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Tägliches Befremden

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
144 Seiten
Deutsch
kurz&bündigerschienen am31.03.20201. Auflage
Tägliches Befremden | 16 Kurzgeschichten und Illustrationen der Autorin Es geht ums Fremdwerden und Ankommen, um alltägliche und merkwürdige Begegnungen und um die erstaunlichen Arten der Menschen, sich zwischen befremdenden Räumen und Zeiten zurechtzufinden. Manchen gelingt es, manche scheitern dabei. Nichts ist selbstverständlich. Fasziniert von den Schnittstellen, wo scheinbar Festes zu bröckeln beginnt und manches in Schräglage gerät, schreibt sich die Autorin durch ihre Geschichten. Wo Menschen sich anziehen und missverstehen, bricht Vertrautes auf. Der unerwartete Blickwechsel entdeckt Fremdes im Eigenen und Eigenes im Fremden. Die Kurzgeschichten spielen zu verschiedenen Zeiten im 20. und 21. Jahrhundert. Sie bewegen sich zwischen Systemen, Kulturen und Sprachen. Handlungsorte sind Städte in Europa sowie in Iran. Interkulturelle Begegnungen und Migration, aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt.

Studium der Ethnologie, Philosophie und Linguistik (lic. phil.). Sie ist als Journalistin und Erwachsenenbildnerin tätig. Sie lebte im Iran und im Osten der Türkei. Durch ihre langjährige Tätigkeit als Deutschlehrerin für Migrant*innen aus unterschiedlichsten Herkunftsgebieten kennt sie die Problematik der trans- oder interkulturellen Kommunikation sowohl aus der Praxis wie auch aus ethnischen und sozialen Perspektiven. In ihrer journalistischen und publizistischen Tätigkeit (u. a. für NZZ,DIE ZEIT, Weltwoche) standen die Themen, Kurd*innen, Islam, Migration, Kommunikation und Spracherwerb im Mittelpunkt.
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Produkt

KlappentextTägliches Befremden | 16 Kurzgeschichten und Illustrationen der Autorin Es geht ums Fremdwerden und Ankommen, um alltägliche und merkwürdige Begegnungen und um die erstaunlichen Arten der Menschen, sich zwischen befremdenden Räumen und Zeiten zurechtzufinden. Manchen gelingt es, manche scheitern dabei. Nichts ist selbstverständlich. Fasziniert von den Schnittstellen, wo scheinbar Festes zu bröckeln beginnt und manches in Schräglage gerät, schreibt sich die Autorin durch ihre Geschichten. Wo Menschen sich anziehen und missverstehen, bricht Vertrautes auf. Der unerwartete Blickwechsel entdeckt Fremdes im Eigenen und Eigenes im Fremden. Die Kurzgeschichten spielen zu verschiedenen Zeiten im 20. und 21. Jahrhundert. Sie bewegen sich zwischen Systemen, Kulturen und Sprachen. Handlungsorte sind Städte in Europa sowie in Iran. Interkulturelle Begegnungen und Migration, aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt.

Studium der Ethnologie, Philosophie und Linguistik (lic. phil.). Sie ist als Journalistin und Erwachsenenbildnerin tätig. Sie lebte im Iran und im Osten der Türkei. Durch ihre langjährige Tätigkeit als Deutschlehrerin für Migrant*innen aus unterschiedlichsten Herkunftsgebieten kennt sie die Problematik der trans- oder interkulturellen Kommunikation sowohl aus der Praxis wie auch aus ethnischen und sozialen Perspektiven. In ihrer journalistischen und publizistischen Tätigkeit (u. a. für NZZ,DIE ZEIT, Weltwoche) standen die Themen, Kurd*innen, Islam, Migration, Kommunikation und Spracherwerb im Mittelpunkt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783907126349
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum31.03.2020
Auflage1. Auflage
ReiheThemen
Seiten144 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse5961 Kbytes
Artikel-Nr.13870287
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Mein Opium

