Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Der Scheiterhaufen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
500 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am06.10.20151. Auflage
Rumänien nach dem Sturz des Diktators. Emma, eine dreizehnjährige Vollwaise, wächst im Internat auf. Ihre Eltern sollen bei einem Autounfall ums Leben gekommen sein. Eines Tages erscheint eine Unbekannte, die sich als ihre Großmutter ausgibt. Widerstrebend folgt Emma ihr in eine fremde Stadt. In der Schule wird Emma nicht nur gehänselt, sondern auch bedroht, denn ihre Großmutter gilt als Spitzel und Geisteskranke. Tapfer erträgt sie die Peinigungen, zugleich aber wächst das Misstrauen gegen die alte Frau. Als sie sich über das Verbot, den Holzschuppen im Garten zu betreten, hinwegsetzt, macht sie eine verstörende Entdeckung. Die Geschichte, die nun beginnt, zieht Emma den Boden unter den Füßen weg: Stückweise kommt die Wahrheit über ihre Familie ans Licht - und über eine Gesellschaft, in der das gewaltsame Ende vieler ihrer Bürger nie verfolgt wurde. Die mutige Heldin dieses Entwicklungsromans handelt so radikal wie der Protagonist des Weißen Königs. Bei Dragomán sind es die Kinder, die mit ihrem unbestechlichen Sinn für Gerechtigkeit das Netz aus Lüge, Gemeinheit und Brutalität zerreißen. Eine knappe, einfache Sprache steht in spannungsvollem Kontrast zur doppelbödigen Realität und zur Mehrdeutigkeit des Wahrgenommenen. Das Unheimliche, Phantastische ist das Element, in dem Emma nach Klarheit sucht. »György Dragomán ist das herausragende Talent der jungen ungarischen Literatur.« György Konrád


György Dragomán, 1973 in Marosvásárhely (Târgu-Mure?) / Siebenbürgen geboren, übersiedelte 1988 mit seiner Familie nach Ungarn. 2002 erschien sein preisgekrönter erster Roman, A pusztítas könyve (Das Buch der Zerstörung). Er hat über Beckett promoviert, übersetzt aus dem Englischen und arbeitet als Webdesigner. Der weiße König (2005; dt. 2008) ist in dreißig Ländern erschienen. Dragomán lebt in Budapest.
mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,95
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR21,99

Produkt

KlappentextRumänien nach dem Sturz des Diktators. Emma, eine dreizehnjährige Vollwaise, wächst im Internat auf. Ihre Eltern sollen bei einem Autounfall ums Leben gekommen sein. Eines Tages erscheint eine Unbekannte, die sich als ihre Großmutter ausgibt. Widerstrebend folgt Emma ihr in eine fremde Stadt. In der Schule wird Emma nicht nur gehänselt, sondern auch bedroht, denn ihre Großmutter gilt als Spitzel und Geisteskranke. Tapfer erträgt sie die Peinigungen, zugleich aber wächst das Misstrauen gegen die alte Frau. Als sie sich über das Verbot, den Holzschuppen im Garten zu betreten, hinwegsetzt, macht sie eine verstörende Entdeckung. Die Geschichte, die nun beginnt, zieht Emma den Boden unter den Füßen weg: Stückweise kommt die Wahrheit über ihre Familie ans Licht - und über eine Gesellschaft, in der das gewaltsame Ende vieler ihrer Bürger nie verfolgt wurde. Die mutige Heldin dieses Entwicklungsromans handelt so radikal wie der Protagonist des Weißen Königs. Bei Dragomán sind es die Kinder, die mit ihrem unbestechlichen Sinn für Gerechtigkeit das Netz aus Lüge, Gemeinheit und Brutalität zerreißen. Eine knappe, einfache Sprache steht in spannungsvollem Kontrast zur doppelbödigen Realität und zur Mehrdeutigkeit des Wahrgenommenen. Das Unheimliche, Phantastische ist das Element, in dem Emma nach Klarheit sucht. »György Dragomán ist das herausragende Talent der jungen ungarischen Literatur.« György Konrád


