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Argentiniens Mythos der »Großen Spaltung«

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
401 Seiten
Deutsch
Campus Verlag GmbHerschienen am19.07.20231. Auflage
1983 kehrte Argentinien nach den traumatischen Jahren der Militärdiktatur zur Demokratie zurück. Trotz der anfangs in der Bevölkerung weit verbreiteten Aufbruchsstimmung unter Präsident Raúl Alfonsín gilt es seither als chronischer Krisenstaat. Neben sozialen, ökonomischen und politischen Spannungen ist das Land bis heute durch eine tiefe Zerrissenheit über die Bewertung der nationalen Vergangenheit geprägt. Tobias Renghart analysiert, wie Regierungen und politische Führungsfiguren unter Rückgriff auf die Geschichte emotionale Narrative schufen, um sich selbst zu legitimieren und dabei die Spaltungstendenzen innerhalb der Bevölkerung verschärften. Er eröffnet so neue Perspektiven auf die gegenwärtige gesellschaftliche Polarisierung Argentiniens.

Tobias Renghart forscht zur lateinamerikanischen und südeuropäischen Ideengeschichte.
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Produkt

Klappentext1983 kehrte Argentinien nach den traumatischen Jahren der Militärdiktatur zur Demokratie zurück. Trotz der anfangs in der Bevölkerung weit verbreiteten Aufbruchsstimmung unter Präsident Raúl Alfonsín gilt es seither als chronischer Krisenstaat. Neben sozialen, ökonomischen und politischen Spannungen ist das Land bis heute durch eine tiefe Zerrissenheit über die Bewertung der nationalen Vergangenheit geprägt. Tobias Renghart analysiert, wie Regierungen und politische Führungsfiguren unter Rückgriff auf die Geschichte emotionale Narrative schufen, um sich selbst zu legitimieren und dabei die Spaltungstendenzen innerhalb der Bevölkerung verschärften. Er eröffnet so neue Perspektiven auf die gegenwärtige gesellschaftliche Polarisierung Argentiniens.

Tobias Renghart forscht zur lateinamerikanischen und südeuropäischen Ideengeschichte.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783593455112
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum19.07.2023
Auflage1. Auflage
Seiten401 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4418 Kbytes
Artikel-Nr.17534716
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



2Die demokratisch-moralische Erneuerung einer autoritären Gesellschaft: Die Regierungszeit Raúl Alfonsíns (1983-1989)


Die Amtszeit des ersten Präsidenten nach der Rückkehr zur Demokratie war gekennzeichnet von einer anfänglich großen Aufbruchsstimmung in einem politischen System, dessen Vertreter sich scharf vom autoritären, repressiven Vorgängerregime abgrenzten. Raúl Alfonsín versuchte, seine eigene Regierung und die wiederbelebte Demokratie nachhaltig narrativ zu legitimieren. Die Analyse wird zeigen, auf welche Art und Weise er hierfür auf die nationale Historie zurückgriff, welche Mythen und Symbole er nutzte und wie er mit politischen Konkurrenten in Deutungsstreitigkeiten geriet. Gleichzeitig wird deutlich werden, dass veränderte Staats- und Gesellschaftsbilder im Zuge der globalen Transformation der 1970er Jahre immer wieder durchschlugen und das Narrativ beeinflussten. Bevor sich die Arbeit den ersten Rechtfertigungsnarrativen widmet, folgt nun ein kurzer Überblick über die hierfür entscheidenden Momente während der Präsidentschaft Alfonsíns, über die Quellenbasis sowie über die wichtigsten am Deutungskampf mitwirkenden Akteure.


