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Culpa

Notizen zum 'Echolot'
TaschenbuchKartoniert, Paperback
382 Seiten
Deutsch
btb Taschenbucherschienen am02.07.2007
Faszinierende Hintergrundinformationen über die Entstehung einer gigantischen Geschichtscollage

Walter Kempowskis Echolot wurde zu einem der spektakulärsten Buchprojekte überhaupt. In seinen Werknotizen und Tagebuchaufzeichnungen enthüllt Kempowski, welche Mühen, Risiken und Gefährdungen, welches gewaltige Ausmaß an Recherchen, des Sammelns und Archivierens, des Ringens um die richtige Form bis zum Erscheinen des Werks zu bewältigen waren.
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Verfügbare Formate
BuchKartoniert, Paperback
EUR19,90
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR10,00

Produkt

KlappentextFaszinierende Hintergrundinformationen über die Entstehung einer gigantischen Geschichtscollage

Walter Kempowskis Echolot wurde zu einem der spektakulärsten Buchprojekte überhaupt. In seinen Werknotizen und Tagebuchaufzeichnungen enthüllt Kempowski, welche Mühen, Risiken und Gefährdungen, welches gewaltige Ausmaß an Recherchen, des Sammelns und Archivierens, des Ringens um die richtige Form bis zum Erscheinen des Werks zu bewältigen waren.
Details
ISBN/GTIN978-3-442-73662-1
ProduktartTaschenbuch
EinbandartKartoniert, Paperback
Erscheinungsjahr2007
Erscheinungsdatum02.07.2007
Reihen-Nr.5
Seiten382 Seiten
SpracheDeutsch
MasseBreite 147 mm, Höhe 216 mm, Dicke 34 mm
Gewicht579 g
Artikel-Nr.10753539
Rubriken

Inhalt/Kritik

Leseprobe
197814. 3. 1978 Gedanke, ein Archiv für ungedruckte Biographien aufzumachen. 19. 3. 1978 Brief an KF. Hier habe ich nun eine neue Idee, die ich irgendwann einmal angehen will. Ein Archiv für ungedruckte Lebenserinnerungen. Ungezählte Leute haben ihre Biographie geschrieben, die liegen in den Schränken herum. Man müßte diese auf Büchsen gezogene Erfahrung speichern und der Gesellschaft nutzbar machen. Ich stelle mir das so vor, daß man hier auf unserm Grundstück ein Extragebäude dafür baut und dort die vielen, wahrscheinlich tausende Biographien archiviert. Man kann sie auswerten und Einzelveröffentlichungen starten. Und wenn Ihr keinen Job kriegt, übernehmt Ihr die Sache. Mit Knaus hab ich das schon durchgesprochen. Finanziert wird die Sache von den Biographieschreibern selbst. Jeder muß 50 Mark bezahlen. Dies ist natürlich ein Hirngespinst, aber ein echter, verwendbarer Kern ist enthalten. 16. 4. 1978 Ich sah heute die Abfall-Fotos durch, die hier so herumliegen, und klebte daraus drei «Bilderbögen». Gerade das Nebeneinander von Fotos, die zeitlich oder inhaltlich nichts miteinander zu tun haben, ist sehr aufregend. Morgen kaufe ich weitere Bristolbögen und stelle andere «Bilderbögen» zusammen. Die sollten in einem speziell dafür angefertigten Kasten liegen. Oder man tapeziert ein Zimmer damit. Das Arbeitszimmer. Chaos wird künstlich hergestellt, damit sich ein Weg in den Ursprung auftut, hier gewinnt man eine neue Ordnung. Dies ist für den nötig, der alles schon so klar vor sich sieht, daß ein Irrtum ausgeschlossen ist. 23. 12. 