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Einband grossGrand Tour
ISBN/GTIN

Grand Tour

oder die Nacht der Großen Complication - Roman
TaschenbuchKartoniert, Paperback
752 Seiten
Deutsch
btberschienen am01.03.2004
Der verkrachte Student Leo Pardell lässt Mutter und Freundin in dem Glauben, er befinde sich auf Sprachreise in Buenos Aires. Doch in Wirklichkeit heuert er als Schlafwagenschaffner an, reist kreuz und quer durch Europa und begegnet einer Vielzahl von Menschen, unter ihnen auch dem exzentrischen Uhrensammler Baron Reichhausen auf der Suche nach einem legendären Stück, der "Grande Complication". Unversehens wird Leo zur Schlüsselfigur in Reichhausens fanatischer Jagd.Liebes-und Detektivgeschichte, Entwicklungsroman und Schelmenstück, Kulturgeschichte und Reisebericht in einem: Kopetzkys literarische Tour de Force begeisterte Kritik und Lesepublikum gleichermaßen. Von elegant geschliffener Sprache, höchst amüsant, präzise und zugleich überbordend an Phantasie bietet "Grand Tour" ein Lesevergnügen der ganz besonderen Art.mehr

Produkt

KlappentextDer verkrachte Student Leo Pardell lässt Mutter und Freundin in dem Glauben, er befinde sich auf Sprachreise in Buenos Aires. Doch in Wirklichkeit heuert er als Schlafwagenschaffner an, reist kreuz und quer durch Europa und begegnet einer Vielzahl von Menschen, unter ihnen auch dem exzentrischen Uhrensammler Baron Reichhausen auf der Suche nach einem legendären Stück, der "Grande Complication". Unversehens wird Leo zur Schlüsselfigur in Reichhausens fanatischer Jagd.Liebes-und Detektivgeschichte, Entwicklungsroman und Schelmenstück, Kulturgeschichte und Reisebericht in einem: Kopetzkys literarische Tour de Force begeisterte Kritik und Lesepublikum gleichermaßen. Von elegant geschliffener Sprache, höchst amüsant, präzise und zugleich überbordend an Phantasie bietet "Grand Tour" ein Lesevergnügen der ganz besonderen Art.
Details
ISBN/GTIN978-3-442-73108-4
ProduktartTaschenbuch
EinbandartKartoniert, Paperback
Verlag
Erscheinungsjahr2004
Erscheinungsdatum01.03.2004
Seiten752 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.10553636
Rubriken

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Wir betreten die Bahnhöfe: fast immer in der Stadtmitte gelegen, an ihren Vorderseiten kolossal den großen Boulevards geöffnet, Einfallstore in eine Welt aus Fahrplänen und Destinationen. Wir betreten die Bahnhöfe, an irgendeinem Ort, stehen vor der Pariser Gare de l'Est, unser Blick wandert über die Front, wir erheben uns, passieren die hundert Jahre alten Figurinen des Verkehrs und des modernen Fortschritts, setzen uns kurz auf einen der Vorsprünge, von deren Höhe aus die scheinbar chaotische Bewegung des Kommens und Gehens der Reisenden eine Ordnung erhält, eine Logik des Austauschs und des freien Fließens, die, je höher wir steigen, desto geschmeidiger und natürlicher erscheint, wie auch die Stränge der Schienen, die undurchschaubar und wahllos wirken, solange man sich auf gleicher Höhe mit ihnen befindet. Doch jetzt, in diesem Augenblick, da wir den Bahnhof Milano Centrale endgültig überblicken und die klassische Anordnung seiner kolossalen Treppenhäuser begriffen haben, wenden wir uns wieder nach Norden und ermessen bewundernd den Strauß von Richtungen und Verzweigungen, die sich uns darbieten. Es ist ganz egal, welchem der Schienenstränge wir folgen: