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Der General der toten Armee

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am14.08.2024
Mit Karten, Listen und eisernem Gerät rückt ein italienischer General der albanischen Erde auf den Leib. Sie soll die toten Soldaten wieder freigeben, die im ehemaligen Feindesland gefallen sind. Zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs glaubt der General noch immer an die Soldatenehre. Die unwegsame Reise führt ihn und seinen Begleiter, den Priester, durch Berglandschaften, Städte und Träume.

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er galt jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er war Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebte zuletzt in Tirana und Paris. Er starb 2024 in Tirana.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR15,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99

Produkt

KlappentextMit Karten, Listen und eisernem Gerät rückt ein italienischer General der albanischen Erde auf den Leib. Sie soll die toten Soldaten wieder freigeben, die im ehemaligen Feindesland gefallen sind. Zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs glaubt der General noch immer an die Soldatenehre. Die unwegsame Reise führt ihn und seinen Begleiter, den Priester, durch Berglandschaften, Städte und Träume.

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er galt jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er war Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebte zuletzt in Tirana und Paris. Er starb 2024 in Tirana.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783104920863
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum14.08.2024
SpracheDeutsch
Dateigrösse4842 Kbytes
Artikel-Nr.17281988
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

ERSTER TEIL
ERSTES KAPITEL

Schneeflocken mischten sich in den Regen, der auf die fremde Erde niederging. Die betonierte Landebahn, das Flughafengebäude, die Wachsoldaten, alles war naß. Der Schneeregen durchweichte das flache Stück Land und die Hügel und brachte den schwarzen Asphalt der Autostraße zum Glänzen. Wäre nicht Herbstanfang gewesen, der General hätte den eintönigen Regen, der bei seiner Ankunft fiel, als böses Vorzeichen begriffen. Er kam aus einem fremden Staat nach Albanien, um die sterblichen Überreste der im letzten Weltkrieg gefallenen Soldaten heimzuholen. Die Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen hatten im Frühjahr begonnen, doch erst Ende August, als das Wetter bereits schlechter wurde, war die Abschlußvereinbarung unterzeichnet worden. Inzwischen hatte mit dem Herbst die Regenzeit begonnen, wie der General wußte, der sich vor seiner Abreise unter anderem auch über das Klima in Albanien kundig gemacht und dabei erfahren hatte, daß die Herbste in Albanien naß und regnerisch waren. Doch selbst wenn in seinem Reiseführer gestanden hätte, in Albanien sei es im Herbst trocken, wäre der Regen keine Überraschung für ihn gewesen, im Gegenteil. Seine Mission, so wie er sie sich vorstellte, setzte Regen geradezu voraus.

Lange hatte er während des Fluges durch das Fenster auf die bedrohlich wirkende Bergwelt hinuntergeschaut. Die schroffen Spitzen schienen jeden Augenblick den Bauch der Maschine aufschlitzen zu wollen. Schräge Flächen allerorts. Unten huschten im Nebel düstere Plateaus vorbei. In den Schluchten und auf den Hängen, überall in diesem bereits winterlich sich darbietenden Hochland ruhte modernd die Armee, die zu exhumieren er gekommen war. Nun, da er das fremde Land zum ersten Mal mit eigenen Augen sah, nahm die unbestimmte Furcht, die ihn seit Monaten plagte, konkretere Gestalt an, weil er ahnte, daß er sich auf ein aussichtsloses Unterfangen eingelassen hatte. Dort unten war sie, diese Armee, außerhalb der Zeit, gefroren, kalzifiziert, von Erde bedeckt, und ihm war die Aufgabe zugefallen, sie aus dem Lehm hervorzuholen. Der Gedanke bereitete ihm Unbehagen. Dieser Auftrag war gegen die Natur, er würde es mit einem gerüttelt Maß an Blindheit und Taubheit, einer Menge weißer Flecken zu tun bekommen. Der Ausgang war nicht abzusehen.

Als jäh der Boden unter ihnen auftauchte, gab ihm der Anblick nicht etwa Sicherheit, sondern seine Beklemmung nahm noch zu. Zur Gleichgültigkeit der Toten gesellte sich die Verächtlichkeit der Erde, und nicht nur das. Von dem wilden Toben dort drunten im Nebel, den gleichsam vom Schmerz zerklüfteten Bergrücken ging nichts als Feindschaft aus.