78 T (Traum): Lesung in Hamburg. Ich warte, daß es endlich anfängt, und die Zuhörer warten auch. Endlich sagte einer: «Geht das nun nicht bald los?» ? Es ist schon fünf vor halb, und ich fange an. Da kommt noch Günter Grass, er zieht sich irgendwie die Jacke oder die Hose an und nimmt mir das Buch aus der Hand und liest aus Solidarität statt meiner. Wir sind uns ganz einig. Hinterher besichtige ich einige Ölbilder, die Böll gehören. Sie werden mir jedoch aus der Hand genommen. ? Lustiges Gespräch über dessen pingelig-spießbügerlichen Eigenarten. Vormittag in Zeven noch ein bißchen eingekauft, danach mit Robert am Saal gewerkelt, der nun doch sehr schön wird. So weiß man doch nun, wofür man gearbeitet hat, d.h., hier schlägt sich der Erfolg faßbar nieder. Kolbe rief noch an, der sich für die Widmung von «Schöne Aussicht» bedankte. In Zeven kucken mich die Menschen an, als sei ein Gartenzwerg lebendig geworden. 24. 12. 78 Heute früh weiter den Saal eingerichtet. Gefühl großer Genugtuung, einen geistig gereiften Plan ausgeführt zu sehen, und Dankbarkeit, die sich ins Religiöse steigert. Das Gefühl, von Gunst des Schicksals geradezu total getroffen zu sein, und plötzlich Aberglaube und Angst, sich durch falsches Verhalten diese Gunst zu verscherzen. Neigung zu Opferung. Ein Blick auf meine Manuskripte aber rückt alles wieder zurecht. Man ist fleißig gewesen, dies ist nicht zu leugnen. 1. 1. 1980 Gründung des Archivs für unpublizierte Autobiographien 1. 1. 1980 T: Merkwürdiger Traum: Ich sei als junger Pfarrer an eine verlotterte Kirche gekommen und halte die Liturgie auf lateinisch. Nur einige wenige antworten krächzend meiner wohltönenden Stimme: Sursum corda. Als ich die Epistel verlesen will, fehlt die Bibel. 3. 1. 1980 Film: Syberberg, Hitler. Von der Idee gut, in einigen Passagen genial.Merkwürdig berührten in diesem, auf Vollendung angelegten Werk einige Schnitzer.Der Gigantismus des Films ist der gigantischen Katastrophe angemessen. Der Stil nur als der eines Deutschen denkbar.17. 1. 1980 Allerhand Fotos auf die Anzeige hin. Die Betrachtung einzelner Fotos mit und ohne Lupe. Man braucht gar nicht so genau hinzugucken, man erfaßt sofort den ganzen Jammer. 24. 1. 1980 Mit der Post kamen etwa 50 Fotos und ein Album. Alle Fotos werden mir geschenkt, meistens von Fans, es sind jetzt ca. 200 lose. Die Sammlung ist schon jetzt beachtlich, sie bekommt ihren Reiz aus der Anonymität der Abgebildeten. 25. 1. 1980 Aus der Schule herauszukommen: ja, wegen Austrocknung. ? Und sei es in Form einer Beurlaubung. Aber die Kinder! 28. 1. 1980 Logische Beendigung meiner Volksschularbeit ist jetzt gegeben: 1980. Nicht nur wegen der glatten 20 Jahre, die ich hinter mich gebracht habe. Ich fühle mich ausgelaugt. Eine Entwicklung ist abgeschlossen. Unerträglich, nach der Publizierung des Schulmeister und der Fibel noch in einem Kollegium sitzen zu müssen, das ja natürlich neidisch. Zunächst Beurlaubung? 30. 1. 1980 Heute mittag kamen wieder Fotos. Diese Beteiligung der Bürger an meiner Arbeit (sie schicken alles kostenlos) ist etwas ganz Neues. Durch allerlei Erfahrungen dachte ich bisher zu negativ von meinen Lesern. Und die Briefe! ? Hier liegt ein großes Betätigungsfeld, ich habe große Lust, damit intensiv weiterzumachen. 1. 2. 1980 Erschütternde Briefe, Ankauf eines 1945-Fotoalbums mit Eintragungen. 2. 2. 1980 Gestern beschäftigte ich mich mit Fotos, ungeahnte Funde! oder besser: Geschenke. Zwei komplette Lebensgeschichten gestern zusammengestellt aus einzelnen Fotos. 3. 2. 