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Zwischen uns und morgen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
176 Seiten
Deutsch
Diogeneserschienen am20.03.2024
Hals über Kopf reist Robin, ein junger Vater, seiner Frau hinterher. Was muss er ihr so dringend sagen? Während der Zug durch das überschwemmte Ahrtal gleitet, blickt er zurück auf seine Entscheidungen. Wie vertretbar ist es, ein Kind in diese Welt zu bringen, in der eine Naturkatastrophe die nächste jagt? Ein zarter und kluger Roman über eine der großen Fragen unserer Zeit.

Peter Zantingh, geboren 1983 in Heerhugowaard in der niederländischen Provinz Nordholland, studierte Wirtschaft und Digitale Kommunikation und arbeitet für die Wochenendausgabe des ?NRC Handelsblad?. Sein Romanerstling ?Een uur en achttien minuten? war für diverse Literaturpreise nominiert, bei Diogenes erschien 2020 sein Roman ?Nach Mattias?. Peter Zantingh lebt mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner Tochter in Utrecht.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR20,99

Produkt

KlappentextHals über Kopf reist Robin, ein junger Vater, seiner Frau hinterher. Was muss er ihr so dringend sagen? Während der Zug durch das überschwemmte Ahrtal gleitet, blickt er zurück auf seine Entscheidungen. Wie vertretbar ist es, ein Kind in diese Welt zu bringen, in der eine Naturkatastrophe die nächste jagt? Ein zarter und kluger Roman über eine der großen Fragen unserer Zeit.

Peter Zantingh, geboren 1983 in Heerhugowaard in der niederländischen Provinz Nordholland, studierte Wirtschaft und Digitale Kommunikation und arbeitet für die Wochenendausgabe des ?NRC Handelsblad?. Sein Romanerstling ?Een uur en achttien minuten? war für diverse Literaturpreise nominiert, bei Diogenes erschien 2020 sein Roman ?Nach Mattias?. Peter Zantingh lebt mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner Tochter in Utrecht.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783257614848
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Verlag
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum20.03.2024
ReiheTapir
Seiten176 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse918 Kbytes
Artikel-Nr.12644828
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Während wir Arnheim wieder verlassen, steht Mats mit weiß-grünen Klettverschlussschuhen auf dem gegenüberliegenden Platz, er drückt seine runde, weiche Nase am Fenster platt und haucht auf die Scheibe. Obwohl es mir lieber wäre, er täte das nicht, weil sich auf dem Zugfenster mit Sicherheit allerlei Bakterien tummeln, bin ich plötzlich maßlos glücklich, denn da ist mein Sohn, sein Leben hat vor etwas mehr als zwei Jahren begonnen, und es ist genau so, wie es ist.

Es hätte genauso gut nicht passieren können. Als Tess und ich zum ersten Mal im selben Raum waren, bekamen wir das beide nicht mit. Erst später, als Paar, kamen wir zu dem Schluss, dass sie 2008 die letzten Stunden des Jahres bei mir zu Hause gewesen sein musste. Ich bewohnte mit zwei Kommilitonen eine Wohnung am Smaragdplein, in einer Nachkriegsbaute ohne Zentralheizung. Einer meiner Mitbewohner zählte Tess zu seinem Freundeskreis und hatte sie eingeladen, neben ungefähr zehn anderen, die wiederum Bekannte mitbrachten. Mein Beitrag beschränkte sich auf drei meiner besten Freunde, Jungs, die ich schon seit der weiterführenden Schule kannte und mit denen ich damals ein monatliches Pubquiz organisierte. Insgesamt waren es viel zu viele Leute für unser kleines Wohnzimmer.

In den folgenden Jahren kam der Silvesterabend oft zur Sprache. Er wurde zu einer Anekdote, die man anderen erzählte oder immer mal wieder einander, und dann fing vor allem sie von den Momenten an, in denen das Leben versuche, einem unter der Ladentheke eine andere Version zu verkaufen, einem aufzeige, wie es auch laufen könnte. Allerdings müsse man gut aufpassen, da man genauso gut blind dafür sein könne. Ich hatte damals neben dem tickenden Gasofen auf der breiten Fensterbank gesessen, neben einem meiner Jugendfreunde und dem tragbaren Lautsprecher, der M83 Saturdays = Youth abspielte, es war das Jahr, in dem uns das Album die Welt des Ambient-Genres eröffnete, und es war der Abend, an dem wir Pläne für ein groß angelegtes Popquiz schmiedeten, ich würde mir die Fragen ausdenken, und er würde moderieren. Wir vergaßen alles um uns herum, wozu eben auch sie gehörte, die auf dem beigen Zweisitzer von Ikea saß. Um zwölf Uhr wünschte jeder jedem ein frohes neues Jahr, und jeder küsste jeden, sie mich also auch und ich sie, so muss es gewesen sein. Danach radelte sie weiter zu einer anderen Party und ich nicht.

