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Konzert am Ende des Winters

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am14.08.2024
Welche geheimen Dokumente birgt die Aktentasche des diplomatischen Kuriers Gjergj Dibra, der nachts auf der Route Paris - Bejing unterwegs ist? Dokumente, die er selbst nicht kennt und die seine Frau Silva mit bangen Ahnungen erfüllen. Ismail Kadare entwirft ein prall erzähltes Familienpanorama und verbindet dabei das Tragische und die Dramatik mit der Farce. Erzählt wird von der Annäherung Albaniens an China in den letzten Jahren unter Mao und wie die Albaner, kundig und erfinderisch im Umgang mit einer jahrtausendealten Fremdherrschaft, auch die »gelbe Gefahr« zu meistern verstehen. »Die Chinesen? Es waren keine Chinesen hier. Wir haben sie bloß geträumt ...« Ismail Kadare »hat mehr über das 20. Jahrhundert und seine Dunkelheit zu erzählen als jeder andere zeitgenössische Autor«. Daniel Kehlmann

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er galt jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er war Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebte zuletzt in Tirana und Paris. Er starb 2024 in Tirana.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextWelche geheimen Dokumente birgt die Aktentasche des diplomatischen Kuriers Gjergj Dibra, der nachts auf der Route Paris - Bejing unterwegs ist? Dokumente, die er selbst nicht kennt und die seine Frau Silva mit bangen Ahnungen erfüllen. Ismail Kadare entwirft ein prall erzähltes Familienpanorama und verbindet dabei das Tragische und die Dramatik mit der Farce. Erzählt wird von der Annäherung Albaniens an China in den letzten Jahren unter Mao und wie die Albaner, kundig und erfinderisch im Umgang mit einer jahrtausendealten Fremdherrschaft, auch die »gelbe Gefahr« zu meistern verstehen. »Die Chinesen? Es waren keine Chinesen hier. Wir haben sie bloß geträumt ...« Ismail Kadare »hat mehr über das 20. Jahrhundert und seine Dunkelheit zu erzählen als jeder andere zeitgenössische Autor«. Daniel Kehlmann

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er galt jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er war Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebte zuletzt in Tirana und Paris. Er starb 2024 in Tirana.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783104921259
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum14.08.2024
SpracheDeutsch
Dateigrösse5958 Kbytes
Artikel-Nr.17281986
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

ERSTES KAPITEL

Das Fenster sah auf die Straße hinab, wo die Schritte der Passanten, vielleicht wegen der winterlichen Kleidung, die sie trugen, rascher wirkten als sonst. Ein kleiner dreirädriger Lieferwagen hielt am Bordstein vor dem Laden, in dem die Chauffeure üblicherweise ihre Zigaretten kauften.

Es kam der alten Hasije so vor, als ob der Lieferwagen dort unten einiges Aufsehen erregte, und so wischte sie die beschlagene Scheibe blank, um besser sehen zu können.

Tatsächlich. Drei oder vier Leute waren stehen geblieben und sahen zu, wie ein großer Blumentopf mit einem Zitronenbäumchen abgeladen wurde. Sie konnte sich denken, was man den Fahrer, der gerade an das Fahrzeug trat, fragte. Wem bringst du die Zitrone? Wo kann man solche Zitronenbäumchen im Topf denn kaufen?

Auf einmal glaubte sie dort unten Ana zu entdecken, hätte gar fast mit dem Finger gegen die Scheibe geklopft und ihren Namen gerufen, als ihr einfiel, dass Ana ja schon lange tot war.

Die alte Hasije seufzte. Neuerdings kam es immer öfter vor, dass sie Zeiten und Ereignisse durcheinanderbrachte, und was wirklich geschah, erlebte sie wie im Traum. Auch mischten sich die Toten unter die Lebenden, doch das störte sie weniger, denn sie war überzeugt davon, dass es allen alten Frauen so ging, wären sie doch sonst keine alten Frauen. Manchmal glaubte sie sogar, dass alte Frauen sich eben dadurch auszeichneten.

Wieder blickte sie auf die Straße hinunter, und Ana war noch dort. Schön wie immer, stand sie ein wenig abseits und sah mit einem verdrossenen Lächeln den Leuten zu, die um das Zitronenbäumchen herumschwirrten. Warum ruhst du dich nicht aus, dort in der Erde, in der man dich begraben hat?, sagte Hasije.

Aus dem Nebenzimmer war die Stimme ihres Enkels zu hören, der seine Hausaufgaben machte. Singe, o Muse, den Ruhm des Peliden Achilles. Immer noch dieser Zorn?, dachte sie. Anstatt zu schwinden, nahm er in letzter Zeit sogar noch zu.