1980 Die beiden Gastdozenturen in Oldenburg und Kalifornien kommen mir grade recht. Die Einladungen sind Begründungen für eine Beurlaubung. Auf die Dauer dann die Archive, die rechtzeitig empfangen und geboren wurden. Still kamen sie, und prachtvoll werden sie sich entfalten. 8. 2. 1980 In Amerika vielleicht über das Thema sprechen: Kurzbiographie und Schnappschuß. Weshalb Fotos? Dokumente, wie sie es vordem nicht gab Bildkommentare auf der Rückseite Zusätzliche Briefmitteilungen In Beziehung bringen zur «großen» Geschichte Dadurch Zurechtrücken des Geschichtsbildes Hierfür muß die Bildersammlung noch wesentlich erweitert werden.Kurzbiographien sind fast wichtiger als die dicken «ungedruckten Autobiographien», die für andere Zwecke brauchbar sind. Stilisierung usw.Was die Schnappschußfotografie anbetrifft, so sind wir da jetzt in derLage, 100 Jahre objektiv zu dokumentieren. Die Kunstfotografie (aufRührung aus oder auf das, was man für schön hält) ist für diese Zweckewertlos.Das Absuchen von Bildhintergründen. Wo sind diese Leute jetzt alle?12. 2. 1980 Wohl stellt sich heraus, daß die Fotosendungen oft mehr Spreu enthalten, als zu vermuten war. Man wird aus jeder Sendung nur einige wenige Stücke archivieren: Aufheben tun wir natürlich alles. Gestern die «Zeit» angerufen und die Anzeigen-Variante aufgegeben: W. Kempowski sucht unveröffentlichte Autobiographien für sein Archiv.Diese Anzeige wird mit der Fotoanzeige im Wechsel erscheinen. Die Ausbeute wird groß sein.Rechtliche Frage, was die Auswertung anbetrifft. Hierfür einen Vordruck entwerfen. Knaus sagt: Was wollen Sie damit?13. 2. 1980 In der heutigen Sendung war viel Brauchbares. Eine Familie, herrliche Menschen, drei reizende Töchter. Hier gleich wieder die Neugier: Der Mann, ein Schauspieler, verweigerte sich in der Nazizeit und machte eine Hühnerfarm auf. Auch eine Form der inneren Emigration. Hübsche Bilder einer Schule für Gesangstechnik. ? Eine andere Senderin hat bereits ihre besten Fotos für mich abfotografiert und die Rechnung beigelegt, für ihre Unkosten, 40 DM. Die Kosten halten sich bisher in Grenzen. Ich glaube nicht, daß ich bisher mehr als 1000 Mark investiert habe. Später wird man sich nur die Rosinen herauspicken. Interpretierte Fotos. Man müßte auf den ersten Blick nichtssagende Bilder abdrucken wie ein Gedicht und sie auf der anderen Seite auf Formales hin untersuchen und auf historischen Gehalt. Sich jetzt schon Gedanken zu machen über die Nützlichkeit des Unternehmens ist sinnlos. Bisher ist es noch immer so gewesen, daß alles, was mich interessierte, eines Tages auch nützlich war. 19. 2. 1980 Heute mittag fand ich das neue Hörspiel vor, hörte es mir an und war recht angetan, passagenweise erschüttert. Erstklassige Sprecher, Jacobi, Käthe Haak. Die Lieder ? in Jerusalem aufgenommen ? sind etwas rasch gesungen, wodurch die Verständlichkeit leidet. ? Den Text hätte ich vorher noch einmal durchsprechen sollen. In der Post wieder Fotos. 20. 2. 1980 Heute früh fünf Stunden Schule. Eine Stunde Religion («Wer nur den lieben Gott läßt walten»), zweite Stunde über Kamine, dritte Stunde über das Verkleiden von Menschen (lustig ? schrecklich). Die letzten beiden Stunden Exkursion mit der halben Klasse zur so eben saubergemachten St.-Viti-Kirche. Schöne Sonne, kalt.Das Archiv ist nun tipptopp.