Sie führen fort, verzweigen sich immer weiter und weiter, bis sie in der selbstbewußt aufragenden Südostseite des Genfer Hauptbahnhofs enden, in der theatralischen Kulisse des Bahnhofs von Straßburg, in Genuas orientalischer Phantasmagorie mit ihrer kleinen, spitzen Kuppel und den in die Felsen gebauten Bahnsteigen, die langgestreckten, kühlen Höhlen gleichen. Wir umschweben das zierliche, in den Stadtverkehr gesenkte Portal des Hauptbahnhofs Kopenhagen, Helsinkis schweigende Wächter, die riesigen Granitfiguren, die gewaltige leuchtende Kugeln in die nordische Nacht hineinhalten, spüren die Hektik von Santa Maria Novella in Florenz oder die atemberaubende Weitläufigkeit von Wien West, um schließlich auf den Gedanken zu kommen, uns irgendwo im Inneren der Bahnhöfe niederzulassen und den Flug zu unterbrechen. Dort allerdings, auf den Stahlträgern, den Säulen und den gegen alle Schwere in lichten Bögen geschwungenen eisernen Balustraden, wimmelt es von spitzen Stacheln und von hinterhältigen Drähten, die uns Stromschläge versetzen. Man duldet uns nicht, man vertreibt uns, kaum daß wir uns irgendwo niedergelassen haben. Also durchqueren wir ruhelos die Hallen, fliegen zwischen den Ausgängen hin und her, sammeln uns auf den Vorplätzen, schwärmen auf, und manchmal lassen wir uns in die ruhigen Winkel voller Zigarettenstummel und Abfall treiben, in denen wir plötzlich alleine sind, und für uns. Eine einzelne. Eine unter vielen. Da ist sie.Wie sollen wir sie nennen? Es gibt so viele ihrer Art, aber da wir beschlossen haben, dieser einen zu folgen, müssen wir ihr einen Namen geben: Sagen wir Leoni? Nein, aber ein>LL Wir wollen sie Lucia nennen, das ist ein guter Name. Lucia wurde, sieben Monate vor ihrer gerade erfolgten Taufe, auf einer von sieben Bolzen zusammengehaltenen Querstrebe aus soliden Stahlträgern geboren, zwischen zwei der spitzen Drahtstifte, die eigentlich zur Abwehr angebracht waren und auf denen es sich ihre Mutter geschickt und vorsichtig bequem gemacht hatte, um Lucia zu gebären.Unserem Blick zeigt sich Lucia im südlichen Teil des Münchener Hauptbahnhofs, nahe der großen Treppe zum Untergrund. Unschlüssig, was sie eigentlich will, ist sie der Zudringlichkeit eines großen, allerdings schon etwas alten Liebhabers ausgesetzt, dem ein Teil seines linken Fußes fehlt, weshalb er bei gewissen zärtlichen Drehungen immer auf den Schnabel fällt. Lucia ist nicht interessiert. Nach einer Weile besinnt er sich und schließt sich einem kleinen Schwarm an, der die nächtliche Bayerstraße Richtung Süden überfliegt. Lucia bleibt und geht äugend über das Pflaster. Es gibt da interessante Lichter: Imbisse!An einem davon steht ein großgewachsener Mann, vielleicht Ende Fünfzig. Ein leichtes Doppelkinn und überhaupt eine gewisse Schwammigkeit des Gesichts können den athletischen Eindruck, den er vermittelt, zwar trüben, aber nicht ganz zunichte machen. Die braungebrannte Glatze und eine ungesunde, auf Alkohol zurückzuführende Röte der Wangen verstärken diesen doppeldeutigen Eindruck, etwas Zwiespältiges, das sich auch in seiner weiteren Erscheinung fortsetzt: Er trägt einen edlen Trenchcoat von Burberrys, wundervolle dunkelbraune Schuhe, deren Leder mit dem Leder seines Gürtels korrespondiert, so, wie der Farbton seiner Strümpfe die Farbe seiner Krawatte wiederaufnimmt. In seiner Linken ein weißes Batisttaschentuch mit