Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Wie wir leben wollen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
199 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am27.03.2016Originalausgabe
Eine junge Generation von Autorinnen und Autoren stellt sich die Frage, was Heimat, Fremde und Identität bedeuten. Sie blicken auf die eigenen Wurzeln - Iran, Indien, Sri Lanka, Westjordanland, Bosnien, Ost- oder Westdeutschland - und die ihrer Eltern. Sie ergründen die Ängste der aus ihren Ländern Geflüchteten und die der sorgenvollen Bürger. Sie klagen an und versuchen zu verstehen, sind wütend und mitfühlend, sind ratlos und fordern zum Umdenken auf. Wie wir leben wollen versammelt herausragende Stimmen junger deutscher Gegenwartsliteratur. In literarischen und essayistischen Originalbeiträgen zeichnen die Autorinnen und Autoren voll Sehnsucht, Wut und Engagement ein Bild unserer Gesellschaft, wie es aktueller nicht sein könnte. Mit Texten von Shida Bazyar, Kristine Bilkau, Bov Bjerg, Nora Bossong, Jan Brandt, Micul Dejun, Ulrike Draesner, Roman Ehrlich, Lucy Fricke, Mirna Funk, Heike Geißler, Lara Hampe, Franziska Hauser, Heinz Helle, Svenja Leiber, Édouard Louis/Geoffroy de Lagasnerie und Hinrich Schmidt-Henkel, Inger-Maria Mahlke, Matthias Nawrat, Markus Orths, Maruan Paschen, Philipp Rusch, Sa?a Stani?i?, Stephan Thome, Senthuran Varatharajah, Julia Weber sowie Matthias Jügler (Hg.).


Matthias Jügler, geboren 1984 in Halle/Saale, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und übersetzt Literatur aus dem Norwegischen. Jügler war Stadtschreiber in Pfaffenhofen, erhielt ein Aufenthaltsstipendium am Literarischen Colloquium Berlin für seinen Debütroman Raubfischen (Blumenbar, 2015) und ist derzeit Writer in Residence des Goethe-Instituts in der Hauptstadt Usbekistans Taschkent.
mehr

Produkt

KlappentextEine junge Generation von Autorinnen und Autoren stellt sich die Frage, was Heimat, Fremde und Identität bedeuten. Sie blicken auf die eigenen Wurzeln - Iran, Indien, Sri Lanka, Westjordanland, Bosnien, Ost- oder Westdeutschland - und die ihrer Eltern. Sie ergründen die Ängste der aus ihren Ländern Geflüchteten und die der sorgenvollen Bürger. Sie klagen an und versuchen zu verstehen, sind wütend und mitfühlend, sind ratlos und fordern zum Umdenken auf. Wie wir leben wollen versammelt herausragende Stimmen junger deutscher Gegenwartsliteratur. In literarischen und essayistischen Originalbeiträgen zeichnen die Autorinnen und Autoren voll Sehnsucht, Wut und Engagement ein Bild unserer Gesellschaft, wie es aktueller nicht sein könnte. Mit Texten von Shida Bazyar, Kristine Bilkau, Bov Bjerg, Nora Bossong, Jan Brandt, Micul Dejun, Ulrike Draesner, Roman Ehrlich, Lucy Fricke, Mirna Funk, Heike Geißler, Lara Hampe, Franziska Hauser, Heinz Helle, Svenja Leiber, Édouard Louis/Geoffroy de Lagasnerie und Hinrich Schmidt-Henkel, Inger-Maria Mahlke, Matthias Nawrat, Markus Orths, Maruan Paschen, Philipp Rusch, Sa?a Stani?i?, Stephan Thome, Senthuran Varatharajah, Julia Weber sowie Matthias Jügler (Hg.).