«Moin Vaddr läbt, Beethovens Fünfte». Tonkassette. Handschriften und Materialien der Hörspiele. Hamburg 1982. 24. 2. 1980 In der «Welt am Sonntag» ein Bild von Eberhard Fechner + Edda Seippel beim Empfang der Goldenen Kamera. Peter Alexander wird als größter Schauspieler aller Zeiten bezeichnet. Springer hat bestellen lassen, man soll nicht vergessen, daß seit Machtantritt der Kommunisten 66 Millionen Menschen (von ihnen) ermordet wurden. Also nicht 67 Millionen? Oder 65? ? Wahr ist, daß darüber viel zuwenig gesprochen wird. Ende Februar/Anfang März 1980 Reise nach England und Irland 3. 3. 1980, Manchester Gestern von Herrn Jolles acht lange Stunden an der nordirischen Küste von Felsen zu Felsen gefahren, mit Gischt und allem Zubehör. Ich dachte die ganze Zeit: O Gott, noch fünf Stunden ? Es wehte stark, aber die Sonne schien. Verfallenes Haus besichtigt, Basaltsäulen, ein winziger Hafen, Schafe mit Lämmern (die hinter ihre Mütter sprangen, und die Mütter guckten, im Kauen innehaltend, was wir da wollen). Keine Fremden, nirgends «Bungalows», dafür Straßensperren und Kontrollen. Besichtigung eines in die Luft gesprengten Hotels. Ich montierte mir einen Messinggriff ab von einer herausgeschleuderten Tür. Jolles erzählte allerhand von seiner Kindheit unter V1-Beschuß in London. Ich regte ihn an, darüber zu schreiben. Ein angenehmer Mensch, mit dem ein weiteres Gespräch lohnte. 4. 3. 1980, London Am Mittag noch schönen Spaziergang durch die Innenstadt, mit Anita Frei. Mit ihr dann bei Frau Hegewisch, der neuen «Monat»-Herausgeberin, zum «Lunch».Vielleicht sollte man versuchsweise für ein Jahr eine Fotokolumne in dieser Zeitschrift übernehmen.Habe auch an ein Buch gedacht, das ein Engländer über den Krieg, eine «Jugend in London», Luftangriffe usw., schreiben müßte (Jolles). Als Ergänzung zum «Tadellöser». Eine Art Partnerunternehmen, auch bei Knaus müßte es erscheinen in ähnlicher Aufmachung.6. 3. 1980 Liebe Renate: Die neue Bilderaktion ist herrlich angelaufen. Es kommen täglich mehrere Sendungen, meistens von Lesern, die mir helfen wollen. Sie denken: bloß schnell dem Kempowski Fotos schicken, sonst kann er keine Bücher mehr schreiben. ? Ich habe Kästen angeschafft, in denen stehen sie säuberlich auf weißen Kartonblättern und geordnet. Es sind irrsinnige Fotos dabei und traurige. Manche Leute schenken mir auch ganze Serien von Fotoalben, etwa 50 Stück habe ich schon! 8. 3. 1980 Mit der Post kam ein erstes Vorausexemplar vom «Schulmeister». Hatte Tränen, weil es ja doch der Abschied ist. 15. 3. 1980 In der Schule alles sehr friedlich. Erste Stunde, eine «grüne» Stunde. Die Kinder erzählten von ihren Eltern. Einer, daß der Vater die ganze Nacht mit dem Lkw unterwegs gewesen, ein Mädchen: daß ihr Vater in der Badewanne eingeschlafen, ein anderes Mädchen, daß ihre Mutter neulich so müde gewesen sei, daß sie beim Fernsehen das Bier in den Aschenbecher statt ins Glas gegossen habe.20. 3. 1980 Soeben den vielleicht letzten Schultag hinter mich gebracht, ohne Rührung und Trara. ? Das Fazit wird noch zu ziehen sein. 22. 3. 