dem in zartem Blau gestickten Monogramm FvR und einer kleinen, fünfzackigen Krone darüber. Mit diesem Taschentuch wischt er sich größere Mengen eines Gemischs von Ketchup und Mayonnaise von seinen Mundwinkeln: Er ißt, sichtlich heißhungrig, eine>doppelte Durch des Mannes ruckartige Bewegungen verunsichert, nähert sich Lucia sehr zögerlich den Krümeln und entfernt sich wieder von ihnen, aber jetzt - jetzt hat sie einen beachtlichen Brocken erwischt, wendet sich sofort ab, und als der Trenchcoat des Mannes einen bedrohlichen Schwenk macht, fliegt sie auf in die Halle des Hauptbahnhofs. Lucia passiert das Portal in seinem oberen Drittel, wendet sich nach links den Gleisen und Bahnsteigen zu, überfliegt die Gleise 11 bis 15, um dann neuerlich eine Linkskurve zu beschreiben, deren Bogen sie zunächst weit über die Schienenstränge führt. Sie läßt sich in einem wunderschön niedersteigenden Zirkel sinken, landet schließlich auf dem äußersten Bahnsteig, Nummer 11, und beginnt, so gierig den Krümel zu verzehren, daß sie das Näherkommen des jüngeren Mannes, der den Bahnsteig herunterkommt, erst imallerletzten Moment bemerkt und erschreckt und panisch auffliegt. Der junge Mann bleibt stehen und sieht, wie sie höhersteigend der Glasfront der Dachkonstruktion zufliegt. Er blickt ihr zärtlich und sehnsuchtsvoll nach, obwohl der Aufflug einer Taube auf einem Bahnhof nichts Ungewöhnliches ist. Er sieht ihr nach, die sich, in der plötzlichen Erinnerung, daß es unmöglich ist, auf dem Stahl der Dachkonstruktion zu landen, bis auf die Höhe des unteren Rands der Glasfassade fallen läßt, in die Dunkelheit hinausfliegt und seinen Blicken entschwindet.Dann geht er das Gleis weiter hinunter. Er denkt nicht daran, daß zwischen ihm und einem anderen Menschen - den er nicht kennt, den er niemals kennenlernen wird - vielleicht nichts als der Flug einer Taube liegt. Oder liegen wird: eine Figur aus Zufällen und Rätseln. Der zarte Flugschatten einer Geschichte.München, Aufenthalt 7. 4. 1999, 20:35Stille, würgende Panik. Stärker mit jedem Meter, den Pardell den Bahnsteig 11 des Münchener Hauptbahnhofs hinunterging. Er war viel zu früh aufgebrochen, um auf keinen Fall zu spät zu kommen, und hatte dann unwohl auf den Vorhöfen des Bahnhofs und seinen abseitigen Passagen herumgetrödelt. Er hatte wehmütig die vielsprachigen Auslagen der Zeitungshändler überflogen. Hatte auf dem aufgestellten riesigen Fernsehschirm Bilder von der Bombardierung einer großen Stadt auf dem Balkan gesehen und NATO-Generäle, die Fotos präsentierten, die bewiesen, daß die Bombardierung gerecht und sinnvoll war. Dann hatte er für eine Mark das Los einer Lotterie gekauft, die das Hunderttausendfache des Einsatzes versprach, hatte das Los aufgerissen und mehrere Minuten den Schriftzug ''Leider Nicht' gelesen. Zwischendurch hatte er mit der Präzision eines verzweifelten Guinnessbuchaspiranten einen der großen gelben Fahrpläne studiert - und mit all diesen Tätigkeiten hatte er, halb abwesend, so viel Zeit verschwendet, bis zwischen ihm und dem Beginn seines allerersten Dienstes nur noch Minuten standen.Die letzte Minute entführte eine Taube, die vor ihm aufflog. Er sah ihr nach, bis sie unter dem Dach des Hauptbahnhofs, unter den auf der Innenfassade angebrachten riesigen roten Buchstaben GRUNDIG verschwunden war. Er blickte auf seine Uhr. Sie zeigte 16 Uhr 50, was bedeutete, daß