Einen Augenblick lang kam es ihm unmöglich vor, die Mission, mit der man ihn betraut hatte, zu erfüllen. Er rang um Fassung. Gegen den Druck, den die Erde und vor allem die Berge mit ihrer Feindseligkeit auf ihn ausübten, versuchte er sich mit dem nötigen Stolz auf seine Aufgabe zu wappnen. Bruchstücke von Reden und Artikeln, Gesprächsfetzen, Hymnen, Filmausschnitte, Festlichkeiten, Tagebuchauszüge, Glockengeläut: diese versunkene Reserve stieg allmählich an die Oberfläche seines Bewußtseins. Tausende von Müttern in seinem Heimatland harrten der Gebeine ihrer Söhne. Und, keine Frage, er würde sie ihnen bringen. Seiner großartigen, ja geradezu heiligen Pflicht würde er sich würdig erweisen. Vorbehaltloser Einsatz war selbstverständlich. Keiner der Gefallenen durfte in der fremden Erde zurückgelassen werden. Ein ehrenvoller Auftrag, kein Zweifel. Unterwegs hatte er mehrfach an die Worte denken müssen, die ihm von einer alten Dame aus höchsten Kreisen mit auf den Weg gegeben worden waren: »Einem stolzen Vogel gleich werden Sie einsam über diesen tragischen Bergen kreisen, um unsere armen Söhne den Schlünden und Klauen zu entreißen.«

Nun neigte sich die Reise ihrem Ende zu. Seit sie die Berge hinter sich hatten und nur noch über zwischen Hügel eingebettete Täler und schließlich flaches Land flogen, war dem General ein wenig leichter ums Herz.

Das Flugzeug sank auf die nasse Landebahn herab. Rote und veilchenblaue Lichter huschten auf beiden Seiten vorüber. Kahle Bäume, ein Soldat im Militärmantel, ein zweiter, noch steifer als der erste, alles wich ängstlich zurück. Bloß das Menschenhäuflein, das zu seinem Empfang erschienen war, wagte sich an das Flugzeug heran.

Der General stieg als erster aus. Ihm folgte der Priester, der ihn auf seiner Mission begleitete. Ein feuchter Wind schlug ihnen entgegen, und sie klappten die Mantelkrägen hoch.

Eine halbe Stunde später fuhren ihre Autos in raschem Tempo auf Tirana zu.

Der General warf einen Blick zu dem Priester hinüber, der schweigend nach draußen starrte. Seine Miene war völlig ausdruckslos. Dem General wurde klar, daß es nichts gab, was er ihm zu sagen gehabt hätte, deshalb zündete er sich eine Zigarette an und schaute wieder aus dem Fenster. In den Wasserfäden, die über das Glas rannen, brachen sich die Konturen der fremden Landschaft, so daß er sie nur verzerrt erkennen konnte.

Aus einigem Abstand war das Pfeifen einer Lokomotive zu hören. Der General versuchte herauszufinden, ob der Zug auf seiner oder des Priesters Seite fuhr. Es war seine Seite. Er sah dem Zug nach, bis er im Nebel verschwunden war. Dann schaute er wieder zu dem Priester hinüber, doch dessen Miene war noch genauso unbewegt und ausdruckslos wie vorher. Wieder hatte der General das Empfinden, daß es nichts zu sagen gab. Es gab, das wurde ihm klar, noch nicht einmal etwas, das zu überlegen gewesen wäre. Über alles hatte er schon während der Reise nachgedacht. Nun war er müde. Neue Gedanken ließ er besser gar nicht mehr zu. Genug. Lieber kontrollierte er in dem kleinen Spiegel, ob seine Uniform noch richtig saß.