1980, München Bambi-Verleihung blöd und wahnsinnig zugleich. Diese enorm kitschigen goldenen Apparate wurden auf winziger Bühne ausgegeben, hinter einem Paravent standen sie in Reih und Glied. Allerlei Prominenz klatschte und pfiff dazu. Fotografen verstellten den Blick. Letztere blitzten keineswegs sämtliche Preisträger, sondern Rudi Carrell («Krawall», dachte ich immer) und eine brasilianische Sängerin. Dazu Rex Gildo, der gar keinen Preis bekam. Bei der Gruppenaufnahme stand ich neben Scholl-Latour, der mit mir einig war, daß dies alles schon ein Stück Untergang des Abendlandes sei. Und neben mir ein österreichischer Sportjournalist: «Ich schäme mich direkt.» ? Einziger Lichtblick war die Erneuerung gewisser Beziehungen und die angenehme Unterhaltung mit der Berghoff, die wirklich ein lieber Mensch ist. Hier war auch der Höllenlärm segensreich, denn Dagmar Berghoff war gezwungen, mir ins Ohr zu schreien, wodurch ich in zarteste Berührung mit ihr geriet. Um Mitternacht machten wir uns aus dem Staub. 27. 3. 1980 Zuvor ein Geständnis: Ich mag Autobahnen. Als ich die langen Lesereisen noch mit meinem alten Audi machte. Heute ist es üblich, ja geraten, auf den Straßenverkehr zu schimpfen und den Bau neuer Autobahnen zu verhindern (dort, wo sie quasi selbst in Gegenden hineinschlagen, in denen noch Vögel singen). Nachts höre ich sie, Goethes Lied an den Mond fällt mir zwar nicht ein ? «fließe ? ohne Rast und Ruh» ?, aber dieses von Arbeit kündende Geräusch hat auch etwas Beruhigendes an sich: wenn sie erst einmal totenstill daliegt ? Wenn sie einmal nicht mehr «brüllt», wenn Gras auf ihr wächst (wie Arno Schmidt uns das vorgeführt hat), dann wird es aus sein mit uns, dann wird sein Heulen und Zähneklappern. Dann wird es auch keine Gesellschaft mehr geben, die sie denkmalschützerisch erhält. Es wird ein paar Fahrräder geben und ein einsames Pferdefuhrwerk, das sich über das Frankfurter Kreuz quält: Holz hat es geladen. Wer Gegenwart erkennen will, muß sie als etwas Vergangenes sehen. So wie man Vergangenheit nur dann begreift, wenn man sie sich vergegenwärtigt. Vergleiche stellen sich ein, zur Chinesischen Mauer etwa ? nicht viel Monströses gibt es oder gab es auf der Welt, das sich mit ihr vergleichen läßt. Diese aber, wie man hört, völlig sinnlos, jene aber im höchsten Maße effektiv. Ich habe immer bedauert, daß es auf deutschen Autobahnen keinen «Einlaß» gibt, wo man fünf Mark bezahlen muß. Zunächst aus vaterländischem Eigensinn, sodann aber, weil sie dort «losginge». Denn anders als andere übermenschliche Bauwerke hat die Autobahn keinen Anfang und kein Ende. Beide sind nicht erfahrbar. Die Pyramiden von Giseh heben sich da ganz anders ab. Der fehlende Einlaß irritiert mich. 21. 4. 1980 Morgens Arbeit an den Fotos. Mit der Post kam ein Tagebuch aus dem Polenfeldzug mit Fotos. Brennende Strohhütten, ein abgestürzter Stuka. Gespräch mit Architekt über Turm. 25. 4. 1980 Unmäßige Forderung eines Fotoanbieters. Pro Foto will er 50 Mark haben, und für das Recht, es zu veröffentlichen, nochmals 100! (Er will 500 Fotos schicken.) Das geht natürlich nicht. 29. 4. 1980 Besprechung mit dem Architekten. Genauere Planung von Turm und Archivraum. Kurios ist, daß man sich mit dem Bau des Turms quasi sein eigenes Gefängnis baut. Vielleicht sollte man an eine Fluchtklappe denken. ? Ich habe angeregt, daß man ihn noch einen halben Meter höher baut. Ansonsten in der ursprünglichen Planung, aber mit Tisch. (Für die kleinen Namensscheiben aus Messing zum Annageln!) 1. 5. 