sein Dienst gerade begonnen hatte. In der Compagnie war Dienstbeginn eine Stunde vor Abfahrt, und der Nachtzug nach Ostende würde München - nach Plan - um 21 Uhr 51 verlassen. Dieser Nachtzug führte einen Regelschlafwagen mit sich. Der Schaffner dieses Schlafwagens würde niemand anderes als der junge Mann sein, sein Name ist Leonard Pardell, geboren 1971 in Hannover. Student in Berlin, z. Z. Urlaubssemester.Seine Uhr war eine rechteckige Authentic-Panther-Steele, die er vor zehnMünchen, Aufenthalt 7. 4. 1999, 20:3515Jahren vom damaligen Freund seiner Mutter zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Eine schlichte, stählerne Armbanduhr mit einem Neupreis von knapp 200 Mark, eine sogenannte Modeuhr. Sie ging vier Stunden nach.Das hatte seinen Grund, und so gab es durchaus ein paar Menschen, die bei der Frage nach Pardells augenblicklicher Ortszeit ihrerseits auf ihre Uhr geblickt und vier Stunden abgezogen hätten.Vor allem für seine Mutter war es von Bedeutung, daß ihr Sohn vor einer guten Woche einen fundamentalen Schritt in seinem Leben unternommen hatte und für ein dreiviertel Jahr nach Argentinien gegangen war, um sich den Herausforderungen der Globalisierung zu stellen.Im Augenblick, dachte seine Mutter, befand Pardell sich in einer innovativen, halbstaatlichen Sprachenschule in Buenos Aires, gelegen im romantischen Stadtviertel Palermo, wo er die vor Jahren erworbenen Grundkenntnisse der spanischen Sprache zügig und mit großem Erfolg vertiefte. In fünf Wochen - denn der Intensivkurs dauerte sechs lange anstrengende Wochen - würde er mit einem international anerkannten Zeugnis neugierig, furchtlos und fließend Spanisch sprechend mit dem Nachtzug von Buenos Aires nach Viedma aufbrechen, einer kleinen, romantischen Stadt im Delta des Rio Negro. Die Reise von eintausend Eisenbahnkilometern würde ihn über Mar del Plata und Bahía Blanca führen, immer entlang der landschaftlich reizvollen argentinischen Atlantikküste.In Viedma würde er dann Felisberto Sima Martínez treffen, den Leiter eines geheimnisvollen Dienstleistungsunternehmens, bei dem Pardell für ein halbes Jahr ein innovatives Praktikum absolvieren würde, um sich den Herausforderungen der Globalisierung zu stellen.Wohnung in einem direkt am Atlantik gelegenen, romantischen Chalet und köstliche, gesunde Mahlzeiten wurden gestellt. Dazu ein Praktikumshandgeld von monatlich 900 US-Dollar. Martínez arbeitet unter anderem mit der UNESCO zusammen. Weshalb Pardell am 3. Januar 2000, mit einem weiteren, aussagekräftigen Zeugnis, diesmal über seine erfolgreichePraktikumstätigkeit, glücklich und mit den besten Aussichten wieder in Deutschland eintreffen wird, um im Kreise seiner stolzen Mutter und ihres derzeitigen Freundes vom phantastischen, romantischen Silvesterfest in Buenos Aires zu erzählen, das Felisberto Sima Martínez abschließend ausgerichtet haben wird.Danach plant Leo mittelfristig den Eintritt in ein innovatives Dienstleistungsunternehmen in Norddeutschland, dessen Operationsschwerpunkt der südamerikanische Raum sein soll. Menschen, Begegnungen, neue Erfahrungen - Flexibilität, unkonventionelle Lösungen für unkonventionelle Aufgaben, Weltoffenheit und eine Liebe zur Sache, zur Begegnung mit Menschen, neuen Erfahrungen mit unkonventionellen Aufgaben, Flexibilität in der Lösung offener Aufgaben und schließlich, ganz wichtig: offene