Le sang blanc coule épais du pavot de sa tête. Il le recueille à pleines mains. Et le sang rouge en bas lui trace les chemins au bout desquelles la mort à l épouser s apprête.1

Er sieht mitgenommen aus, der Katalog zu Opium. Die Texte sind mit Fragezeichen oder Pfeilen und Anmerkungen versehen. So wirken sie auf mich verlässlich. Für wichtige Zahlen baue ich Eselsbrücken und verankere sie so im Gedächtnis. Manchmal dient mir ein Spickzettel. Wie oft war ich im Museum und habe mir die Opiumpfeifen angesehen, da ich die Exponate im Ausstellungsführer nicht erkennen konnte. Fokussierende Schärfe auf ein Detail ist das Markenzeichen des Hausfotografen. Der Rest verschwimmt im Nebel. Die Aufnahme gestattet der Betrachterin nur einen Blick. Der zweite bleibt verwehrt und lockt so zu den Dingen. Um diese zu erkennen, genügt es nicht, sie abzubilden. Das Auge will schweifen. Der Geist will sich mit ihnen auseinandersetzen.

Neben dem Ausstellungskatalog liegt ein Roman über die Vorgeschichte der Opiumkriege in China. In Das mohnrote Meer beschreibt Amitav Gosh die Monopolisierung des indischen Mohnanbaus durch die East India Company. Ich notiere mir den Namen Jardine & Matheson. Die britische Firma ist durch Opiumhandel und Zwangsarbeit reich geworden. Die Website des heute noch existierenden Unternehmens mit Sitz auf den Bermudas zeigt, dass es sich um einen weltweit tätigen Konzern handelt. Er verschiebt Autos, Schiffe, sogar Immobilien, nur kein Opium mehr. Zur Imagepflege fließen Gelder in wohltätige Zwecke. Ein Paradebeispiel, wie während des Kolonialismus erwirtschaftete Erträge postkolonial geschönt weiterwirken und Milliarden umsetzen.

Etwas später verwies mich die Geschichte über den Anbau von Opium in andere geografische Regionen. In Afghanistan fanden die Machenschaften um Einfluss und Gewinn im 20. Jahrhundert ihre Fortsetzung. Die Opiumproduktion vor Ort soll während des Kalten Krieges durch die CIA initiiert worden sein.2

Als ich mehr über die Pflanze wissen wollte, fand ich heraus, dass nährstoffreiche Lehmböden sich günstig auf ihr Wachstum auswirkten und weiße Samen den besten Ertrag lieferten. Im Botanischen Garten der Stadt sah ich dem Schlafmohn beim Wachsen zu.

Mohnöl bekam einen festen Platz in meiner Küche, und ich versuchte mich, dank eines Rezepts meiner Großmutter, an Mohnpotizen, einem Gebäck aus zerstoßenen Mohnsamen und Germteig. Beim Aufräumen auf dem Estrich stieß ich auf ein verstaubtes Gemälde. Meine Katze Poppy liegt auf einem vergessenen Grab. Ich drehte das Bild um und entzifferte meine eigene Schrift: Nur wer mit Toten vom Mohn aß, von dem ihren, wird nicht den leisesten Ton wieder verlieren.3 Rilke-­Fan mit einem Hang zum Frühgrufti, schmunzelte ich über meine einstigen Vorlieben und stellte das düstere Bild neben das Buch von Gosh.

Schließlich fragte ich einen Ex-Opiomanen über seine Abhängigkeit aus und verliebte mich. Ich folgte jeder Spur, die Opium gelegt hatte oder nach sich zog, und ließ mich sogar von einer Parfumverkäuferin im Globus mit der neuesten Version Black Opium von Yves St. Laurent besprühen. Zu Hause rieb ich mir den süßlichen Duft von Jasmin, Kaffee und Patschuli von der Haut.

Falls ich vergessen haben sollte, mich vorzustellen: Ich vermittle Kultur.

