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Sturz in die Sonne

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
200 Seiten
Deutsch
Limmat Verlagerschienen am08.05.2023
Am Anfang steht eine wissenschaftliche Entdeckung: Wegen eines Unfalls im Gravitationssys-tem stürzt die Erde in die Sonne zurück. «Es wird immer heisser werden, und schnell wird alles sterben», schreibt C.?F. Ramuz lakonisch dazu. Die Menschen am Ufer des Genfersees wollen das erst nicht glauben und erfreuen sich am schönen Wetter. Aber dann wird klar, dass es vor der Hitze kein Entkommen gibt, die Freude schlägt um in Angst, als die Gletscher schmelzen, die Flüsse austrocknen, die Bäume verdorren. 1922, als der Roman erstmals erschien, wusste C.?F. Ramuz noch nichts von der Bedro-hung der globalen Erwärmung, der wir heute gegenüberstehen. Doch das düstere Bild, das er in diesem visionären Text in seiner einzigartig verdichteten Sprache zeichnet, liest sich wie eine Prophezeiung.

Charles Ferdinand Ramuz (1878-1947), geboren und aufgewachsen in Lausanne. Studium in Lausanne und Paris, wo er 1905 anstelle einer Dissertation den Roman «Aline» vorlegte. Seine Bücher wurden mehrfach verfilmt. 1936 erhielt er den Grossen Preis der Schweizeri-schen Schillerstiftung. Im Limmat Verlag sind seine Romane «Farinet oder das falsche Geld», «Aline» und «Derborence» lieferbar. Steven Wyss, geboren 1992 in Thun, studierte Angewandte Sprachen und Übersetzen in Winterthur und Genf. Aktuell studiert er an der HKB in Bern Literarisches Schreiben und Übersetzen. 2021 nahm er am Goldschmidt-Programm für junge Literaturübersetzer:innen teil. Er lebt und arbeitet als freier Übersetzer in Zürich.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden (Leinen)
EUR26,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextAm Anfang steht eine wissenschaftliche Entdeckung: Wegen eines Unfalls im Gravitationssys-tem stürzt die Erde in die Sonne zurück. «Es wird immer heisser werden, und schnell wird alles sterben», schreibt C.?F. Ramuz lakonisch dazu. Die Menschen am Ufer des Genfersees wollen das erst nicht glauben und erfreuen sich am schönen Wetter. Aber dann wird klar, dass es vor der Hitze kein Entkommen gibt, die Freude schlägt um in Angst, als die Gletscher schmelzen, die Flüsse austrocknen, die Bäume verdorren. 1922, als der Roman erstmals erschien, wusste C.?F. Ramuz noch nichts von der Bedro-hung der globalen Erwärmung, der wir heute gegenüberstehen. Doch das düstere Bild, das er in diesem visionären Text in seiner einzigartig verdichteten Sprache zeichnet, liest sich wie eine Prophezeiung.

Charles Ferdinand Ramuz (1878-1947), geboren und aufgewachsen in Lausanne. Studium in Lausanne und Paris, wo er 1905 anstelle einer Dissertation den Roman «Aline» vorlegte. Seine Bücher wurden mehrfach verfilmt. 1936 erhielt er den Grossen Preis der Schweizeri-schen Schillerstiftung. Im Limmat Verlag sind seine Romane «Farinet oder das falsche Geld», «Aline» und «Derborence» lieferbar. Steven Wyss, geboren 1992 in Thun, studierte Angewandte Sprachen und Übersetzen in Winterthur und Genf. Aktuell studiert er an der HKB in Bern Literarisches Schreiben und Übersetzen. 2021 nahm er am Goldschmidt-Programm für junge Literaturübersetzer:innen teil. Er lebt und arbeitet als freier Übersetzer in Zürich.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783038552666
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum08.05.2023
Seiten200 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2082 Kbytes
Artikel-Nr.11942027
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

VI

Der Verwalter namens Jules Gavillet hatte bis sieben Uhr in seinem Büro gearbeitet, dann war er in die Wirtschaft gegangen.

Er war allein an jenem Abend, da der Freund, mit dem er gewöhnlich aß, in den Ferien war.

Er hatte einen Blick in die Zeitung geworfen; er hatte (wie so viele andere) mit den Schultern gezuckt.

«Wir haben Kalbskopf heute Abend, Monsieur Gavillet», hatte die Kellnerin gesagt, er hatte gesagt: «Ist mir recht.»

Er hatte keinen rechten Appetit. Niemand hatte viel Appetit in diesen Zeiten. Und Gavillet, der eine Ecke der Serviette in den Hemdkragen gesteckt hatte, aß geistesabwesend und dachte an seine Geschäfte.

Hinter den Scheiben noch immer dieselbe Brücke mit ihren Steinbögen, dieselben Dächer, dieselben Passanten, dieselben Straßenbahnen, derselbe hohe Kathedralenturm an derselben Stelle am Himmel. Und Gavillet setzte in seinem Kopf weiter Zahlen übereinander, während der Kiefer arbeitete unter den Augen, die beschäftigt aussahen, aber es war nur die Rechenmaschine in ihm - einer dieser Männer halt, das heißt, einer wie viele andere, der zusammenzählt, abzieht, vervielfacht â¦

Die Suppe kommt.