Sie griff zu dem Kaffeetässchen, das sie umgestülpt auf die Untertasse gestellt hatte, und betrachtete es lange. Die Tasse erschien ihr dunkel und unbegreiflich, doch auch das berührte sie nicht mehr. Wie anders sollte die Tasse einer alten Frau auch aussehen. Singe, o Muse, den Ruhm ... Ach, sei doch still!, hätte sie ihren Enkel und die ganze Welt am liebsten angeschrien. Seid doch still, ihr ödet uns an mit eurem Gezänk.

Ihr ödet uns an, dachte sie dann, ihr zermürbt uns. Sie sah wieder auf die Straße hinunter, doch da gab es keinen Lieferwagen und kein Zitronenbäumchen mehr und auch keine Leute, die sich danach erkundigten. Wahrscheinlich haben mir meine Augen wieder einen Streich gespielt, dachte sie.

Wieder versank sie in sich selbst, doch war ihr diesmal, als blicke sie hinein ins Innere der Erde. Nicht nur Hohlräume gab es dort, von verdampftem Wasser oder vielleicht auch verschwundenen Toten zurückgelassen, sondern ebenso schwarze Schichten steindurchsetzten Lehms, fugenlos aufeinander sitzend und deshalb von keinem Auge je zu erschauen. Daneben schlummerten die so ungreifbaren Erdbeben und, ach, all die anderen namen- und formlosen Dinge, eines peinigender für die Einbildungskraft als das andere.

Sie nahm ein schwaches Grollen wahr, das aus der Ferne, vom hintersten Rand des Horizonts herandrang Dann wälzte sich kränklich ein schwerfälliger Donner quer über den Himmel.

So poche ruhig, sagte sie und wusste selbst nicht, zu wem sie sprach und warum.

 

Das Lächeln, mit dem Silva sich anschickte, die ersten Gäste zu empfangen, gefror auf ihren Lippen, als sie auf ein mehrfaches hartnäckiges Klingeln hin endlich die Wohnungstür öffnete. Anstelle der Gäste erblickte sie einen Mann mit einem schweren Topf im Arm, aus dem die Zweige eines Zitronenbäumchens herausragten.

»Bin ich hier bei Familie Gjergj Dibra?«, fragte der Mann.

»Ja«, antwortete Silva ein wenig verlegen. »Ach, die Zitrone ist für uns?«

»Sie haben sie doch bestellt, oder nicht?«

Der Mensch trat einfach in den Flur.

»Wo kommt sie hin?«, fragte er ein wenig ungeduldig. Man merkte, der Topf war schwer.

»Vorsicht!«, sagte Silva. »Hier herüber, bitte.« Und sie öffnete eine Zimmertür.

Mit schweren Schritten ging der Mensch durch das Zimmer und auf den Balkon hinaus, dessen Tür ihm Silva gerade noch öffnen konnte.

»Stellen Sie die Pflanze einfach irgendwo hin«, meinte Silva. »Ich werde mich nachher darum kümmern.«

Der Mann stellte den Topf ab und richtete sich mit einem Seufzer wieder auf.

Im Flur klingelte das Telefon, ohne dass jemand da gewesen wäre, um es abzunehmen. Ach je, dachte sie, ausgerechnet heute muss uns diese Zitrone ins Haus kommen.

»Alle Vierteljahre muss sie gespritzt werden, wegen der Schädlinge. Und alle sechs Monate sollte man sie umtopfen«, leierte der Mann. »Außerdem muss man sie bei Frost mit Cellophan abdecken, sonst erfriert sie über Nacht.«

Silva hörte zerstreut zu. Die Salate waren noch nicht fertig, der Braten noch nicht aufgeschnitten, und tausend andere Kleinigkeiten mussten ebenfalls noch erledigt werden. Dabei konnten jeden Augenblick die Gäste eintreffen. Obendrein musste sie sich auch noch für das Abendessen umziehen und ein wenig Toilette machen.

Offenbar deutete der Mann ihre ungeduldige Geste richtig, denn er sagte:

»Entschuldigen Sie, vielleicht bin ich im unrechten Moment gekommen.«

»Ach«, sagte Silva, »das macht doch nichts.«

Plötzlich schämte sie sich. Der Mann hatte den Topf zwei Treppen hochgetragen, und sie verhielt sich ihm gegenüber so gereizt.

»Darf ich Ihnen vielleicht etwas anbieten?«, fragte sie, von einem jähen Schuldgefühl befallen, im Flur.

»Nein, danke.«

»Ach bitte«, rief sie. »Mir zuliebe. Meine Tochter hat doch heute Geburtstag.«

Als sich die Tür hinter dem Unbekannten geschlossen hatte, ging Silva zu der bereits gedeckten Tafel, um noch das eine oder andere zurechtzurücken, tat dann jedoch gar nichts, außer eine Weile lang die kalt funkelnden Teller und Gläser anzustarren. Die Türklingel riss sie aus ihrer Regungslosigkeit, doch diesmal wusste sie sofort: das war ihre Tochter.

