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Degrowth/Postwachstum zur Einführung

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Junius Verlagerschienen am23.05.20243., unveränderte Auflage
Degrowth oder Postwachstum ist ein dynamisches Forschungsfeld und Bezugspunkt vielfältiger sozial-ökologischer Bewegungen. Postwachstum ist nicht nur eine grundlegende Kritik an der Hegemonie des Wirtschaftswachstums. Es ist auch eine Vision für eine andere Gesellschaft, die angesichts von Klimawandel und globaler Ungleichheit Pfade für grundlegende Gesellschaftsveränderung skizziert. Dieser Band macht erstmals den Versuch einer systematischen Einführung. Er diskutiert die Geschichte von Wachstum und Wirtschaftsstatistiken und rekonstruiert die zentralen Formen der Wachstumskritik: ökologische, soziale, kulturelle, Kapitalismus-, feministische, Industrialismus- sowie Süd-Nord-Kritik.

Matthias Schmelzer, Wirtschaftshistoriker, arbeitet beim Konzeptwerk Neue Ökonomie und ist Permanent Fellow am DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften in Jena. Andrea Vetter, Kulturanthropologin, arbeitet für das Konzeptwerk Neue Ökonomie und die Zeitschrift Oya.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR15,90
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR13,99

Produkt

KlappentextDegrowth oder Postwachstum ist ein dynamisches Forschungsfeld und Bezugspunkt vielfältiger sozial-ökologischer Bewegungen. Postwachstum ist nicht nur eine grundlegende Kritik an der Hegemonie des Wirtschaftswachstums. Es ist auch eine Vision für eine andere Gesellschaft, die angesichts von Klimawandel und globaler Ungleichheit Pfade für grundlegende Gesellschaftsveränderung skizziert. Dieser Band macht erstmals den Versuch einer systematischen Einführung. Er diskutiert die Geschichte von Wachstum und Wirtschaftsstatistiken und rekonstruiert die zentralen Formen der Wachstumskritik: ökologische, soziale, kulturelle, Kapitalismus-, feministische, Industrialismus- sowie Süd-Nord-Kritik.

Matthias Schmelzer, Wirtschaftshistoriker, arbeitet beim Konzeptwerk Neue Ökonomie und ist Permanent Fellow am DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften in Jena. Andrea Vetter, Kulturanthropologin, arbeitet für das Konzeptwerk Neue Ökonomie und die Zeitschrift Oya.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783960601319
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum23.05.2024
Auflage3., unveränderte Auflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse718 Kbytes
Artikel-Nr.15261116
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

2. Wachstum

Der zentrale Stellenwert von Wirtschaftswachstum als politischem und ökonomischem Ziel ist im Alltag kaum zu übersehen. Es beherrscht die Titelseiten der Zeitungen, spielt eine Schlüsselrolle in ökonomischen Analysen und strukturiert die öffentliche Diskussion. Während die Medien jede kleinste Schwankung der Steigerungsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den Tagesnachrichten kommentieren, ist der Ruf nach mehr Wirtschaftswachstum über alle Ländergrenzen und politischen Spektren hinweg das Leitmotiv politischer Debatten. Bevor wir uns in den folgenden Kapiteln mit Wachstumskritik und Postwachstum beschäftigen, geht es uns hier zunächst darum, den Schlüsselbegriff dieser Debatten zu verstehen: Wachstum. Dass der Begriff heute vor allem im wirtschaftlichen Kontext und oft synonym mit Wirtschaftswachstum gebraucht wird, ist eine ausgesprochen neue Entwicklung. Ursprünglich kommt der Begriff vom althochdeutschen Verb »wahsan«, was so viel heißt wie vermehren oder zunehmen. Lange Zeit bezog sich »Wachstum« vor allem auf im weitesten Sinne organische Prozesse: Es ging dann um die Größenzunahme durch Neubildung von biologischer Substanz (z.B. »das Gras wächst«), um die Art dieser Veränderung (»die Birke ist schlank gewachsen«) oder um das Gedeihen bzw. um Entwicklung (»diese Pflanze wächst nur auf sandigem Boden«). Das deutsche Wort »ausgewachsen« macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass solche Wachstumsprozesse ein vorgegebenes Ende haben. Gleichzeitig bedeutet Wachstum aber auch - und heute vor allem - die abstraktere Zunahme an Größe, Ausmaß, Zahl, Menge oder ähnlichem (z.B. »ihr Vorsprung wächst«), an Stärke, Intensität oder Bedeutung (z.B. »der Widerstand gegen Abschiebungen wächst«) oder schließlich ein allmähliches Entstehen (»die Gewissheit wächst, dass der Klimawandel eine ernsthafte Bedrohung darstellt«).3 In diesem abstrakteren Verständnis von Wachstum geht es im Kern also darum, dass sich zwei zeitlich verschiedene Zustände durch irgendein »mehr« unterscheiden. Zukunft und eine lineare Zeitkonzeption spielen dabei ebenso eine Schlüsselrolle wie die Frage, wie das, was wächst, gemessen wird.