Man zieht einen Strich unter die übereinandergesetzten Zahlen; um ihn zu ziehen, nimmt man ein Lineal.

Man verwendet Sorgfalt, die ganze Sorgfalt darauf - man zieht einen Strich am Himmel über der Brücke, über den Passanten, den Dächern, hoch über dem Turm der Kathedrale, während er immer noch hinausschaute, ohne etwas zu sehen â¦

So um die 2200, wenn alles gutgeht.

2200, 2300 - «Ach, schauen wir morgen, es reicht für heute ⦻

Es war noch etwas Wein in der Karaffe, er schenkte ihn ein, er trank ihn in einem Zug aus. Er sah sich in der Scheibe allein an seinem Marmortisch sitzen, und in dem Augenblick kam der Abend, als würde ein Vorhang gezogen. Er hatte bezahlt, er hatte sich eine Zigarre angezündet. Er rauchte seine Zigarre, blies mit runden Lippen den bläulich-grauen Rauch aus. Was fängt man mit so einem Abend an? Wie bringt man die Nacht herum, dass es morgen wird? Er bekam eine Antwort auf diese Frage. Es war ein Kino, dessen Leuchtschild hinter trübem Glas gerade eingeschaltet worden war. Man musste den Platz überqueren, man musste eine Straße hinuntergehen. Trotz der späten Stunde riefen die Zeitungsverkäufer noch immer ihre Blätter aus; auf den Trottoirs scharten sich die Menschen zusammen. Gavillet hatte eine Karte für die zweite Klasse genommen. Erst wurde ein Pathé-Journal gezeigt. Man sah einen Regierungsvertreter an einem Trachtenumzug in der Bretagne. Das ist Gavillet. Das ist nichts, das ist ein Büroangestellter. Das ist ein kleiner Anfang von einem Mann, das ist nur ein Kopf, der Zahlen vor Zahlen und über Zahlen setzt. Man sah New York vom Gerüst eines Wolkenkratzers, der im Bau ist, dann den Kameramann selber, wie er mit der Kamera bäuchlings auf einem Eisenträger liegt. Oh Meere, Flüsse, Ufer, immense Perspektiven! Diese Autos wie flache Insekten, noch kleiner und spitzer die Menschen. Weite, Gewimmel, alle Richtungen, die Reede, Kanäle, breite Straßen. Die Züge sind wie Raupen, die großen Kriegsschiffe wie Kürbiskerne ⦠Da ist die Welt, sie wurde ausgeschaltet. Ein Licht erlosch. Ein anderes ging an. Man sah, dass der Saal fast leer war. Aber schon fing die Welt, die einen Augenblick geschwiegen hatte, wieder zu sprechen an, und die etwas Großes ist, etwas Großes und Schönes, die kommt, die geliebt werden will. Die selber voller Liebe ist, die stolz ist auf ihre Stärke, die sagt: «Du kennst mich nicht!» Die schön ist, die sanft ist, die hart ist, bitter, grausam, groß, die hässlich ist. Die verlassen ist, die voller Menschen ist, ganz ohne Menschen, die bevölkert ist, die nichts hervorbringt, die alles hervorbringt. Mit Städten, ganz ohne Städte. Und die Welt: «Da bin ich!» Und wieder: «Da bin ich! Erkenne mich.» Die Welt: «Sieh mich an.» Sie kommt heran, auf unsere Gesichter zu, und man weicht mit dem Gesicht zurück ⦠Jetzt das Eis am Nordpol, seine Spalten aus schwarzem Wasser, darauf ein Boot, auf dem Männer mit Karabinern stehen: Dann sieht man den Bären, von einer Kugel getroffen, der sich auf seine Hinterpfoten stellt, die Vorderpfoten vor der Brust übereinanderlegt, wie eine Frau, die die Hände in einem Muff hat, dann dreht er sich mehrmals um sich selber.

Im Saal ging das Licht an. Gavillet wischte sich die Stirn. Die große Hitze war zurück und verjagte die eingebildete Kälte. Es gibt mehrere Wirklichkeiten. Gavillet blickt mit leerem Blick auf die Plakate an den Wänden, die gefederten Sitze, das Louis-xv-Dekor, die Glühbirnen an der Decke. Die Armen in der dritten Klasse waren Vater, Mutter und zwei Mädchen. Da waren auch ein paar Arbeiter mit Mützen. Weiter weg las ein glatzköpfiger Alter die Zeitung. In dem wieder sichtbaren Saal herrschte große Stille, und da war diese fade Luft, darin eingetaucht ein paar arme Körper: Aber ist das die Wirklichkeit? Das ist die falsche Wirklichkeit. Man wartete auf die andere, da war sie wieder ⦠Pferde, die Sandklippen hinunterstürzen, auf ihren Rücken Männer mit spitzen Hüten, die mit Pistolen schießen.