2.1Die Präsidentschaft Alfonsíns: Momente und Akteure


Das erste zentrale Momentum stellte der argentinische Wahlkampf im Jahre 1983 dar. Die regierende Militärjunta war aufgrund der internationalen Kritik an der verheerenden Menschenrechtslage, einer schweren wirtschaftlichen Krise und internen Zerwürfnissen bereits seit Monaten unter enormen Druck gestanden. Vor allem vor diesem Hintergrund wird die Auslösung des kurzen, aber verlustreichen Malvinas-Krieges163 von April bis Juni 1982 als letzter Versuch gedeutet, die argentinische Gesellschaft hinter dem emotionalisierenden Thema der Rückeroberung der Inseln noch einmal hinter sich zu einen.164 Als die Führung nach einem letztlich aussichtslosen Krieg, in dem insbesondere zahlreiche junge argentinische Soldaten ihr Leben gelassen hatten, am 14. Juni die Kapitulation verkündete, war die Abdankung von der Macht nur noch eine Frage der Zeit.

Im nun anberaumten Wahlkampf standen sich der Rechtsanwalt Raúl Alfonsín von der Unión Cívica Radical sowie Ítalo Luder vom Partido Justicialista als aussichtsreichste Kandidaten gegenüber. Während sich Alfonsín frühzeitig gegen seinen internen Rivalen Fernando de la Rúa durchsetzen konnte, herrschte im PJ lange innerparteiliche Uneinigkeit.165

Die Partei hatte noch mit dem Erbe der letzten peronistischen Regierungsperiode von 1973 bis 1976 zu kämpfen, die vielen Argentiniern als Vorspiel der Militärdiktatur in Erinnerung war.166 Die Frage, ob und wie die politische Elite aus jener Zeit in die Neuaufstellung der Partei integriert werden sollte, spaltete die peronistische Bewegung. Luder galt in den ausbrechenden Flügelkämpfen als Kompromisskandidat, der zudem die Unterstützung mächtiger Gewerkschaftsführer wie Lorenzo Miguel genoss.167

Trotz der internen Verwerfungen galten die Peronisten bis kurz vor dem Urnengang als Favoriten - sie hatten noch nie eine freie Wahl im Land verloren und gaben sich auch dieses Mal überzeugt, ihre breite Basis ausreichend mobilisieren zu können. Als Alfonsín am 10. Dezember 1983 als gewählter Präsident vor eine ausgelassene Menschenmenge auf den Balkon des Cabildo trat, war er gleichzeitig der erste, der den PJ in einer demokratischen Wahl besiegt hatte. Die Euphorie während des demokratischen Übergangs, die nicht zuletzt vom Präsidenten selbst befeuert wurde, bot der Regierung gute Grundvoraussetzungen bei der Durchsetzung geplanter Reformprojekte. Andererseits schürte sie jedoch eine kaum zu erfüllende Erwartungshaltung über rasche, nachhaltige Verbesserungen der gesellschaftlichen Verhältnisse.168 Die narrativen Elemente im Wahlkampf des UCR-Präsidentschaftskandidaten bilden einen ersten Fixpunkt der Untersuchung. In den Auftritten und Reden des Wahlkampfes, aber auch schon vor der eingeleiteten Transition hatte Alfonsín in mehreren publizierten Schriften und Artikeln eine Vision des Landes sowie die groben Linien seines Gesellschafts- und Staatsverständnisses ausgebreitet und damit die Grundpfeiler seiner Rechtfertigungserzählung abgesteckt (Kapitel 2.2).