Matthias Jügler, geboren 1984 in Halle/Saale, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und übersetzt Literatur aus dem Norwegischen. Jügler war Stadtschreiber in Pfaffenhofen, erhielt ein Aufenthaltsstipendium am Literarischen Colloquium Berlin für seinen Debütroman Raubfischen (Blumenbar, 2015) und ist derzeit Writer in Residence des Goethe-Instituts in der Hauptstadt Usbekistans Taschkent.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518747377
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum27.03.2016
AuflageOriginalausgabe
Seiten199 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1904991
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Ulrike Draesner
Das Kind mit den nichtgrünen Augen

Wir reisen durch Polen und haben eine Schnapsidee: Woher kommt unser Name? Das hat uns noch nie interessiert, aber hier haben wir nichts zu tun. Im Archiv der Stadt WrocÅaw kennt man solche wie uns nicht, wir sind zu jung für das, was wir suchen, man sagt, »Das deutsche Register war geflutet, verschwunden, gelöscht, seit 1989 nimmt es zu wie der Mond.« Als es sich endlich finden lässt, läuft es rückwärts: Zunächst ist alles säuberlich getippt, Anfang des 20. Jahrhunderts verschwindet die Maschinenschrift, dann lösen die Tabellenlinien sich auf, und es herrscht immer dichteres Gekrakel. Nur eines bleibt gleich: Ständig kommen Namen hinzu, die gelöscht werden. Sie entstammen den Sprachen P oder D, stehen halb auf, halb unter den Zeilen - Haken dort, Zischlaut da, schräge Flügel, weibliche Augen. Über den familichen Namen erklärt all dies nichts, nur dass wir ihn jetzt familich nennen, wie er über die Jahrhunderte Namen aufsaugte, sich männlich gab und dabei sein D um das P drehte und andersherum. Wir sind nicht verlegen, wir haben studiert und erklären rasch: Unklärbar ist gut. Man muss nicht jedem auf die Nase binden, dass wir uns unter einer Namensdecke verstecken, die tiefslawischen Sümpfen entspringt und nichts anderes tut, als von Morastigkeit, Zähigkeit und augengrüner Undurchdringlichkeit zu sprechen, womit selbstverständlich unser Augengrün gemeint ist, das auch nicht jedes Kind erbt.

Grenzkontrolle Berlin-Schönefeld. Der Beamte plustert die Wangen auf, runzelt die Stirn und sagt zu meiner nichtgrünäugigen Tochter: »Wen hast du mir denn da mitgebracht?«

»Meine Mama«, sagt sie, akzentfrei. Deutsch ist ihre Muttersprache, ihr Pass ist deutsch, also ist sie es vermutlich auch. All diese Sätze denke ich nur. Bildbetrachtungen unter Staatskappen, Passbildbetrachtungen durch Menschen statt Maschinen soll man genießen, nicht stören. Der Mann empfiehlt, das Bild des Kindes erneuern zu lassen. Auf dem Foto zählt es fünf Jahre. Heute ist es neun. Unsicher greift es nach meiner Hand.

Im Wartebereich vor dem Gate trinken wir etwas. »Was hätten wir gemacht, wenn er mich nicht durchgelassen hätte?« Nein, das fragt es nicht.

Das Kind fragt: »Warum glaubt er mir nicht?«

Frankfurt 2009. Wir reisen ein. Das Kind hat einen Pass aus Sri Lanka, ein Visum für Deutschland. Dafür standen wir eine Woche Schlange in Colombo, in Ämtern jeder Art. Das Visum wurde ohne Umstände ausgestellt, es erteilte dem Kind eine Arbeitserlaubnis für drei Jahre.

Wir leben in einer Großstadt, privilegiert, reichlich gentrifiziert. Die meisten Menschen in unserem Umfeld schreiben sich Toleranz auf die Ichfahnen, auch wenn man hier vielleicht von Fahnen nicht reden will. Die Diskriminierung, auf die wir zunehmend stoßen, ist anderer Art. Sicherheitsdiskriminierung. Das nichtgrünäugige Kind könnte muslimisch sein, ein Flüchtling, illegal - geraubt oder selbst Räuberin. Ausgesprochen wird davon nichts, alles bleibt unsichtbar, hängt als Wolke über uns. Für Sicherheitsdiskriminierung gelten die Regeln der politischen Korrektheit nicht. Sicherheitsdiskriminierung ist ehrlich: Sie zeigt, was wir sehen. Und was wir denken. Dort, wo wir »es«, »das«, »das Diskriminierende«, dieses »die sind anders« nicht denken sollen und/oder von uns glauben wollen, so nicht (mehr) zu denken.