Erfahrungen in Begegnungen mit neuen Lösungen ^Während seine Mutter, keineswegs 11.713, sondern nur 495 Kilometer von Leo entfernt, über der Lektüre der Werbebroschüre einnickte, die ihr Pardell mit einem fröhlichen letzten Gruß aus der alten Welt geschickt hatte, und in ihren kurzen, abgerissenen Träumen verwirrende Überlegungen anstellte, versicherte sich Pardell zum zehnten Mal an diesem Abend der Ortszeit von München.Er folgte dem Lauf des Sekundenzeigers, der seinen Betrachter ohne jede Rücksicht in den negativen Raum der Verspätung drängte. Er war ein paar Schritte weitergegangen, hatte nun fast das Ende der Überdachung erreicht. Seinen Koffer in der Hand, sah er düster den Bahnsteig hinunter. Er fühlte den Windzug aus dem Offenen, wo sich in der Nacht der Weichen und Signale die Gleise mit dem Licht des Bahnhofs verloren.Er ging die letzten Meter zur Sektion, deren große Eingangstür kurz vor den Treppen zur Bayerstraße lag. Hinter den Rauchglasscheiben sah er Licht, glaubte, auch einen vorbeihuschenden Schatten zu sehen. Er sah das Emblem der Compagnie: zwei goldene Raubkatzen im Oval, auf blauem Grund - er ergriff die Klinke, drückte sie, öffnete die Tür aber nicht, sondern ließ noch einen letzten Spalt zwischen sich und der Helligkeit der Sektion.Pardell erinnerte sich an das erste Mal, als er in einer ähnlichen Lage gewesen war. Die Adernzeichnungen dieser beiden Augenblicke stiller Panik lagen übereinander, deckten sich annähernd: Er hatte das Fahrrad angeschoben, war dem überaus fröhlich winkenden Dietmar, dem damaligen Freund seiner Mutter, hinterhergefahren. Er wußte, daß er nun für zwei Wochen nichts anderes als das Fahrrad und den fröhlich winkenden Dietmar erleben würde, daß diese beiden sein Kosmos sein würden, an dessen Gültigkeit nichts etwas würde ändern können, für zwei ganze Wochen, einen unbegreiflich langen Zeitraum. Aber seine Mutter wünschte es sich eben so.Er war zwölf Jahre alt. Er sah Dietmar fröhlich winken und stellte sich die vierzehn mal vierundzwanzig Stunden vor, die es brauchen würde, um von Hannover nach Baden-Baden und zurück zu radeln. Er konnte die Landschaften vorausahnen, die mit einem beständig fröhlich winkenden Dietmar angefüllt waren und die er zu durchqueren haben würde.Er war verzweifelt gewesen. Aber dann hatte er sich selbst die Straße, in der sie wohnten, auf dieselbe Weise hochfahren gesehen, wie wenn er von der Schule nach Hause kam. Er wußte, die Radtour würde die Hölle sein, aber sie würde enden. Es könnte alles passieren, was die Kombination eines neuen Liebhabers seiner ziemlich attraktiven, sehr liebenswerten Mutter und einer überraschenden, antiautoritären Radtour zum gegenseitigen Kennenlernen fürchten ließ - aber es würde enden. Er würde in den Augenblicken des größten Unglücks schlicht an nichts anderes denken als daran, wie er die Straße hochfahren würde, Dietmar im Rücken, wie er wieder nach Hause kommen und wie alles vorbei sein würde.Es war dann gar nicht so schlimm gewesen, Dietmar ein netter Typ eigentlich, irgendwas mit Großküchen machte der. Nein, er war eigentlich ganz nett gewesen, wenn es auch nicht lange dauern sollte, bis dieser Dietmar von Bruno verdrängt wurde, Bruno kam schon im folgenden Herbst und blieb ungewöhnlich lange.Das Wichtigste war: Das alles hier würde ebenfalls enden. Er würde - komme, was wolle - am 1. Januar 2000 