«Ich begrüße Sie herzlich im Namen des Museums der Kulturen», lauteten meine Standardworte vor Führungen. Ein Zitat von Jean Cocteau half mir dabei, den Spielraum der Ausstellung Opium auszuloten: Ich verteidige nichts, ich richte nicht. Ich trage belastende und entlastende Urkunden zum Prozess des Opiums bei. Mit den Besuchern werfe ich einen Blick hinter Fassaden. Gemeinsam kratzen wir am Verputz.

Raum und Zeit bestimmen den Umgang der Menschen mit Opium. Was gestern und anderswo erlaubt war, ist heute und hier verboten. Das muss gesagt sein und betrifft jene, die Prinzipien brauchen. Zudem arbeite ich in einer offiziellen Institution und bin mir meiner Rolle bewusst. Ich achte auf meine Worte. Das Zitat von Cocteau dient als roter Faden, den ich durch die Räume ziehe und um die Dinge wickle. Da ich geradezu versessen aufs Prozessuale bin, finde ich es gut, dass es Zitate gibt, mit denen man den Rahmen abstecken kann. Ich spinne Netze dazwischen. Manchmal passiert es, dass so etwas eingefangen und ausgesponnen wird, was seine eigenen Wege geht. Es ist meine letzte Führung durch Opium. Das
Publikum ist mir zugewandt. Ich spüre seine Zuneigung. «Ich begrüße Sie herzlich im Namen von - bewusste Pause - Opium», sage ich dieses Mal.

Hinter mir, auf den Dias an der Wand, schieben sich Mohnblüten übereinander, bis sie sich, noch während ich spreche, von den Kapseln lösen und - weiß, lila und purpurfarben -
zu Boden schweben. Eine junge Frau mit kupferroten Locken bückt sich nach einer. Ein Teppich aus Blütenblättern bedeckt den Boden, vor dem die Besucher einen Halbkreis bilden.

Das nächste Bild: Unter den Fingernägeln eines Opiumbauern aus Pakistan, dem Land der Reinen, klebt schwarzer Dreck. Er ritzt die Frucht an und zeigt, wie Opium gewonnen wird. Von oben nach unten. Die erste Milch ist weiß, wenn sie in Tröpfchen aus der jadegrünen Kapsel quillt. Der Bauer auf dem folgenden Dia sammelt die rotbraun glänzende Paste in Schalen. Die Wahl des Erntezeitpunkts ist heikel, ich
weiß.

Die Besucher sollen sich von Anfang an beteiligen. «Was assoziieren Sie mit Opium?», frage ich und ritze. Von oben nach unten. Was geht wohl in ihren Köpfen vor? Ich lausche. Einzelne Laute entsteigen den Mündern und formieren sich zu Begriffen wie Afghanistan, Opiumhöhle, Sucht, Schmerzmittel oder Rausch. Ich lasse den Klang nachzittern und merke mir die Wörter, bevor sie sich verflüchtigen und nach einem Ort in der Ausstellung suchen, auf dem sie sich niederlassen werden. Der Ausblutungsprozess ist im Gange. Le sang blanc coule épais du pavot de sa tête. Wir folgen seiner Spur. Geritzt wird üb­licherweise drei Mal.

«Die erste Ritzung gibt den besten Saft», höre ich mich sagen. Dann beugen wir uns über fast zwei Kilo Rohopium unter einem Glaskubus im Eingangsraum. Diese Verbeugung verdient das letzte Opiumbrot, das 1973 zu medizinischen Zwecken und ganz legal von der Türkei nach Basel gelangen konnte: Das Corpus Delicti oder der Stoff, aus dem sowohl Träume als auch Albträume sind. Wie Sie wollen.