Wie kam es dazu, dass der abstrakte Begriff Wachstum auf die Wirtschaft angewendet wurde? Was ist überhaupt »die Wirtschaft« und mit welchen Mitteln wird sie gemessen? Und welche Veränderungen werden mit dem Begriff »Wirtschaftswachstum« in den Blick genommen? Studien aus der Ideen- und Wirtschaftsgeschichte sowie den Sozial- und Umweltwissenschaften haben drei zentrale Grundlagen der Postwachstumsdiskussion geschaffen. Erstens zeigen diese Arbeiten, dass Wachstum kein abstrakter, sondern ein materieller Vorgang ist: Wachstum basiert notwendig auf einem ansteigenden Verbrauch von Rohstoffen und Energie. Zweitens argumentieren diese Forschungsarbeiten, dass Wirtschaftswachstum historisch gesehen für einen umfassenden - nicht nur materiellen, sondern auch sozialen und kulturellen - Prozess verselbständigter Steigerungsdynamiken steht, der zunehmend seine eigenen Grundlagen untergräbt. Und schließlich machen diese Arbeiten deutlich, dass Wirtschaftswachstum eine ideologische Konstruktion ist, deren Hegemonie eine Schlüsselrolle bei der Stabilisierung moderner Gesellschaften spielt.

In diesem kurzen historischen Kapitel werden wir Wachstum unter diesen drei miteinander verschränkten Gesichtspunkten betrachten: als materiellen gesellschaftlichen Stoffwechsel, als historischen Prozess von Steigerungsdynamiken und als Ideologie. Aufgrund der Kürze können nur einzelne Schlaglichter entwickelt werden. Weitere Aspekte werden im dritten Kapitel ausgeführt oder vertieft, besonders jener der Krisenhaftigkeit von Wachstum sowie die Dimension materieller Steigerungsdynamiken (Entropie, Ressourcenverbrauch, Emissionen), sozialer (imperiale Lebensweise, Positionsgüter, Technik) sowie kultureller (mentale Infrastrukturen, Entfremdung) Steigerungsdynamiken. Da sich die Postwachstumsdiskussion - wie in der Einleitung erläutert - vor allem auf den globalen Norden und dessen problematische Produktions- und Lebensweise mit globalen sozialökologischen Auswirkungen bezieht, ist auch in diesem Kapitel der geografische Fokus eher auf die kapitalistischen Zentren gerichtet.
Verselbständigte Steigerungsdynamik

Wachstum ist weit mehr als der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP), wie es normalerweise definiert wird. Denn das BIP ist nur die Spitze des Eisbergs, das Oberflächenphänomen viel umfassenderer materieller Flüsse sowie interdependenter Steigerungs- und Expansionsprozesse. Diese schließen die beschleunigte Nutzung menschlicher Arbeit und nicht-menschlicher Energie ebenso mit ein wie kontinuierliche Investitionen in Maschinen und eine immer komplexere Technik, die sich ausweitende Verwandlung von Materie und Energie in Güter, Dienstleistungen und Abfall sowie kulturelle, soziale und politische Prozesse (z.B. Castoriadis 1998; Georgescu-Roegen 1971; Gronemeyer 2012). Forschungsarbeiten zeigen auch, wie moderne Gesellschaften sich über einen kontinuierlichen Prozess der Ausweitung und Intensivierung ökonomischer Prozesse in Bezug auf Raum, Zeit und Energie dynamisch stabilisieren (Dörre et al. 2009; Moore 2015; Rosa 2016). Das heißt, moderne Gesellschaften brauchen Wachstum, um ihre Institutionen zu stabilisieren - angefangen von der Akkumulationsdynamik kapitalistischer Wettbewerbsökonomie bis hin zu staatlichen Versorgungsstrukturen (siehe auch Kap. 4.2).