frühmorgens durch diese Tür hinaustreten. Und dann trat er ein.Trotz seiner Unruhe blickte Friedrich Baron von Reichhausen dem Taxi, das die Pienzenauerstraße hinunterfuhr, nach, bis die Nacht die Spiegelungen der Rücklichter von der regennassen Oberfläche der Straße gesaugt hatte. Dann schloß er die Gartentür auf, vermied es, den Blick auf die seit einiger Zeit nicht geöffnete Garage zu werfen, in der ein praktisch ungefahrener rubinroter Daimler stand, und ging durch den feuchten Garten, um den sich sein Gärtner offensichtlich gerade gekümmert hatte. Der Rasen war frisch geschnitten, die Beete geharkt, an manchen Stellen gab es frischgepflanzte Blumen. Den Gärtner hatte er übernommen, als er vor zwanzig Jahren das Haus gekauft hatte. Der Gärtner war mittlerweile Mitte Achtzig und arbeitete seinerseits nur noch für Reichhausen, weil er fürchtete, der Garten könne ansonsten verwildern - denn die Gespräche zwischen ihm und Reichhausen, der ihn oft eingeladen hatte, etwas mit ihm zu trinken, hatten ihm gezeigt, daß der Hausherr nicht das geringste Verständnis für Gartenarbeit hatte.Der Gärtner trank selten und wenn, dann mäßig. Er haßte diese Einladungen, die damit begannen, daß der Baron 'Hallo! Kommen Sie rein! Es muß unbedingt mehr getrunken werden!' in den Garten hinausrief. Dann saß er unbehaglich auf einem Stuhl, sein Weinglas auf den Knien, und weigerte sich beharrlich, auch nur einen mehr als den ersten Höflichkeitsschluck zu sich zu nehmen, während der Baron Flaschen leerte.Seiner Ansicht nach trank der Baron zuviel, viel zuviel. Im übrigen wußte er nur, daß Reichhausen eine Kanzlei für Erbschaftsangelegenheiten und Vermögensverwaltungen führte und darin wohl als die Koryphäe in München galt. Er wußte, daß ein Vorfahr des Barons ein berühmter Marineflieger des Ersten Weltkriegs gewesen war, der von den nostalgischen Zeitschriften des Militärwesens der Rote Baron der Meere genannt wurde. Das letzte, was er wußte oder ahnte, war, daß der Baron sehr reich war. Nicht nur, weil seine Villa in München-Bogenhausen nur einem reichen Mann gehören konnte, sondern auch, weil sie mit kostbaren Dingen angefüllt war. Wenn er mit dem Baron zusammen im Wohnzimmer sitzen mußte, das Weinglas auf den Knien, dann wanderte sein Blick staunend über eine unüberschaubar große Sammlung mechanischer Uhren.Die einschlägigen Zeitschriften widmeten Reichhausens Sammlung regelmäßig Beiträge. Niemand, außer Reichhausen selbst, wußte genau, wie groß sie war. So wurde sie in der Regel zu den fünf wichtigsten Sammlungen in Europa gerechnet. Reichhausens Anwesenheit auf Auktionen und Ausstellungen wurde stets interessiert zur Kenntnis genommen.Wenn der Baron genügend getrunken hatte, dann stand er gelegentlich auf, holte eine Uhr aus einer der alarmgesicherten Glasvitrinen, zeigte sie dem Gärtner, bestand manchmal darauf, daß dieser sie anlegte, und erzählte ihm, was es mit ihr auf sich hatte. Wer sie getragen; wer sie gebaut habe. Und wo. Der Gärtner wollte mit dem Luxus und der Trunksucht nichts zu tun haben. Er blieb nur wegen des Gartens, den er seit vierzig Jahren pflegte.Heute abend versuchte Reichhausen nicht, ihn einzuladen. Der Gärtner beobachtete, verborgen hinter den Zweigen einer Konifere, wie Reichhausen das Haus betrat. Wie die Lichter im Wohnzimmer angingen. Dort sah er den unheimlichen Baron, wie er seinen Trenchcoat