Ich hole zwei Pässe aus dem Innenfach des Rucksacks. Der nächste Halt ist in Deutschland. Es ist unwahrscheinlich, dass sie jemand sehen will, aber ich bin lieber vorbereitet. Ich öffne das neueste, am wenigsten abgenutzte Büchlein und betrachte das Foto.

Er existiert. Er ist hier.

Weil wir uns noch mal begegnet sind, Tess und ich, ein paar Wochen nach dem Jahreswechsel. Es war der 17. Januar 2009, und wir bildeten im Osten von Utrecht mit ungefähr 2500 anderen eine Menschenkette durch das Landgut Amelisweerd, um gegen neue Pläne für eine Autobahn zu demonstrieren, die durch das dreihundert Hektar große Stück Natur mit seinen Wanderwegen, den sich über den schlängelnden Fluss beugenden Kappweiden und den vierzig, fünfzig Meter hohen Buchen führen sollte, die dort schon standen, als das Grundstück noch Napoleon gehörte. Die Menschenschlange führte an der geplanten Strecke vorbei, über Land, das jetzt noch sumpfig und grün war und von dem man auf die Bauernhöfe und Verteidigungsanlagen der Neuen Holländischen Wasserlinie blickte. Ruhig, fast gelassen zogen wir durch den dünnen Nebel. Über uns flog ein Helikopter, Klangfetzen einer Blaskapelle wehten herüber - und sie war da, ihre Finger legten sich um meine. Sie hielt meine Hand fest, bis es keinen Temperaturunterschied mehr gab.

Links von mir: mein Vater, der sich zum x-ten Mal dazu gezwungen sah, sich für das einzusetzen, was er »den Garten von Utrecht« nannte. Alle paar Minuten klopfâte ihm ein alter Bekannter auf die Schulter, einer nach dem anderen kamen sie vorbei, die Aktivisten der Atomkraft-Nein-danke-Zeit, jetzt mit gestutzten Bärten und tief hängenden Augenlidern, und dann ließen sie gemeinsame Erinnerungen über den Spätsommer 1982 aufâleben, als eine heterogene Gruppe von Utrechter Akademikern, Umweltaktivisten, Hausbesetzern, Abgesandten der Anti-Atomkraft-Bewegung und Zweite-Welle-Feministinnen diesen Wald eine Woche lang besetzt hatte.

Damals verfolgten die Behörden den Plan, einen fünfundzwanzig Meter breiten Streifen zu roden, um Platz für die Autobahn »Rijksweg 27« zu schaffen. Die Eichen, Ahorne, Buchen, Ulmen, Pappeln, Kastanien, Birken, Eschen und Erlen, die auf der Todesliste standen, waren mit einem weißen Punkt markiert worden, als hätte man mit einem Fußball gegen die Stämme geschossen. Mein Vater und Hunderte andere verschanzten sich sowohl auf dem fruchtbaren Marschland als auch in den Bäumen in selbst gezimmerten, mit Losungen besprühten Hütten und widersetzten sich mehreren Angriffen und Räumungsversuchen der Einsatzkommandos.

Meine Mutter war nicht dabei. Sie hatte als junge Studentin ein paar Jahre zuvor das Café Marktzicht an der Breedstraat betreten und ihn dort kennengelernt, eines der am wenigsten lautstarken und gleichzeitig aktivsten Mitglieder der Protestgruppe, die etwas früher an jenem Abend in der Nähe getagt hatte. Ausschließlich von Verliebtheit getrieben, schloss sie sich der Gruppe an, ein schüchternes Mädchen aus einer protestantischen, nordholländischen Familie. Nach den ersten Gewaltausbrüchen zwischen Demonstranten und Polizisten beschloss sie, fortan in ihrem Wohnheim zu bleiben und auf seinen erlösenden Anruf zu warten.