Wirtschaftswachstum beschreibt also nicht nur die Zunahme und Beschleunigung wirtschaftlicher Produktion, sondern einen umfassenden materiellen, sozialen und kulturellen Prozess sich selbst verstärkender Steigerungsdynamiken. Dieser Prozess der Expansion und Beschleunigung hat in den letzten fünf Jahrhunderten das Leben und den gesamten Planeten transformiert. Für einen Teil der Menschheit, vor allem im globalen Norden, haben sich dadurch die materiellen Lebensbedingungen drastisch verbessert, und es wurden erfolgreiche gesellschaftliche Kämpfe um Teilhabe ermöglicht. Für andere Teile der Menschheit jedoch ging dieser Prozess mit Ausbeutung und der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen einher. Diese verselbständigten Expansionsdynamiken stoßen Anfang des 21. Jahrhunderts immer deutlicher an Grenzen, da sie die ökologischen, sozialen und politischen Grundlagen, auf denen sie basieren, untergraben (Altvater/Mahnkopf 2007; Kallis 2018; Wallerstein 2004).
Expansion der kapitalistischen Wirtschaftsweise

Homo sapiens leben seit ungefähr 200 000 Jahren auf diesem Planeten, und für den allergrößten Teil der Menschheitsgeschichte lebten alle Menschen nomadisch als Jägerinnen und Sammler. Seit höchstens 10 000 Jahren existiert der Ackerbau als regional dominante Produktionsweise, seither wechseln sich in verschiedenen Weltregionen immer wieder Phasen des Wirtschaftswachstums mit Phasen ökonomischen Zerfalls ab. Aber Wirtschaftswachstum, wie wir es heute verstehen, gab es - soweit sich das überhaupt retrospektiv messen lässt - bis Anfang des 19. Jahrhunderts nur minimal: um ungefähr 0,05 Prozent pro Jahr oder sechs Prozent pro Jahrhundert (Schmelzer 2016: 2). Dieses Wachstum spiegelte im Wesentlichen die langsame, aber stetige Zunahme der Bevölkerung wider - es war also kein Wirtschaftswachstum pro Kopf.

Globale sozialökonomische Trends, 1750-2010. Quelle: Steffen et al. 2015: 4.

Die grundlegende Dynamik wirtschaftlicher Expansion in modernen Gesellschaften lässt sich mit den mittlerweile weithin bekannten Grafiken zur »Großen Beschleunigung« veranschaulichen. Dafür haben Wissenschaftlerinnen eine Reihe von sozioökonomischen und Erdsystemtrends zwischen den Jahren 1750 und 2010 errechnet und visualisiert (Steffen et al. 2015). Sie zeigen: Dauerhaftes Wachstum in seinen verschiedensten Dimensionen ist ein relativ neues Phänomen. Erst seit dem 19. Jahrhundert nehmen verschiedene messbare zivilisatorische Größen - wie Bevölkerung, Wasserverbrauch, Düngerkonsum, Urbanisierung, der Bau von Staudämmen, Transport etc. - eine deutliche Wachstumsdynamik auf. Diese verläuft dann jedoch, vor allem beschleunigt seit Mitte des 20. Jahrhunderts, sehr rasant und bis heute größtenteils ungebrochen (siehe Abb. 1). Diese »Große Beschleunigung« hat das menschliche Leben und den Planeten Erde irreversibel verändert. Das Konzept des »Anthropozäns« (Paul Crutzen) haben Naturwissenschaftler, Ökologinnen, Geologen und Historikerinnen geprägt für das Zeitalter, in dem die Menschheit selbst zur vorherrschenden geologischen Kraft des Planeten Erde geworden ist (Chakrabarty 2009). Aber es ist nicht der abstrakte »anthropos« (Mensch), der für die ökologischen Veränderungen verantwortlich ist oder diese hervorgebracht hat, sondern eine spezifische, auf Wachstum und Steigerung beruhende (Re-)Produktionsweise. Einige Wissenschaftler sprechen daher vom »Kapitalozän« oder »growthocene« (siehe zur Diskussion u.a....
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