György Dragomán, 1973 in Marosvásárhely (Târgu-Mure?) / Siebenbürgen geboren, übersiedelte 1988 mit seiner Familie nach Ungarn. 2002 erschien sein preisgekrönter erster Roman, A pusztítas könyve (Das Buch der Zerstörung). Er hat über Beckett promoviert, übersetzt aus dem Englischen und arbeitet als Webdesigner. Der weiße König (2005; dt. 2008) ist in dreißig Ländern erschienen. Dragomán lebt in Budapest.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518742051
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum06.10.2015
Auflage1. Auflage
Seiten500 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1823410
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


EINS

Ich warte im Flur, vor dem Direktorzimmer. Betrachte die Tafeln, die Absolventen in ihren weißen Blusen. Bei mir ist es erst in fünf Jahren so weit. Ich betrachte ihre Frisuren, die meisten tragen Zöpfe, ich beschließe, darum zu bitten, dass ich mit offenem Haar auf der Tafel sein darf. Ich ziehe das Gummi ab, mache das Haar auf und kämme es mit den Fingern. Schon ziemlich lang. Seit einiger Zeit lasse ich es wachsen.

Ich warte. Sehe zum Fenster hinaus in den Park. Auf den kahlen Pappeln der Allee hocken schwarze Vögel. Raben.

Ich betrachte die Raben und warte.

Ich frage mich, was die Direktorin wohl von mir will.

Bald bin ich ein halbes Jahr im Internat. Alle sind freundlich zu mir, die Schülerinnen, die Lehrer, die Erzieher. Sie bedauern mich wegen dem, was mit Vater und Mutter passiert ist.

Ich betrachte die Bäume, will nicht an sie denken. Ich warte.

Endlich geht die Tür auf. Die Direktorin ruft mich herein.

Ich trete ein. Vor ihrem Schreibtisch stehen zwei Lehnstühle. Sie bedeutet mir, Platz zu nehmen.

Auf dem anderen Lehnstuhl sitzt jemand. Eine alte Frau. Gebeugt sitzt sie da, ich sehe nur ihren schwarzen Pullover und ihre knochigen Schultern, in ein großes schwarzes Tuch gehüllt. Mit beiden Händen wärmt sie eine kleine Kaffeetasse, dreht und schwenkt sie hin und her. Die Untertasse liegt auf der Tasse, die knochigen Finger drücken sie an, als fürchte sie, etwas zu verschütten.

Ich setze mich. Sage guten Tag. Der lederbezogene Sitz des Lehnstuhls ist unangenehm hart.

Die alte Frau sieht auf, grüßt, nennt mich beim Namen. Ihre Augen sind von kaltem Grau, ihr Gesicht ist streng, auch ihre Stimme ist kalt.

Die Direktorin sagt, die alte Dame sei meinetwegen gekommen.

Sie sei meine Großmutter, sagt die Frau, und sie sei gekommen, um mich zu sich zu nehmen.

Ich habe keine Großmutter, sage ich. Auch keinen Großvater. Ich habe überhaupt niemanden.

Das stimmt nicht, sagt sie, sie sei sehr wohl meine Großmutter. Mamas Mutter.

Das ist nicht wahr, sage ich. Mama war Waise.

Nein, sagt sie. Meine Mutter sei keine Waise gewesen, mitnichten. Nur habe sie sich mit ihren Eltern völlig zerstritten und sei gegangen, sie habe sie nach einem heftigen Streit zurückgelassen, sie wolle sie nie mehr sehen, habe sie gesagt. Sie habe es so gewollt, und bitte, so sei es gekommen, hätte sie es bloß nicht getan. Danach hätten sie nichts mehr von ihr gehört, sie hätten nicht mal gewusst, ob sie noch lebe oder gestorben sei, nicht einmal, dass es ein Enkelkind gibt. Mein armer Großvater werde es nun auch nicht mehr erfahren. Nie hätte sie von meiner Mama gedacht, dass sie derart kaltherzig sei.

Das ist nicht wahr, sage ich. Ich bin nicht Ihr Enkelkind.

Doch, das sei wahr, sagt die Alte. So wahr sie hier sitze.

Die Direktorin sagt etwas. Sie sagt der alten Frau, sie möge lieber etwas einfühlsamer und freundlicher sein.