Von Anfang an stand die Frage der Aufarbeitung der zurückliegenden Diktaturjahre und des Umgangs mit den Verantwortlichen hinter den begangenen Verbrechen im Mittelpunkt der Agenda Alfonsíns. Den Höhepunkt bildete hier der sogenannte »Junta-Prozess« vom April bis Dezember 1985 und die Verurteilung der Führungsriege der ersten Diktaturphase um Jorge Rafael Videla, Roberto Viola und Emilio Massera. Der Schuldspruch gegen die Generäle wurde von großen Teilen der Bevölkerung zustimmend aufgenommen und gab der Vision des Präsidenten von einer moralischen Regeneration Auftrieb. Die Bestrafung der Militärs so kurz nachdem das Regime abgetreten war, wurde als historisch gefeiert und auch von internationalen Beobachtern wie Amnesty International als vorbildlich gewürdigt.169 Bald kristallisierte sich jedoch heraus, dass damit die Diskussion um Schuld und Aufarbeitung erst am Anfang stand. Eingeengt zwischen dem lauten Ruf nach einer Ausdehnung der Strafverfolgung über die obersten Verantwortlichen hinaus und zunehmenden Widerständen und Drohgebärden aus den Reihen der Militärs, die ab 1987 in mehrere Aufstände von Offizieren mündeten, schränkte Alfonsín die Spielräume der Strafverfolgung mit zwei Gesetzen drastisch ein. Die Bedeutung der Militärpolitik sowie die in diesem Kontext aufkommenden Komplikationen und Widersprüche sind Gegenstand von Kapitel 2.3.1.

Ein weiteres Konfliktfeld, welches das Narrativ der UCR-Regierung von Anfang bis zum Ende prägte und in Kapitel 2.3.2 im Mittelpunkt steht, stellte die stets kontroverse Beziehung zu den mehrheitlich peronistisch geprägten Arbeitnehmervertretungen dar.170 Das entscheidende Momentum ergab sich bereits im ersten Jahr seiner Präsidentschaft, als die Regierung mit der »Mucci-Gesetzesvorlage« ihre Vorstellung von einer Enthierarchisierung und Demokratisierung der Arbeitnehmervereinigungen vorantrieb und die gespannte Beziehung mit den Organisationen in einem erbitterten Machtkampf um die Deutungshoheit eskalierte. Aus der konfrontativen Ausgangsposition entstand ein jahrelanger Disput, der nur in wenigen Phasen von Dialog- und Kooperationsversuchen unterbrochen wurde. Gerade die Confederación General del Trabajo de la República Argentina (Allgemeiner Arbeiterverband der Republik Argentinien, CGT) unter ihrer Führungsfigur Saúl Ubaldini wurde zu einem omnipräsenten Gegenspieler Alfonsíns. In seiner Amtszeit kam es zu nicht weniger als 13 Generalstreiks, was einen Ausweg aus der ohnehin prekären ökonomischen Lage des Landes weiter erschwerte. Hinzu kam, dass mit den argentinischen Unternehmern und den mächtigen Agrarwirtschaftsverbänden, die für einen gewichtigen Anteil der argentinischen Export-Palette verantwortlich zeichneten,171 zwei weitere Gruppierungen die Regierung bedrängten, die ökonomische Strategie zu ihren Gunsten hin auszurichten. Hier ging es immer auch um die Frage, ob und wie die überaus starken und parteiideologisch aufgeladenen korporativen Strukturen, die Argentiniens Regulierungsparadigma bestimmt hatten, aufgebrochen werden sollten.

Obwohl die Regierung Alfonsín also von Beginn an von diesen entscheidenden gesellschaftlichen Akteuren Luis Alberto Romero zufolge im besten Falle »geduldet«172 wurde und auch die Beziehung zum oppositionellen Peronismus äußerst konfrontativ war (Kapitel 2.4), gelang es ihr, die Parlamentswahlen 1985 für sich zu entscheiden und die Vorherrschaft an der Urne zu bestätigen.173 Die Legitimationsmuster seiner Herrschaft schärfte Alfonsín während den ersten beiden Jahren seiner Präsidentschaft weiter. Im Anschluss an den Wahlsieg hielt er die »Rede vom Parque Norte«, die für gewöhnlich als Höhepunkt seiner Präsidentschaft gedeutet wird und auch für das Verständnis seiner narrativen Herrschaftslegitimation eine gewichtige Rolle spielt (Kapitel 2.3.4).

Bedeutend war dabei ebenso das...


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