über einen Sessel legte, sich ein Glas holte und eine Flasche französischen Cognac, wie er sich einschenkte und mit dem Glas in der Hand im Wohnzimmer auf und ab ging. Wie er sich immer wieder mit der linken Hand über seine hochrote, glänzende Glatze strich. Der Gärtner beschloß, die Gelegenheit zu nutzen und zu verschwinden, bevor Reichhausen es sich doch noch anders überlegte. Er brachte seine Geräte in den Schuppen hinter dem Haus, nahm sein Fahrrad und radelte, so schnell es ging, nach Hause.Reichhausen sah ihn über den Rasen laufen. Er hatte ihn auch schon hinter der Konifere gesehen. Er wußte, daß der Gärtner ihn fürchtete. Um so besser, dachte er, dann würde er nie von ihm enttäuscht werden. Er lächelte. Es war etwas absolut Unmögliches geschehen. Reichhausen hatte gestern die Spur eines Gegenstandes entdeckt, nach dem er lange gesucht hatte. Von dem er sehr lange geträumt hatte.Es handelte sich um die Ziffer k Grande Complication 1924. Seit er als kleiner Junge von dieser Uhr gehört hatte, war sie ein Traumgegenstand. Die Schönheit der aus 637 einzeln angefertigten Teilen bestehenden Mechanik stand als unerreichbares Ideal hinter seiner Sammlung. Die Ziffer k Grande Complication galt als verschollen. Doch letzte Woche hatte Reichhausens Assistent sie in den weitgestreuten Beständen einer großen Erbschaft entdeckt - nein, weniger als entdeckt, er hatte nur ihre Spur gefunden. Sie war zwar in gewissen Unterlagen vermerkt und genau bezeichnet, aber sie fehlte.Die großen Uhren teilen mit allen übrigen denselben Stoff: die Zeit. Und die Zeit wird andererseits buchstäblich von ihnen geteilt. Je genauer sie das tun, desto einzigartiger werden sie. Desto geheimnisvoller ihre Mechaniken, die abgeschlossen, im Dunkel ihrer Gehäuse ruhen. Ihre Mechaniken sind die Gesamtheit der Wege, auf denen die Kräfte ihrer Federn verteilt werden: Sie bestehen aus der Hemmung, Unruh und Anker, aus den Spiralen und schließlich den Kraftmechaniken der ineinanderspielenden Zahnräder selbst.Die wirklich großen Uhren sind zahlreich. Aber es sind nicht unzählige. Eine sehr große ist die Ziffer k Grande Complication 1924.Als Samuel Moses Ziffer die Grande Complication baute und sie der Genfer Uhrmacherzunft als sein Meisterstück vorlegte, empfanden und spürten seine Zeitgenossen die geniale Provokation dieses Werks unmittelbar - was konnte eine im Jahre 1924 fertiggestellte Uhr, die eine Jahrtausendanzeige besaß, eine erhebliche, bei einer Armbanduhr noch niemals ausgeführte mechanische Komplikation, anderes bedeuten, als daß ihr Schöpfer davon ausging, sein Werk werde zumindest sechsundsiebzig Jahre und einen Tag laufen?Es bedeutete, daß ihr Schöpfer den zukünftigen Besitzer dieser Uhr, seinen Enkel, ja wahrscheinlich eher seinen Urenkel, in die Lage versetzen wollte, am 31. Dezember 1999 um Mitternacht die verborgene Tätigkeit eines alleine dafür gebauten und konstruierten Schalters beobachten zu können, der 1,3 Millimeter nach oben rückte und eine Mechanik ins Werk setzte, die anstelle der Ziffern>19992000 Das war eine Ungeheuerlichkeit, die auf einem solch offensichtlichen Ausmaß von Spekulation und Selbstvertrauen beruhte, das dasjenige bei weitem überstieg, zu dem ein zünftiger Schweizer Uhrmacher berufen sein sollte.Die Ziffer à Grande Complication blieb die einzige originale Uhr des großen Mechanikers. Der Meistertitel wurde