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Aber wir lieben dich

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
304 Seiten
Deutsch
Hanser, Carl GmbH + Co.erschienen am15.03.20211. Auflage
Eine Geschichte vom Rand der Gesellschaft: Afonso Reis Cabrals erschütterndes Porträt der obdachlosen trans Frau Gisberta - ausgezeichnet mit dem Premio Saramago
Ein wahrer Fall, der ein ganzes Land erschütterte. 'Wir lieben dich Gisberta' - rufen ihr die Freier und die Zuschauer der Show zu, bei der die trans Frau als Marylin Monroe posiert. Als sie später in einer Bauruine in Porto haust, kümmert das niemanden mehr. Rafa, der sie als Erster dort entdeckt, ist stolz auf sein ungewöhnliches Geheimnis. Es ist die Begegnung zweier Menschen am Rande der Gesellschaft. Doch dann wird ihm klar, dass die hübsche Frau ein 'Mann mit Brüsten' ist. Zerrissen zwischen Attraktion und Verachtung, Gruppenzwang und Geltungsdrang, gleitet Rafa in eine Spirale des Bösen. Wer ist schließlich schuldig - die Jungen, die Gesellschaft? Alfonso Reis Cabrals Roman entfaltet einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann.

Afonso Reis Cabral, 1990 in Portugal geboren, studierte Portugiesisch und Fiktionales Schreiben. Er veröffentlichte bereits im Alter von 15 Jahren seinen ersten Gedichtband. Für seinen Debütroman 'O Meu Irmão' (Mein Bruder) wurde er 2014 mit dem Prémio LeYa ausgezeichnet. Bei Hanser erschien zuletzt sein zweiter Roman Aber wir lieben dich (2021), für den er 2019 den wichtigsten portugiesischen Literaturpreis, den Prémio José Saramago, erhielt.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextEine Geschichte vom Rand der Gesellschaft: Afonso Reis Cabrals erschütterndes Porträt der obdachlosen trans Frau Gisberta - ausgezeichnet mit dem Premio Saramago
Ein wahrer Fall, der ein ganzes Land erschütterte. 'Wir lieben dich Gisberta' - rufen ihr die Freier und die Zuschauer der Show zu, bei der die trans Frau als Marylin Monroe posiert. Als sie später in einer Bauruine in Porto haust, kümmert das niemanden mehr. Rafa, der sie als Erster dort entdeckt, ist stolz auf sein ungewöhnliches Geheimnis. Es ist die Begegnung zweier Menschen am Rande der Gesellschaft. Doch dann wird ihm klar, dass die hübsche Frau ein 'Mann mit Brüsten' ist. Zerrissen zwischen Attraktion und Verachtung, Gruppenzwang und Geltungsdrang, gleitet Rafa in eine Spirale des Bösen. Wer ist schließlich schuldig - die Jungen, die Gesellschaft? Alfonso Reis Cabrals Roman entfaltet einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann.

Afonso Reis Cabral, 1990 in Portugal geboren, studierte Portugiesisch und Fiktionales Schreiben. Er veröffentlichte bereits im Alter von 15 Jahren seinen ersten Gedichtband. Für seinen Debütroman 'O Meu Irmão' (Mein Bruder) wurde er 2014 mit dem Prémio LeYa ausgezeichnet. Bei Hanser erschien zuletzt sein zweiter Roman Aber wir lieben dich (2021), für den er 2019 den wichtigsten portugiesischen Literaturpreis, den Prémio José Saramago, erhielt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783446269965
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum15.03.2021
Auflage1. Auflage
Seiten304 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.5422780
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Vorbemerkung


Rafael Tiago, kaum jünger als ich, wechselt Reifen, schraubt an Motoren und beult Autokarosserien aus. Bremsflüssigkeit, Schmieröl, Hydrauliköl haben sich ihm in die Haut seiner linken Hand eingefressen wie eine Tätowierung, eine Art Mehndi. Es scheint ihm unangenehm zu sein, denn er juckt ständig daran, als wolle er es von der Haut kratzen. Er ist es leid, Einspritzdüsen einzustellen und nur den Anweisungen seines Chefs zu folgen, zieh die Schraube hier an, mach das ordentlich, und will umschulen auf Tischler. Er sagt, Jesus sei schließlich Zimmermann gewesen und Jesus sei ihm ein Vorbild. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Jesus für ihn eine Art Winston Churchill ist.