Mexiko. Der Süden der Vereinigten Staaten, die Grenze zu Mexiko. Guerrillas. Dörfer aus Holz. Gepanzerte Lokomotiven. Ein finsteres Nachtlokal, in dem sich eine Tänzerin dreht, als die Tür mit der Schulter aufgestoßen wird. Faustkampf.

Und da ist die Liebe.

Der mit dem langen flachen Gesicht und den hellen Augen entführt die Frau des Missionars. Er hat sie vor sich auf den Sattel gesetzt. Weg ist es.

Er hat sie vor sich hingesetzt, in ihrer einfachen Stehkragenbluse. Sie galoppieren durch eine felsige Wüste. Weg ist es.

Eine Schlucht, sie folgen einem überhängenden Weg. Weg ist es.

Er hat sie aufs Bett gelegt, er sieht sie an ⦠Oh Welt, Welt, wie weit denn nur? Wie tief in die Herzen der Menschen reichen all die Möglichkeiten der Welt? - für sie, die die Liebe kennen, das Verlangen, die Wut, alle Arten von Hass, alle Arten von Liebe und Hass. Es gibt eine Liebe, die behauptet, und eine Liebe, die entsagt. Es gibt widersprüchliche Liebe. Es gibt Widersprüche bis in die Liebe.

Und es kam noch immer; Gavillet war noch immer da, nahm es auf und wusste nichts. Die Unermesslichkeit des Menschen wurde ihm aus der Tiefe des Unbekannten zugeschrien, und all die Schönheit seiner Welt, und er hatte davon keine Ahnung gehabt.

Er war gegangen; man kündigte die neuste Ausgabe einer Zeitung aus Paris an, die mit dem Abendzug gekommen war; er kaufte eine und schlug sie unter einer Straßenlaterne auf.

Es waren ein paar Telegramme, einseitig und in fetten Buchstaben aufs Blatt gedruckt. Er zuckte mit den Schultern, er zerknüllte das Papier und warf es weg. Er lief weiter. Seine weiße Weste ging unter dem dunklen Jackett, das man nicht sehen konnte, vor ihm her, man sah nur seine Weste zwischen den Bäumen der schlecht beleuchteten Allee, durch die er musste. Hier und da kam, von Faltern und Mücken umschwärmt, eine elektrische Kugel. Es kamen Palmen in Fässern. Für einen Augenblick sah man zwischen zwei Villen den See; die Spiegelung des Mondes lag auf ihm, so als hätte man einen Milchtopf darüber ausgekippt. Er nahm seinen Schlüssel aus der Tasche; er ging die Treppe hoch, es war im dritten Stock. Er lief auf Zehenspitzen, wie er sich das als anständiger Mann angewöhnt hatte. Sein Zimmer befand sich am Ende des Ganges; er mietete es möbliert von einem alten Fräulein. Er drehte den Schalter. Er sah das Bett, er sah die große Sauberkeit, die hier herrschte, in der Langweile, in etwas Schäbigem, nicht Existierendem, zu Ordentlichem - das immergleiche Aufstehen und Zubettgehen, die gleichen Nächte, die gleichen Bewegungen. Wie jeden Abend hatte er das Jackett an den Armlöchern über die Stuhllehne gehängt; wie jeden Abend hatte er die Hose gefaltet, die Uhr aufgezogen, das Licht ausgemacht.

Er hatte das Licht ausgemacht, er hatte es um sich herum Nacht werden lassen: Ein anderes Licht ging an.

Wie wenn die Tür eines Hauses, die stets verschlossen geblieben war, sich auf einmal öffnete: Die frische Luft, die hereinkommt, und die Sonne, wie wenn man im Frühling die Maikäfer riecht.

Die ganze Welt, die hereinkommt, und das ist gut, und dann plötzlich:

Denn er hatte sich gesagt: «Und wenn es doch wahr ist?»

Es kam wieder, genau in diesem Augenblick. Die Depeschen, die er in der Zeitung gelesen hatte, sind ihm wieder eingefallen. Und plötzlich war das Leben da, aber gleichzeitig war auch der Tod da, den er noch nicht kannte, weil er das Leben noch nicht kannte.

Der eine kommt nicht ohne das andere. Das eine kommt, der andere kommt auch. Das eine war noch nicht gekommen, und deswegen auch der andere nicht.

Er hatte sich im Bett aufgesetzt.

In seinen...
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Autor

Charles Ferdinand Ramuz (1878-1947), geboren und aufgewachsen in Lausanne. Studium in Lausanne und Paris, wo er 1905 anstelle einer Dissertation den Roman «Aline» vorlegte. Seine Bücher wurden mehrfach verfilmt. 1936 erhielt er den Grossen Preis der Schweizeri-schen Schillerstiftung. Im Limmat Verlag sind seine Romane «Farinet oder das falsche Geld», «Aline» und «Derborence» lieferbar. Steven Wyss, geboren 1992 in Thun, studierte Angewandte Sprachen und Übersetzen in Winterthur und Genf. Aktuell studiert er an der HKB in Bern Literarisches Schreiben und Übersetzen. 2021 nahm er am Goldschmidt-Programm für junge Literaturübersetzer:innen teil. Er lebt und arbeitet als freier Übersetzer in Zürich.