ihm verweigert, es kam zu Denunziationen, und es gab wohl eine Intrige mit erotischem Hintergrund. Man duldete ihn nicht länger in Genf.Er trat danach in verschiedene Werkstätten in Italien, Deutschland, Belgien ein, kam wieder nach Deutschland, ging dann nach Frankreich und hinterließ seine spärlichen Spuren im Elsaß, in Rouen und in Paris. Soweit man weiß, war er zuletzt in der Werkstätte von Léon Leroy tätig. Leroy hatte zwei Jahre vor Samuel Ziffer als einer der ersten eine Kleinserie von sieben Automatikuhren mit Kalender angefertigt. Er dürfte Ziffer technisch beeinflußt haben, obwohl der auf Leroys spitzovale Pendelmasse, die fast das ganze Gehäuse ausfüllte, verzichtet hatte. Leroy hatte ihn der Pariser Zunft als Geselle gemeldet. Seinen Meisterbrief hatte Samuel Ziffer ja nie erhalten. Seine Spuren verlieren sich 1942 in Südfrankreich. Vielleicht war der verkannte Meister der Großen Complication nach Spanien entkommen. Vielleicht nicht.Die Uhr, die seinen Namen trug, ging andere Wege. Bevor er Genf verließ, hatte sie ein Händler zu einem lächerlichen Preis erworben und zwei Monate später für einen bereits erstaunlichen Betrag einem einheimischen Banker verkauft, der sie seinem Schwiegersohn zur Hochzeit schenkte. Die Ehe war nicht von Dauer. Danach wechselten die Besitzer häufiger, und auch die Zahl ihrer Liebhaber wuchs. Einer ihrer berühmtesten war der Reichsjagdmeister des Großdeutschen Reichs, und für knappe zwei Jahre gab es zumindest einen Mann, der in Görings Auftrag darauf angesetzt war, die mythische erste Uhr mit Jahrtausendanzeige zu finden. Ob es ihm gelang, ist nicht gesichert. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie einfach verschwunden. Ihre Jahrtausendanzeige zeigte die Ziffern>1 - 9 - 4 - 2 Reichhausen wußte von der Existenz der Ziffer seit dem Frühsommer 1946. Jeder ihrer wahren Jäger hatte eine eigene Geschichte mit dieser Uhr, konnte genau erzählen, wie er zum ersten Mal von ihr erfahren und wann und warum er angefangen hatte, von ihr zu träumen.Diese Jäger, eine kleine, untereinander aber tödlich zerstrittene Meute von Sammlern, teilten neben ihrer Leidenschaft für die Ziffer noch zwei Dinge: Sie waren wirkliche Kenner mit bedeutenden und komplexen Sammlungen mechanischer Armbanduhren. Und alle waren dementsprechend reich.Miteinander sprachen sie selten, sie mieden sich, und allenfalls nach großen Messen und Auktionen, die sie viel Geld und Nerven gekostet, ihre Habgier aber zumindest zeitweilig befriedigt hatten, setzten sich ein paar von ihnen an den Tisch eines Grand Hotels, um miteinander zu trinken, ihre Feindschaft für ein paar Stunden zu vergessen und sich die alten Geschichten von der Grande Complication zu erzählen - wie man es über sagenhafte Posträuber oder Briefmarken tut.mehr
Kritik
"Ein großer Wurf."mehr

Autor

Steffen Kopetzky wurde 1971 in Pfaffenhofen an der Ilm geboren und arbeitete nach einem unvollendeten Philosophiestudium eine Zeit lang als Schlafwagenschaffner. Er veröffentlichte u.a. Theaterstücke, Opernlibretti, Radiofeatures und Erzählungen und wurde vielfach ausgezeichnet. Von 2003 bis 2008 war er Künstlerischer Leiter der Biennale Bonn. Der letzte Dieb" ist sein vierter Roman. Nach einem Jahrzehnt in Berlin-Neukölln lebt Kopetzky mit Frau und Kindern wieder in seiner oberbayerischen Geburtsstadt.
Weitere Artikel von
Kopetzky, Steffen