Er wirkt älter als neunundzwanzig. Als hätte ihn die Pubertät gleich nach der Geburt voll erwischt, und danach sei es nur noch abwärts gegangen. Inwiefern das nur körperlich ist, sei dahingestellt. Ich kenne einen, der hat schon mit zwölf heimlich geraucht, um mit dem Stress klarzukommen, und suchte nach einer Haushälterin, die ihm die Wäsche macht - da war es kein Wunder, dass er auch aussah wie ein alter Mann. Rafael wirkt auch wie ein alter Mann, aber mit der Kraft eines Jungen, was angesichts all der Umstände nicht weiter verwunderlich ist.

Ich begegnete ihm an einem Tag, als Granit, Asphalt und Beton auf der Stadt lasteten, wie frisch gefallener Schnee. Nur in Porto können so viel Hässlichkeit und Beton so schön aussehen - was man nicht überbewerten sollte, denn der Zauber verfliegt sofort wieder, wenn die Sonne scheint. Immerhin scheint die Sonne nicht allzu oft.

Ich hatte eine Lesung in der Bücherei von São Lázaro und war nicht begeistert von dem Gedanken, gleich wieder durch den dichten Nebel gehen zu müssen, der zwischen Ribeira und Cais de Gaia vom Douro aufsteigt. Da stand er plötzlich mit einem Umschlag in der Hand vor mir.

Er war nicht der Erste. Es kommen immer mal E-Mails von Leuten mit Lebensgeschichten, auch welche von Leuten ganz ohne Geschichte, mit Titeln wie »Aufzeichnungen eines Spermatozoons« oder »Erst Putzfrau, jetzt Doktorin«. Ab und zu in meinem Leben als reisender Schriftsteller steht auch jemand wie dieser Rafael da mit einem Umschlag und der Bitte, man möge es lesen.

Im Betreff steht »Ein Buch« und darunter die Erklärung, »Mein Lebensweg seit der ersten Liebe bis dahin, was nun aus mir geworden ist und noch mehr, denn am soundsovielten werde ich soundso alt und denke, das wäre ein Anlass, mir meinen schon lange gehegten Wunsch zu erfüllen.« Am Ende noch etwas wie »Herzlichen Dank im Voraus«, was eher wie eine Drohung klingt und schon gar nicht mehr wie eine Bitte, ein Strick um den Hals: Für was hältst du dich eigentlich, dass du dich für mein Leid und Freud nicht interessierst?

Jedenfalls landete Rafaels Schreiben erst einmal vergessen in der Schreibtischschublade. Als ich es irgendwann wegschmeißen wollte, fiel mir über dem Absender ein schmutziger Fingerabdruck auf. Der Brief fing an mit »Manchmal ist das Leben so schön, dass ich weinen muss, und es ist mir egal, was die anderen sagen«, gefolgt von sehr vielen Leerzeilen und dann einer Liste von schönen Dingen.

Ich paraphrasiere, denn er selbst hätte es so nie geschrieben:

Das Lied, das Senhor António frühmorgens pfeift, wenn Rafael seinen Kaffee trinkt.

Júlia, die dort bedient, deren Augen er ihr aus Liebe schier ausreißen möchte. Sie sind beide noch jung und würden bestimmt gut zueinander passen.

Der Wind, der sich durch die Straßen zwängt und auf den Balkons Traumfänger in Bewegung setzt.

Geliebte, die sich streiten und dann nicht mehr streiten oder sich daraufhin küssen.

Kinder, die um Aufmerksamkeit betteln.

Das Geräusch von Autoreifen auf der Straße.

Hundebesitzer, die warme Hundescheiße mit Plastiktütchen einsammeln, die kaum ihre Hände bedecken.

Sogar wenn ein Motor, den er gerade in Ordnung gebracht hat, anspringt.

Die erste Seite endete mit »Und das ist nur das, was ich heute gesehen habe. Es macht mir Spaß, so etwas aufzuschreiben, denn was es im Leben an Schönem gibt, vergisst man zu schnell.«

Die Liste ließ mich an Eva Aurora Santos denken, eine Frau von mindestens einhundert Jahren, die einmal zu mir ins Auto stieg und mich mit Stockschlägen dazu zwingen wollte, sie zum Büro der Sozialversicherung zu fahren. »Fahr schon los, ich habe es eilig.«

Unterwegs erzählte sie mir, dass sie gern Marmeladebrot aß und wie bitter und süß die Orangen draußen auf dem Land seien. Die Finger seien dann immer so süß und klebrig. Schön, aber nur wie zur Vorbereitung dessen, was dann kommen sollte, dem Geständnis hinter der ganzen Geschichte.