Am Flughafen dürfen Hautfarben- und Herkunftsdiskriminierung nach außen treten, während man in anderen Lebenszusammenhängen so tut, als sähe man nichts. Obwohl jeder etwas sieht und von jedem anderen weiß, dass er etwas sieht, was derjenige, der nicht grünäugig ist, am deutlichsten weiß, sieht und spürt. Einen Spiegel braucht er dafür nicht; seine Nichtgrünäugigkeit kommt ihm in der Reaktion seiner grün-, braun- oder blauäugigen Gegenüber entgegen: dort als Großfreundlichkeit, da als Maske, als Säuseln der Stimme, als die Bemühtheit des Typus »nette Tante«, als Reaktionslosigkeit. Mittelalter Mann trägt die Toleranzfahne mit Stolz und zeigt, wie polyglott er ist, sprich: fragt das nichtgrünäugige Kind, das eben beim Versteckspiel »ich komme« ruft: »Did you see my daughter´s Schnuller?«

Worauf das Kind, fünf Jahre alt, des Englischen nicht mächtig, dank des Wortes »Schnuller« souverän entgegnet: »Ick globe, der hängt dir ummen Hals.«

Man kann sich mit der deutschen Geschichte im Hinterkopf so schön verkrampfen, man kann sich so schön spalten, wir trainieren es noch immer: spalten zwischen dem, was man aussprechen darf, auszusprechen wagen kann, glaubt, auszusprechen wagen zu können. Und dem, was man sieht, oder, wie es im Englischen so trefflich heißt: what you cannot help to notice - was zu sehen man nicht verhindern kann. Augenformen, Haar- und Hautfarben, Alter, Geschlecht, Sozialstatus, X und Y. Außerdem riecht und hört man. Und bleibt in einer Toleranz hängen, die zu Verlegenheit wird, weil man nicht weiß, wie man damit umgehen soll, etwas wahrzunehmen, wovon man unversehens glaubt, es nicht wahrnehmen zu dürfen, während man weiß, dass jeder es wahrnimmt und dieses Wahrnehmen versteckt.

»Und wo kommen Sie eigentlich her?«

Diese Frage. Verfänglich. Obsolet. Und doch nicht aus den Köpfen zu löschen.

Sommerferien 2013, Lenbachhaus München, eine Aufpasserin lächelt das Kind an, halb, und stellt die Eigentlichfrage.

Das Kind antwortet. Es sagt nicht Berlin. Niemand hat ihm die Eigentlichfrage erklärt. Es versteht sie auch so.

Antwortet und weint.

Da ist die Aufpasserin erstaunt. Ich sage: »Wir kommen aus Berlin«, da wird sie wütend, ich sehe es in ihren Augen. Immer deutlicher höre ich in dem Satz »Ich habe nichts gegen Fremde« das Echo eines stummen Trotzes, eine gefühlte und mitübertragene zweite »Botschaft«: »Und für sie habe ich ebenfalls nichts.«

Die Aufpasserin hat gefragt, weil sie nicht wagt, wissen zu wollen, was sie wissen will (wie kommen diese Frau und das Kind zusammen). Eine Woche lang schaut das Kind mich jeden Abend im Bett ängstlich an und fragt, was die Bildwächterin von ihm wollte.

»Ich weiß es nicht«, sage ich und frage mich selbst, als das Kind schläft, was die Angestellte bewogen haben mag, diese Frage zu flüstern. Welches Gewicht ist ihr auf die Schultern, die Brust, die Füße gefallen, als sie das Kind sah mit seinem grünäugigen Cousin, wie sie durch die Ausstellung sprangen, miteinander sprachen, selbstverständlich auf Deutsch?

Oder wollte sie etwas »wiegen«?