Die Alte fuchtelt mit der Kaffeetasse, sagt, sie solle schweigen, ihr nicht reinreden, es sei besser, all das gleich zu Beginn zu klären. Durch die Bewegung verrutscht die Untertasse, das Porzellan knirscht, die Tasse fällt aber nicht herunter, die Alte hält sie gut fest.

Die Direktorin verstummt. Die Alte sagt, sie möge so gut sein und hinausgehen, sie wolle mit mir unter vier Augen reden.

Ich möchte ihr sagen, sie soll nicht gehen, aber ich sage es nicht.

Die Direktorin erhebt sich langsam, man sieht, sie geht nur ungern, in der Tür sagt sie noch, sie sei draußen auf dem Flur.

Ich nicke.

Die Tür fällt zu. Ich sehe die Alte nicht an. Ich gucke auf meine Schuhe, die schwarz glänzenden Knöpfe auf den Spangen, unten an meinen Knöcheln.

Ich spüre, wie sie meine Hand nimmt, ihre ist warm und feucht, ich höre, wie sie schnieft. Ich hebe den Kopf und sehe Tränen in ihren Augen.

Eine Weile schaut sie nur, sagt nichts. Ich sehe, wie ihr die Tränen langsam übers Gesicht rinnen.

Sie befeuchtet ihre Lippen, die Zunge ist blassrosa. Dann spricht sie. Ihre Stimme klingt verändert. Weicher. Wärmer.

Sie sagt, ich solle ihr nicht böse sein. Sie habe nichts Schlechtes über meine Mama sagen wollen. Wie könne sie auch schlecht über sie sprechen, wo sie doch ihre Tochter war. Ihre geliebte Tochter. Die sie seit mehr als fünfzehn Jahren nicht gesehen habe. Und die sie nun nie mehr wiedersehen werde. Auch wenn sie ihr böse gewesen sei, sie habe ihr doch längst verziehen. Und sie sei sich sicher, dass meine Mama ihr auch verziehen hätte. Bestimmt. Das fühle sie in ihrem Herzen.

Sie zieht ihren Stuhl näher an mich heran, fährt mir mit der Hand übers Haar.

Sie sagt, ich sei für sie ein Geschenk des Schicksals. Jetzt, nach dem Tod meines armen Großvaters, habe sie niemanden mehr. Nur ich sei ihr geblieben. Ich solle verstehen, ich sei ihre Enkelin, wir gehörten zusammen, sie werde mich so lieben, wie sie ihre Tochter geliebt habe. Und noch viel mehr. Ich solle mitkommen. Sie bitte mich inniglich.

Ich antworte nicht.

Sie sagt, ich müsse mitkommen. Mir bleibe gar nichts anderes übrig, es sei mein Schicksal, sagt sie.

Nein, antworte ich.

Etwas wie Zorn lodert in den Augen der alten Frau auf, doch ihr Gesicht und ihr Mund lächeln. Sie sagt, sie werde es mir beweisen.

Sie nimmt meine Hand, zieht sie zur Kaffeetasse, die wir jetzt gemeinsam halten, wir beide mit beiden Händen. Das Porzellan ist warm.

Sie bittet mich, aufzupassen.

Ich spüre, wie meine Hand sich bewegt, wir drehen die Tasse um, und nun sitzt die Kaffeetasse verkehrt herum auf der Untertasse. Schwarzer Kaffeesatz sickert heraus, bildet dünne Rinnsale, formt sich zu Zacken. Ich sehe, wie die Zacken dicker werden und ineinanderlaufen.

Die Alte dreht die Tasse um und stellt sie auf die Untertasse. Sie fordert mich auf hineinzusehen.

Ich sehe hinein.

Der Kaffeesatz hat an der Innenseite der Tasse ein braunes Muster gebildet, eine Art Labyrinth im Sand.

Die Alte dreht die Tasse langsam im Kreis und fordert mich von neuem auf, hineinzusehen.

Ich sehe hinein.

Plötzlich erkenne ich in dem Muster mein Gesicht. Es hebt sich in feinen Linien ab, sieht aus wie eine frische Tuschezeichnung, ich sehe meine Augen, meine Nase, den Schwung meines Mundes, mein Kinn. Ich muss lächeln. Das bin ich.