Erst auf dem Rückweg erzählte sie, wie klein ihre Tochter gewesen sei, sowieso eine Frau, und wie groß der Mann. Es sei unabwendbar gewesen: Kaum in der Wohnung, hatte er sie im Bad eingeschlossen und längst gewusst, was er tun wollte. Die Tochter war stark gewesen wie eine Flamme, aber er hatte sie ausgelöscht mit einem Schnitt durch die Kehle.

Sie war kaum eingestiegen, da wusste ich schon, dass sie eine Geschichte dabei hatte. Bei Rafael hatte ich dieses Gefühl erst, als ich den öligen Fingerabdruck auf dem Umschlag sah.

Wir trafen uns in einem Café in Carvalhido, das ich eher aus Trotz besuchte, denn es stank dort regelmäßig nach Toilette. Ein solcher Ort würde ihn vielleicht weniger befangen machen, dachte ich.

Ich war mir auch sicher, dass er zu spät kommen würde, und ich könnte dann immer noch vorher weggehen. »Also Samstagnachmittag dann wegen der Werkstatt.« Weder er noch ich wussten, was sich daraus ergeben könnte. Ich hoffte, hinter der Auflistung der schönen Dinge verberge sich etwas Entsetzliches; er hoffte, ich könne beim Schreiben die Schönheit betonen, dieses Weinen aus Rührung und sich nicht darum scheren, was andere sagen.

Doch er war pünktlich. Er hatte eine Mappe dabei, aus der wahllos Papiere zum Vorschein kamen, ein Wirrwarr aus Notizen, Zeitungsausschnitten, Prozessakten und Zitaten, wild durcheinander. »Hier, das ist alles. Alles, an was ich mich erinnere, und dazu noch die Zeitungsausschnitte, die ich alle gesammelt habe.«

Wir tranken Kaffee. Er behielt die Kapuze auf, aber jedes Mal, wenn er die Tasse zum Mund führte, sah ich kurz einen billigen Ohrring aufblitzen. Wir redeten fast nichts.

Dann schenkte ich ihm mein erstes Buch, das für mich immer mehr von einem Roman zur Tauschwährung wird. Er sagte, er lese eigentlich immer nur den Sportteil, aber die Wichtigkeit von Literatur sei ihm bewusst.

In den Tagen darauf versuchte ich, den Papieren irgendeine Art von Bedeutung zu entlocken, fast so, wie wenn man sich mit einem Ehepaar unterhält, das auf den Treppenstufen zur Generalstaatsanwaltschaft Gerechtigkeit verlangt.

Mit Erstaunen bekam ich schließlich heraus, worauf Rafael hinauswollte, und dann wusste ich, dass in dem, was er mir überreicht hatte, alles drin war, wonach ich suchte: der Zusammenstoß zweier prekärer Welten, der Konflikt aller Beteiligten, und im Mittelpunkt immer er selbst, eine Auseinandersetzung mit dem Körper, die Folgen der Armut, dieses Wort, das man nicht mehr benutzen will, aber weiterhin verwendet, die Balance zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Nichts Besonderes also.

Davon ausgehend, machte ich mich an die Recherche.

Ich las die Prozessakten und konnte nicht mehr aufhören, als ginge es darin um jemand Nahestehendes. Die Beweisaufnahme, Abschnitt 10 und folgende über den »feuchten, unwirtlichen Ort, an dem sich Menschen nur selten aufhalten«; Abschnitte 23 bis 94, die Zusammenfassung der Woche des 15. bis 22. Februar; Ausdrücke wie »Zustand fortgeschrittener Erkrankung« oder intime Aussagen wie »wollte nur eine Zigarette und in Ruhe gelassen werden« beziehungsweise »auch Mahlzeiten wurden ihr vor Ort von dem Betreffenden zubereitet«.

Ich las mich durch damals schier ausufernden Presseberichte. Nach inzwischen zwölf Jahren gibt es immer noch manchmal den ein oder anderen Artikel darüber. Und Sätze wie: Für die dortige Sicherheit sorgt ein Parkplatz / Sie waren dort häufig nachts anzutreffen / ginge es nach den Anwälten, ließe sich alles endlos in die Länge ziehen / soll nun ein Gewerbepark entstehen sowie eine Klinik mit Reha-Zentrum.

Vor allem begab ich mich auf Spurensuche, ohne die ein Buch wie dieses nicht auskäme, verschaffte mir Zugang zum wichtigsten Schauplatz der Handlung, interviewte Freunde und Bekannte der Beteiligten, besorgte mir den offiziellen Wetterbericht für den betreffenden Monat,...
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