»Würdest du bitte den Salat anmachen und den Braten aufschneiden, mein Schatz, damit ich duschen und mich umziehen kann? Ich glaube, ich rieche nach Küche.«

»Gut, Mama.«

Beim Entkleiden im Bad meinte sie festzustellen, dass sie um die Hüften herum ein wenig voller geworden war, und eine Weile stand sie nachdenklich vor dem Spiegel, als habe sie ganz vergessen, wieso sie eigentlich hergekommen war. Dann klingelte auf dem Flur das Telefon, und Silva drehte, wie aus tiefem Schlaf erwacht, die Dusche auf.

Von der Vorstellung gequält, die Gäste könnten womöglich schon kommen, beeilte sie sich mit dem Duschen. Da alle außer Brikenas beiden Lehrerinnen gute Freunde oder Verwandte waren, hatte sie ihnen keine feste Uhrzeit genannt, was sie nun bereute.

Vor dem Schlafzimmerschrank schwankte Silva eine Weile, welches Kleid sie anziehen sollte. Dann fror sie und schlüpfte, ohne noch lange zu überlegen, in ein lilafarbenes Kleid, das Gjergj besonders mochte. Es saß wie immer, also war ihre Befürchtung, zugenommen zu haben, ganz grundlos. Ich begreife überhaupt nicht, dass du dir Sorgen um deine Linie machst, pflegte Gjergj zu sagen. Du bist in einem Alter, in dem die Frauen, wie es so schön heißt, voll erblühen. (Silva wusste, dass er sorgsam darauf achtete, von »Erblühen« anstatt von »Reife« zu sprechen, wofür sie ihm insgeheim dankbar war.) Vielleicht ist mein Geschmack etwas ungewöhnlich, aber ich kann nicht einsehen, wieso eine Frau in der Blüte ihrer Jahre wie eine Bohnenstange aussehen sollte.

Silva lächelte sich im Spiegel zu. Ein anderes Kleid, und gleich schien der Tag neu zu beginnen. So ging es ihr immer bei solchen Anlässen, Geburtstagen oder anderen Feiern. Zuerst nahm das Chaos der Vorbereitungen einfach kein Ende, doch dann kam der Augenblick, in dem der Festtag sich losriss vom Tag der Mühen. Als Silva ihr Kleid zuknöpfte, spürte sie, dass dieser Augenblick nun da war.

Sie nahm den Kamm und begann sich ohne langes Überlegen so zu frisieren, wie Gjergj es mochte, obwohl er weit fort war. Aber vielleicht tat sie es ja auch gerade deshalb, weil er in der Ferne herumreisen musste.

»Mami, wie schön du bist«, sagte Brikena, als Silva auf den Flur kam.

Silva lächelte ihrer Tochter zu, warf einen Blick zum Tisch hinüber, der nun plötzlich nicht mehr viel mit ihr zu tun zu haben schien, und wanderte ohne rechten Grund eine Weile durch die Wohnung. Sonst saß sie in der Stunde vor dem Eintreffen der Gäste am liebsten einfach da und wartete. Doch weil sie den Fehler begangen hatte, mit den Gästen keine feste Zeit zu vereinbaren, war ihr dieses Vergnügen nun genommen.

»Mama, ich habe den Braten aufgeschnitten, willst du einmal sehen?«, ertönte aus der Küche die Stimme ihrer Tochter.

Silva saß nun doch mit halbgeschlossenen Augen in einem Sessel im Wohnzimmer Der Tag war wirklich anstrengend gewesen, hatte sie doch diesmal auf Gjergjs Hilfe verzichten müssen. Wie gut, dass ich geduscht habe, dachte sie. Das Licht des Oktobernachmittags fiel aschgrau auf das Bücherregal, wo die Statuetten neben den Büchern, Andenken an ihre Zeit als Archäologin, jetzt, kurz vor Einbruch der Dämmerung, Boten aus dem Reich der Schatten glichen, die sich unbemerkt herbeigeschlichen hatten. Doch genügte es, wenn jemand eintrat, das kleinste Geräusch, und im Nu büßten sie ihren Anschein geheimnisvoller Lebendigkeit ein und verwandelten sich zurück in Terrakotta oder Stein.

Brikena tauchte in der Zimmertür auf, zu lang und zu dünn für ihre...
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Autor

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er galt jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er war Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebte zuletzt in Tirana und Paris. Er starb 2024 in Tirana.Joachim Röhm lebt als freier Übersetzer in Stuttgart, München und Tirana. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Albanien Ende der 70er Jahre, kehrte er 1980 nach Deutschland zurück. 2010 wurde er mit dem Jusuf Vrioni Übersetzerpreis der Republik Albanien ausgezeichnet.