Die Alte legt den Finger auf den Tassenrand, führt ihn im Kreis, durch die Berührung beginnt das Porzellan zu klingen, die Linien meines Gesichts zerfließen, werden breiter, es ist, als würde ich größer und älter. Ich sehe das Gesicht von Mama, ich erkenne es, das ist sie, ihr Blick, ihr liebevolles, aber trauriges Lächeln, dann wird auch sie älter, ihr Gesicht bekommt Falten, das Kinn wird spitz, schon sehe ich das Gesicht der Alten, schon ist sie es, die mich aus dem Kaffeesatz anlächelt.

Ich spüre, dass die Tasse ganz abgekühlt ist, ich lasse sie mir aus der Hand nehmen, die Alte stellt sie auf den Schreibtisch der Direktorin.

Ich blicke auf, mit Tränen in den Augen, und höre, wie die Alte zu mir spricht.

Ich möge sie Großmama nennen, sagt sie.

Großmutter sagt, am besten sollten wir so schnell wie möglich aufbrechen. Wenn wir den Nachmittagszug noch kriegen, könnten wir gegen Mitternacht zu Hause sein. Ich solle meine Sachen zusammensuchen und packen, mich von allen, die mir lieb sind, verabschieden. Gut wäre, wenn ich in einer halben Stunde fertig sei.

Sie fragt, ob ich eine Uhr habe, und noch bevor ich sagen kann, nein, aber oben im Schlafzimmer gebe es eine große Wanduhr, nimmt sie schon ihre Armbanduhr ab. Sie legt sie mir in die Hand und sagt, die habe sie immer meiner Mutter schenken wollen. Ein Familienstück.

Die Uhr fühlt sich warm an, Großmutter bittet mich, sie mir genau anzusehen.

Ich öffne die Hand. Eine rechteckige Uhr, auf dem schmalen Zifferblatt sind anstelle der Zahlen bunte, stecknadelkopfgroße Steinchen, sie glänzen wie Wassertropfen, das Steinchen an der Stelle der Eins ist fast durchsichtig, dann werden sie, eines nach dem anderen, immer dunkler, das Steinchen für die Zwölf ist beinahe schwarz.

Eine solche Uhr habe ich noch nie gesehen, der Sekundenzeiger hüpft nicht wie auf der großen Wanduhr, sondern geht, ohne zu stocken, im Kreis, dünn wie ein Härchen, dreht er widerstandslos seine Runden, ich starre auf den Zeiger, kann meinen Blick nicht lösen, er dreht sich wie der Strudel im Waschbecken, als wäre ein Haar ins Waschbecken gefallen, als würde der Strudel das Haar hinabreißen, tiefer, immer tiefer.

Ich kann meinen Blick nicht lösen, ich sehe, wie sich der Zeiger dreht, dreht und dreht, das Waschbecken ist voller Wasser, voll kaltem, kaltem Wasser, ich habe es eingelassen, um mir das Gesicht zu waschen, um nicht mehr so heftig zu weinen, die Genossin Polizeioffizier sagte, als sie mich entließ, ich solle mir das Gesicht waschen. Sie war freundlich, streichelte mir sogar den Arm, obwohl ich sie wieder schlagen wollte, sie wieder treten wollte, sie wieder beißen wollte, ich wollte, dass sie weggeht, zurückgeht, dorthin, wo sie hergekommen war, dass es wieder so ist, als wäre sie nie die Treppe hinaufgestiegen, als wäre sie nie vor unserer Tür stehen geblieben, als hätte sie nie bei uns geklingelt, als hätte sie nie unsere Wohnung betreten, als hätte sie mir nie gesagt, ich solle mich setzen, als hätte sie nie erzählt, was sie erzählt hat von meiner Mutter und meinem Vater und von dem Kohlenlaster, als hätte sie nie gesagt, dass sie es bedaure, dass sie es ehrlich und von...

mehr

Autor

György Dragomán, 1973 in Marosvásárhely (Târgu-Mures) / Siebenbürgen geboren, übersiedelte 1988 mit seiner Familie nach Ungarn. 2002 erschien sein preisgekrönter erster Roman, A pusztítas könyve (Das Buch der Zerstörung). Er hat über Beckett promoviert, übersetzt aus dem Englischen und arbeitet als Webdesigner. Der weiße König (2005; dt. 2008) ist in dreißig Ländern erschienen. Dragomán lebt in Budapest.