Sie kamen in Tirana an, als es Abend wurde. Nebel hing reglos über den Wohnblocks, den Straßenlaternen und den kahlen Parkbäumen. Durch die Autoscheiben sah er eine große Anzahl von Passanten im Regen umhereilen. Es gibt hier wirklich eine Menge Schirme, dachte er. Er wollte den Priester ansprechen, weil er des Schweigens überdrüssig war, doch fiel ihm kein Gesprächsthema ein. Auf seiner Seite des Fahrzeugs tauchten erst eine Kirche und dann eine Moschee auf. Auf des Priesters Seite gab es eine endlose Reihe hoch aufragender Wohnblocks, die von Gerüsten umgeben waren. Rotäugige Kräne bewegten sich drachengleich durch den Nebel. Der General wies den Priester auf die Kirche und die Moschee hin, doch dieser ließ kein besonderes Interesse erkennen. Neugier ist seine Sache wohl nicht, dachte der General. Es ging ihm nun besser, nur hatte er niemand, mit dem er sich unterhalten konnte. Ihr albanischer Begleiter saß auf dem Platz vor dem Priester, während die beiden anderen, die zu ihrem Empfang am Flugplatz erschienen waren, ein Abgeordneter und ein Ministerialbeamter, im zweiten Auto folgten.

Als sie im Hotel »Dajti« ankamen, hob sich die Stimmung des Generals erheblich. Er suchte sein Zimmer auf, um die Uniform zu wechseln. Dann ging er in die Halle hinunter und meldete ein Telefongespräch nach Hause an.

Der General, der Priester und die drei Albaner nahmen gemeinsam an einem Tisch Platz. Ihre Unterhaltung drehte sich um verschiedene belanglose Themen. Der Politik gingen sie tunlichst aus dem Weg. Der General strahlte Höflichkeit und Seriosität aus. Der Priester sprach sehr wenig. Diese Wortkargheit veranlaßte den General dazu, deutlich zu machen, daß er dennoch der Wichtigere war. Er ließ sich über die positiven Traditionen der Menschheit aus, was die Bestattung gefallener Soldaten anbelangte. Griechen und Trojaner, so legte er dar, nutzten Kampfpausen, um ihre Toten mit feierlichem Gepränge zu Grabe zu tragen. Was seine eigene Mission anbetraf, äußerte er sich sehr optimistisch. So schwer es auch werden mochte, er würde diese heilige Mission auf jeden Fall ehrenvoll zu Ende bringen. Schließlich warteten Tausende von Müttern auf ihre Söhne, und zwar schon seit mehr als zwanzig Jahren. Natürlich war es ein anderes Warten als damals, als sie noch auf eine Heimkehr lebender Söhne hatten hoffen können, aber trotzdem, auch die Toten wurden erwartet. Er würde den Müttern die sterblichen Überreste ihrer Söhne zurückbringen, die der schlechten Führung unfähiger Generale im Krieg zum Opfer gefallen waren. Das machte ihn stolz. Er würde keine Mühe scheuen ...

»Herr General, Ihr Gespräch...«

Der General erhob sich lebhaft.

»Sie entschuldigen mich, meine Herren.« Mit langen Schritten begab er sich zum Empfang.

Seine Rückkehr war von gleicher Erhabenheit. Er verstrahlte Glanz. Sie tranken Kaffee und Kognak. Die Unterhaltung wurde herzlicher. Der General war weiterhin darum bemüht, deutlich zu machen, daß er bei dieser Mission das Sagen hatte, während der Priester, wenngleich im Range eines Obersten stehend, sich nur um die geistlichen Belange zu kümmern hatte. Der General war die Hauptperson und konnte bestimmen, über was geredet wurde: über Kognak, die Hauptstadt, über Zigaretten. Er fühlte sich ausgesprochen wohl in diesem Hotelsalon mit seinen schweren Vorhängen, obwohl die Musik fremdartig, sogar sehr fremdartig klang. Er wunderte sich selbst über seine plötzliche Schwäche für die Möbel und Accessoires ringsum, von den weichen Sesseln bis hin zu der angenehm brodelnden und zischenden Espressomaschine....
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Autor

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er galt jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er war Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebte zuletzt in Tirana und Paris. Er starb 2024 in Tirana.Joachim Röhm lebt als freier Übersetzer in Stuttgart, München und Tirana. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Albanien Ende der 70er Jahre, kehrte er 1980 nach Deutschland zurück. 2010 wurde er mit dem Jusuf Vrioni Übersetzerpreis der Republik Albanien ausgezeichnet.