sind ihre »Daten«. Wenn sie eine Arbeit veröffentlichen, die zum Verständnis von »Armenvierteln« oder »Nachbarschaftserneuerung« beitragen soll, steht das untersuchte Viertel auch für die Kategorie »amerikanische Stadt« oder »Stadt«.

Natürlich ist unser Forscher aufrichtig bemüht, die Lebenserfahrung der Einwohnerinnen des West End in Boston, von East Harlem in New York oder der South Side von Chicago zu verstehen. Aber das spezifische Umfeld ist teilweise auch Mittel zum Zweck: Es ist ein Stellvertreter für etwas anderes. Gestützt auf eine Unterscheidung, die auf Aristoteles zurückgeht, können wir feststellen, dass die Nachbarschaft zumindest teilweise die Funktion eines materiellen Forschungsobjekts erfüllt: Dabei handelt es sich um den materiellen, konkreten Gegenstand, der über bestimmte Spuren zugänglich ist und der mit bestimmten Werkzeugen und Instrumenten beleuchtet wird. Er unterscheidet sich von einem formalen oder epistemischen Forschungsobjekt - dem vom Forschenden festgelegten Ziel der Untersuchung, das zwangsläufig eine konzeptuelle Einheit ist und von spezifischen intellektuellen und disziplinären Traditionen abhängt.

Sozialwissenschaftler haben darauf hingewiesen, dass die Forschung eine konkrete Aktivität ist, die in bestimmten sozialen Situationen stattfindet. Ausgehend von konkreten sozialen Situationen der situierten Forschung haben sie die Aufmerksamkeit auf die komplexe Arbeit gelenkt, die mit der Herstellung von »Repräsentation« oder »Übersetzungen« einhergeht. Um von situierten Beobachtungen oder konkreten Spuren zu Erkenntnissen zum Beispiel über »die Stadt« zu gelangen, sind einige Schritte erforderlich, die verschiedene Praktiken und Medien beinhalten, die beobachtet und erforscht werden können. Grundsätzlich können wir alle Formen der Forschung - selbst die abstraktesten und die textuellsten - mit Blick auf den konkreten Kontext ihrer Produktion analysieren, und mit Blick auf das, was die Forschenden als Stellvertreter verwenden.

Im Folgenden gehe ich von der Beobachtung aus, dass jegliche Forschung auf die eine oder andere Art Stellvertreter verwendet, um die Rolle zu untersuchen, die implizite oder explizite Konventionen bezüglich materieller Forschungsobjekte und privilegierter materieller Forschungsobjekte in einigen Forschungsgebieten spielen.

Ich beginne mit einer genaueren Untersuchung des Unterschieds zwischen materiellen und epistemischen Forschungsobjekten oder Forschungszielen. Anschließend untersuche ich die Verwendung von Modellsystemen in der Biologie als Beispiel für ein allgemeines Phänomen von Konventionen über privilegierte materielle Forschungsobjekte. Die Biologie ist bereits ein bekannter Bezugspunkt für Diskussionen über materielle Forschungsobjekte; in der biologischen Forschung wird explizit über materielle Forschungsobjekte und privilegierte materielle Forschungsobjekte diskutiert. Aus dieser Selbstbeobachtung der Biologinnen sowie aus den Beschreibungen von Wissenschaftshistorikern und Wissenschaftssoziologinnen können wir einiges lernen.

Anschließend werde ich anhand des Falls der Stadt- und Arbeitssoziologie zeigen, dass wir in den Sozialwissenschaften ähnliche Muster beobachten können. Wie wir sehen werden, stellt das mit privilegierten materiellen Forschungsobjekten verbundene Denken nur eine von mehreren Möglichkeiten zur Organisation der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit dar. Wir können diese Logik von der Abdeckungslogik unterscheiden. Sie geht oft mit der Anwendungslogik einher; dazu kommen die Logik der Repräsentativität und jene der formalen Modelle.
Materielle Forschungsobjekte und epistemische Zielobjekte

Ich unterscheide zwischen zwei Aspekten oder Dimensionen von Forschungsobjekten, nämlich zwischen dem materiellen Forschungsobjekt und dem formalen Forschungsobjekt, oder epistemischen Zielobjekt. Das materielle Forschungsobjekt ist ein konkreter Gegenstand, dem man sich über bestimmte Spuren oder »Daten« annähern kann, die unter Einsatz bestimmter Werkzeuge und Instrumente zutage gefördert werden. Dieser Gegenstand ist ein Stellvertreter des epistemischen Ziels der Untersuchung - dessen, was eine Studie beleuchten soll und was normalerweise nicht direkt beobachtet werden kann. Das epistemische Ziel ist ein Gegenstand, der in einer bestimmten gelehrten Tradition konzeptualisiert wurde. Es enthält die Perspektive der Studie.