1980 Liebe Renate! Damit Du mal das neue Briefpapier siehst, schreib? ich Dir darauf. Es hat mir Tausende von Fotos eingebracht, Du kannst es Dir nicht vorstellen. Jeden Tag kommen ganze Stöße. Wenn es so weitergeht, dann muß ich anbauen (der Architekt war schon da). Es sind sogar schon Hitlerbilder eingesandt worden, also originale Schnappschüsse. Auch Fotoalben, jede Menge. Ich glaub?, es sind bald 100 Stück. Seit 14 Tagen bin ich nun ohne Schule, Privatmann. 5. 5. 1980 Die «80» zu schreiben kommt einem immer noch so utopisch vor. Man hätte wieder rückwärts zählen müssen. Spätestens im Jahre 2000 sollte man es tun. Die schrecklichsten Jahreszahlen, die man dann wieder passierte, würden nicht soviel Schlimmes bringen wie die Zukunft. 7. 5. 1980 Eine Frau Peiler schickte interessante Fotos vom Arbeitsdienst und BDM. Dazu eine Biographie, sonderbarerweise auf Durchschlagpapier getippt. Die Kosten besseren Papiers hätten dem Anlaß doch entsprochen? 15. 5. 1980 Hier quellen die Fotos über, das ganze Zimmer ist schon voll. Dazu kommen noch etwa hundert vollständige Fotoalben. Ich stehe nun mit «GEO» in Verhandlung, will ihnen einen Tageskalender anbieten, auf jeder Seite eines dieser Fotos oder einen Auszug aus den sich nun schon häufenden Biographien, die sich hier ja auch ansammeln. Einen solchen Kalender müßte man dann als Periodikum herausbringen, also nicht nur auf ein Jahr. Das muß im Vertrag gleich festgemacht werden. Ich hätte dann auf Jahre hinaus zu tun. 17. 5. 1980 Ein Haufen Post, viele Fotos. Allmählich schält sich der «Kalender» heraus, habe gestern ein paar Blätter zusammengestellt. Nur ein Tageskalender interessiert mich. Auf den Blättern eines Wochenkalenders dominiert das Kalendarium. Auch würde durch das lange Aushängen die «Aussage» der Seite entwertet. Über «GEO» wird?s vielleicht was. 25. 5. 1980 Am Nachmittag, nach wundervollem Schlaf, Fotoalben sortiert und katalogisiert. Es sind nun einhundert. Die Anzahl sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Gehalt noch ziemlich dürftig ist. Eine genauere Durchsicht wird vielleicht einige Sonderheiten zutage fördern, die sich zur Verwertung anbieten. 8. 6. 1980 Zu KF neulich: Es wird Zeit, daß du hier wegkommst.Er: Ich will aber nicht weg.Bei einiger Phantasie könnte man sich vorstellen, daß er Germanistik und Geschichte studiert und eines Tages die «Fabrik» hier übernimmt, das Archiv mit allem Drum und Dran. Er wäre gerade fertig mit Studium, wenn ich die «Chronik» unter Dach und Fach gebracht habe.mehr

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Autor

Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Reeders in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und wurde gegen Ende des Krieges noch eingezogen. 1948 wurde er aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde Walter Kempowski entlassen. Er studierte in Göttingen Pädagogik und ging als Lehrer aufs Land. Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten "Deutschen Chronik", deren Erscheinen er 1971 mit dem Roman "Tadellöser & Wolff" eröffnete und 1984 mit "Herzlich Willkommen" beschloss. Kempowskis "Deutsche Chronik" ist ein in der deutschen Literatur beispielloses Unternehmen, dem der Autor das mit der "Chronik" korrespondierende zehnbändige "Echolot", für das er höchste internationale Anerkennung erntete, folgen ließ.Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein umfangreiches Werk im Knaus Verlag.