Amseln zwitschern, sommerliches Dämmerlicht zeichnet Streifen auf die Wand hinter dem Bett. Wie vertraut alles ist; hier schlief ich selbst, als ich noch zur Schule ging. Die alten Bäume rascheln, die Luft füllt sich mit sattem Grün.

Was heißt es, zu Hause zu sein? Zu Hause zu sein, in Deutschland. Wenn man da ist, einfach nur da. Und/Oder wenn man davon spricht. Macht das einen Unterschied?

Und was ist das für ein Gefühl?

Als Schriftstellerin will ich daran glauben, dass wir über Sprachregelungen Gedanken verändern. Als Schriftstellerin weiß ich, als Mutter eines nichtgrünäugigen Menschen erfahre ich, dass »nicht«-Regelungen besser als nichts sein mögen, doch bei weitem nicht ausreichen. Es kommt nicht darauf an, das, was wir wahrnehmen, nicht zu sagen. Es kommt darauf an, Sprechweisen zu finden, die auf einer doppelt respektvollen Einstellung beruhen. Sie erkennt Unterschiede an, denn Respekt hat zwei Richtungen: Er weist auf das Gegenüber und ebenso auf jenen, der ihn erbringt.

Ingrouping, outgrouping, antwortet mir ein Neurowissenschaftler, der zu Menschenaffen forscht. Auch unsere Gehirne werden in beträchtlichem Maß von Wahrnehmungsmustern bestimmt, die sich willkürlicher Steuerung entziehen. So ist beispielsweise die Verarbeitung von Sehreizen in verschiedene Areale aufgeteilt; eines der Areale beschäftigt sich allein mit Bewegung. Bewegung löst Aufmerksamkeit aus - immer, unausweichlich. Der Mechanismus zählt zu den vielzähligen Spuren aus unserem Vorleben als Fluchttier. Dass wir an unserem Gegenüber Geschlecht, Größe, Gesundheitszustand, Alter (Bedrohungs- und Reproduktionspotential) und Gruppenzugehörigkeit wahrnehmen, gehört ebenfalls zu diesen Überlebensmechanismen. Wir können nicht anders (cannot help us), als diese Informationen aufzunehmen. Überlebensstrategien schaffen Kategorien wie Gleichheit und Differenz, teilen in Gruppen auf nach dem Prinzip: Wer gehört dazu, wer nicht. Auch das ist zutiefst menschenhaft: Wir brauchen Identität, und wir beziehen sie aus unserem Verhältnis zu anderen. Von Bedeutung sind alle, die da sind, viele, die fehlen (wie Ahnenkulte zeigen) und jene, die wir uns »nur« vorstellen (wovon Geisterglauben und Religionen künden). Ingrouping bedeutet Zugehörigkeit, Geborgenheit, Schutz. Ohne Wesen, die uns glichen, wären wir verloren, auch heute noch.

Flughafen München, Februar 2014. Die Passagiere in der Warteschlange hinter uns schauen neugierig. Die Schlange wächst.

Das Kind zittert, ich drücke seine Hand.

Wir werden, stumpf und grob, rassendiskriminiert. Alle beide. Der auf Freundlichkeit getrimmte Angestellte hinter dem Schalter zuckt die Schultern: »Stimmt.«

Ich fahre mit dem Zug von München in die Schweiz. Grenzbeamte streifen durch die Waggons. Eine einzige Person wird kontrolliert. Wir raten nicht, ob sie nichtgrünäugig ist. Ich übersetze, der Mann, der die Schweiz besuchen will, spricht Englisch. Sehr viel besser als die Grenzkontrolleure. Alle Papiere...
mehr

Autor

Matthias Jügler, geboren 1984 in Halle/Saale, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und übersetzt Literatur aus dem Norwegischen. Jügler war Stadtschreiber in Pfaffenhofen, erhielt ein Aufenthaltsstipendium am Literarischen Colloquium Berlin für seinen Debütroman Raubfischen (Blumenbar, 2015) und ist derzeit Writer in Residence des Goethe-Instituts in der Hauptstadt Usbekistans Taschkent.