Die Unterscheidung geht auf Aristoteles zurück1 und wurde in geringfügigen Abwandlungen von verschiedenen Autoren übernommen.2 Das materielle Forschungsobjekt wird auch als »technisches Forschungsobjekt«, als »Objekt der Erfahrung« oder als »Proxy« bezeichnet, und Robert Merton (mit dessen Darstellung wir uns im nächsten Kapitel genauer befassen werden) bezeichnet es als Sammlung von »Forschungsmaterialien«.3 Ich stützte mich bei der Unterscheidung auf die Arbeit von Forschenden, die sich mit der interdisziplinären Forschung beschäftigen und beobachtet haben, dass Vertreter verschiedener Disziplinen oft dieselben materiellen Forschungsobjekte untersuchen, dabei jedoch unterschiedliche epistemische Zielobjekte verfolgen, was zu Missverständnissen in einer Arbeitsgruppe oder einem Team führen kann.4

In meiner Verwendung des Begriffs handelt es sich beim epistemischen Ziel um ein Ziel, das der Forscher festlegt; dieser Begriff erfordert nicht, dass »dort draußen« ein tatsächliches epistemisches Zielobjekt existiert. Die meisten Sozialwissenschaftlerinnen betrachten ihr epistemisches Forschungsobjekt nicht als physisches Objekt, aber fast alle gelehrten Beiträge haben ein konzeptuelles Analyseziel, den Gegenstand, »von dem ein Text handelt«, ob dieser nun beschrieben oder erklärt, interpretiert oder neuinterpretiert, kontextualisiert oder neu kontextualisiert wird. Sie erzeugen ein Forschungsobjekt, wenn sie etwas als das »Was« einer Untersuchung darstellen: als das, was sie beschreiben, erklären, verstehen oder erforschen möchten. In diesem Sinn sind »das 18. Jahrhundert«, »die Militärgeschichte« und »der Islam« Kategorien für Zielobjekte, und dasselbe gilt für »Emotionalität«, »Globalisierung« und »Kapitalismus«.

Das materielle Forschungsobjekt wird durch eine instrumentelle Beziehung zum epistemischen Zielobjekt konstituiert. Es steht für das epistemische Zielobjekt, da dieses normalerweise nicht verfügbar ist und tatsächlich nur als solches ein epistemisches Ziel sein kann.5

Die Unterscheidung nehmen die Forschenden selbst situativ in konkreten Kontexten vor, indem sie eine Beziehung zwischen Mittel und Zweck herstellen. Studien über das Vorgehen von Biologen haben gezeigt, dass sie sich mit dieser Unterscheidung auseinandersetzen und die Bezeichnung materieller und epistemischer oder kategorischer Aspekte ihres Materials im Lauf der Forschungsarbeit anpassen.6 Jede spezifische Menge von Materialien kann in eine längere Liste von Instrumentalitäten eingeordnet werden: Eine Biologin kann ein bestimmtes Set von Fruchtfliegen verwenden, um zu untersuchen, wie sich Fruchtfliegen zum Licht hin bewegen oder nicht bewegen, und auf diese Art das Sehvermögen dieser Insekten zu verstehen und sich ein Bild davon zu machen, welche Rolle bestimmte Gene bei der Verhinderung einer Neurodegeneration spielen.7

Die situativen und prozessualen Aspekte der Deutung materieller Forschungsobjekte und epistemischer Zielobjekte wird auch in der Soziologie behandelt, wo Forschende sie gestützt auf die Selbstbeobachtung und das Studium anderer als »Casing« bezeichnen.8 Wenn Forschende ein Projekt in Angriff nehmen, ist nicht immer klar, was ein Fall wofür sein wird, und die Einordnung von Projekten...
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Autor

Monika Krause ist Professorin an der London School of Economics und Ko-Direktorin des LSE Human Rights. 2019 erhielt sie den Lewis A. Coser Award für Theoretical Agenda Setting in der Soziologie.