«Hunderte Arten von Mohn gibt es, aber nur eine mit dem ganz besonderen Saft, den die Griechen Opos nannten: Papaver somniferum», erkläre ich. Das Licht im großen Raum ist anders als sonst. Wir haben die Schwelle überschritten. Es geht los. PAPA VER SOMNIFERUM: Jetzt habe ich die Pflanze zerschnitten. Ich behalte den Kopf samt dem roten Faden von Cocteau in meinen Händen. Die Kapsel ist der Teil, der das meiste Opium enthält. Papa, ver somniferum4 ist das Stichwort, auf das sich vor der Vitrine mit den Opiumtinkturen und den Porzellangefäßen mit der Aufschrift Theriak eine Gestalt eingefunden hat. Sie erscheint in einem weißen Labormantel, wie Mikroanalytiker ihn zu tragen pflegen, und wartet. Sie ist ein Er. Er wartet auf mich. Ich erkenne meinen Vater. Sein Geist erscheint, wenn ich ihn rufe. Selbst wenn es sich dabei um ein Missverständnis handelt. Er reagiert eben auf Laute. Und da ich nach Papa eine kurze Pause eingeschaltet habe, bevor ich das Wort mit -ver somniferum zu Ende bringen konnte, ist er im ersten Stock des Museums gelandet. Genau an dem Platz, der ihm entspricht, während ich das ausgeflogene Wort Schmerzmittel von der Vitrine nehme und es mit der Kapsel und dem roten Faden deponiere. Theriaca steht auf dem Apothekergefäß aus Porzellan. Das opiumhaltige Universalheilmittel fand im 18. Jahrhundert reißenden Absatz.

Papaver Somniferum hat eine mehrere tausend Jahre alte Entwicklung als Schmerzmittel durchgemacht. Hul Gil, Pflanze der Freude, sollen es die Sumerer genannt haben. Theriak wird es heute noch im Iran genannt. «Theriak heilt alles, aber gegen Theriak5 gibt es kein Theriak», zitiere ich ein persisches Wortspiel, das sich mit der Auswirkung von Opium beschäftigt.

Die Anfangssilbe von Theriak führt mich weiter zu Theophrastus Bombastus von Hohenheim. Den Namen lasse ich mit Bedacht über meine Lippen gehen. Er schmeckt üppig, und er steigert die Spannung bei den Besuchern. Noch, so vermute ich, kann niemand etwas mit dem Namen anfangen. Erst als ich ihn dem Arzt Paracelsus zuordne, der aus Basel flüchten musste, sehe ich das Leuchten in den Augen. Ihm folgt ein mehrköpfiges Nicken. Von Paracelsus stammt das Zitat: Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. «Allein die Dosis macht s», beendet es ein Mann mit buschigen Augenbrauen, die seinen Blick verstärken. Das Kopfnicken setzt sich fort, bis ich den Faden wieder aufnehme. Leider wusste auch Paracelsus über sein Laudanum, wie er die gelobte Opiumtinktur aus Alkohol nannte, nicht, mit welcher Menge aus der heilenden Dosis eine tödliche wurde. Viele sind an Atemstillstand, verursacht durch eine Überdosis, gestorben.

Mein Vater gibt ein Zeichen und verzieht seine Lippen zu einem Namen. «Sertürner», flüstert er mir zu. Er kann es nicht erwarten, von der...
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Studium der Ethnologie, Philosophie und Linguistik (lic. phil.). Sie ist als Journalistin und Erwachsenenbildnerin tätig. Sie lebte im Iran und im Osten
der Türkei. Durch ihre langjährige Tätigkeit als Deutschlehrerin für Migrant*innen aus unterschiedlichsten Herkunftsgebieten kennt sie die Problematik der trans- oder interkulturellen Kommunikation sowohl aus der Praxis wie auch aus ethnischen und sozialen Perspektiven.
In ihrer journalistischen und publizistischen Tätigkeit (u. a. für NZZ,DIE ZEIT, Weltwoche) standen die Themen, Kurd*innen, Islam, Migration,
Kommunikation und Spracherwerb im Mittelpunkt.
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Dirscherl, Reingard