Der Kampf wurde trotz allem verloren. Ein aus dem ganzen Land zusammengetrommeltes, tausend Mann starkes Sonderkommando jagte an einem Freitagabend im September 1982 alle aus dem Wald. Drei Stunden später waren die Bäume unter den stählernen Gleisketten mehrerer gelber Caterpillar D8-Bulldozer verschwunden, und Amelisweerd wurde künftig von zehn Fahrspuren durchschnitten.

Jahrelang hatte ich eine gewisse Kampfâlust wahrgenommen, wenn mein Vater von jener Zeit erzählte. Als Produkt einer anderen Generation und Sohn meiner Mutter war ich weniger militant eingestellt als er in seiner Hochphase, doch am Tag der Menschenkette, mit Mitte zwanzig, nahm ich auch bei mir diesen alles beherrschenden Eifer wahr, der einen dazu bringt, sich für seine Überzeugungen einer schwer bewaffneten Hundertschaft entgegenzustellen. Nicht trotz, sondern wegen der gehörigen Tracht Prügel, die man kassieren wird. Weil Veränderung nun mal wehtut.

Aber ich stellte bei meinem Vater auch und immer öfter eine gewisse Verbitterung und Resignation fest, wenn es um den vergeblichen Protest im Wald ging. Der Kampfgeist war aus seinem alternden Körper gewichen und hatte einer Melancholie Platz gemacht, die ihn immer mehr vereinnahmte. Später - ja, später wurde er schweigsamer und schweigsamer. Aber vielleicht bemerkte ich das damals, an jenem Samstag im Jahr 2009, zum ersten Mal. In das Gespräch zwischen Tess und mir mischte er sich nicht ein. Dennoch empfand ich seinen gedämpfâten Enthusiasmus nicht im Ansatz so unerhört wie die halbherzige Teilnahme meiner eigenen Generation, deren sehr kleine Delegation herumlief, als wäre an einem Samstag mit einem Kochlöffel auf einen Topf schlagen das Äußerste, das sie zu geben bereit waren.

Hielt ich ihre Hand immer noch? Nein, aber sie stand noch neben mir. Sie sagte entschuldigend, sie kenne die Gegend nicht besonders gut, und sah sich um, während sie einen fast aufgebrauchten Collegeblock in ihren Rucksack steckte, den sie sich wieder über die Schulter warf. Sie nahm teil, weil die Organisatoren sie darum gebeten hatten, ein Plakat für die Protestaktion zu gestalten.

Sie trug einen dunkelblauen Parka, der bis über ihr Gesäß reichte, und darunter einen leichten Pullover mit Zopfmuster und weitem Rundhalsausschnitt. Die hochgesteckten Haare hatten einen dunkleren Goldton als die Strähnen, die neben ihren kleinen Ohren herabhingen. Zum ersten Mal bemerkte ich ihre grünbraunen Augen. Sie suchte wieder nach meiner Hand. »Besser die Kette nicht unterbrechen«, sagte sie. Das Hand-in-Hand-Gehen wurde von den Demonstranten längst nicht konsequent durchgezogen, doch die Pressefotografen standen auf der anderen Seite des Kromme Rijn, und sie kannte die Kraft der Bilder.

Ich nickte in Richtung Rucksack und fragte, was sie gezeichnet hatte.

»Oh«, sagte sie leicht abwesend. »Nichts. Ich dachte kurz, da sei was gewesen. Eine Idee.«

Sie starrte einen dunklen Betonbunker rechts von uns auf der Wiese an, löste sich kurz von mir und zeigte in seine Richtung, als hoffte sie, er würde dadurch etwas preisgeben. Ihr etwas erzählen. Dann schüttelte sie es von sich ab.

»Wird schon gut gehen«, sagte sie zu niemandem und über nichts im Besonderen, als wäre sie bereits kurz in der Zeit vorgereist und mit dieser beruhigenden Gewissheit in die Gegenwart zurückgekehrt.

Dann drehte sie sich zu mir um und sagte ihren Namen.

 

Mats war viereinhalb Monate alt, als wir das Dokument für ihn beantragten. Damals gab es ihn schon auf viel mehr Arten, als ich es mir vor seiner Geburt je hätte vorstellen können. Der Gedanke, dass niemand ihn so kannte wie wir beide, erfüllte mich manchmal mit einem Gefühl unantastbarer Intimität. Er wuchs vor unseren Augen und in unseren Köpfen auf und verschaltete die Kabel auf eine Weise, die vor allem mich überwältigen konnte - oh, diese Euphorie so ungefiltert zuzulassen, ich, der nur in der...
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