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Zionismus und Schoah - Jüdisches Denken

Theologie - Philosophie - Mystik
BuchGebunden
660 Seiten
Deutsch
Campus Verlagerschienen am02.07.20212. Aufl.
Der Zionismus und die Schoah sind epochale Wendepunkte sowohl in der jüdischen Geschichte als auch im jüdischen Denken. Der Zionismus brach mit dem "Exil-Judentum", gab die alten typologischen Geschichtsvorstellungen auf und schob das rabbinisch-messianische Erlösungskonzept beiseite. Der Genozid an den europäischen Juden führte zu einer weitgreifenden Debatte über die Schlussfolgerungen, die aus dieser Katastrophe zu ziehen seien, und löste Fragen der Politik, der Theologie, der Philosophie, der jüdischen Identität und der Zukunftsgestaltung des jüdischen Volkes aus. Auch wenn beide Ereignisse nicht ursächlich miteinander verbunden sind, wurden sie zunehmend im Denken zusammen gesehen: die Staatsgründung Israels (1948) als letzter psychologischer, religiöser und physischer Rettungsanker für die Weiterexistenz des Judentums nach der Schoah. Dieser Neujustierung des Judentums durch Schoah und zionistischer Staatsgründung ist Band 4 gewidmet.mehr
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Produkt

KlappentextDer Zionismus und die Schoah sind epochale Wendepunkte sowohl in der jüdischen Geschichte als auch im jüdischen Denken. Der Zionismus brach mit dem "Exil-Judentum", gab die alten typologischen Geschichtsvorstellungen auf und schob das rabbinisch-messianische Erlösungskonzept beiseite. Der Genozid an den europäischen Juden führte zu einer weitgreifenden Debatte über die Schlussfolgerungen, die aus dieser Katastrophe zu ziehen seien, und löste Fragen der Politik, der Theologie, der Philosophie, der jüdischen Identität und der Zukunftsgestaltung des jüdischen Volkes aus. Auch wenn beide Ereignisse nicht ursächlich miteinander verbunden sind, wurden sie zunehmend im Denken zusammen gesehen: die Staatsgründung Israels (1948) als letzter psychologischer, religiöser und physischer Rettungsanker für die Weiterexistenz des Judentums nach der Schoah. Dieser Neujustierung des Judentums durch Schoah und zionistischer Staatsgründung ist Band 4 gewidmet.
Details
ISBN/GTIN978-3-593-39141-0
ProduktartBuch
EinbandartGebunden
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum02.07.2021
Auflage2. Aufl.
Seiten660 Seiten
SpracheDeutsch
Gewicht1147 g
Artikel-Nr.34586353

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
Inhalt

Vorwort 17

Einführung 19

1. Zionismus und Schoah - Wendepunkte der jüdischen Geschichte und des jüdischen Denkens 19

2. Nationales und zionistisches Denken 22

2.1 Vorbemerkung 22

2.2 Die Ursachen des neuen Denkens 23

2.3 Definitionen von Nation 27

2.4 Die unterschiedlichen zionistischen Richtungen 28

2.4.1 Der politische Zionismus 29

2.4.2 Der Kulturzionismus 30

2.4.3 Zionismus als Selbstfindung in Natur und Arbeit 30

2.4.4 Der religiöse Zionismus 31

2.4.5 Zionismus-Kritik und "Postzionisten" 32

2.4.6 Zionismus nach der Gründung des Staates Israel 33

2.4.7 Weitere Autoren aller Richtungen 34

3. Jüdisches Denken zur Schoah 35

3.1 Die Verwendung des Begriffs "Holocaust" - eine notwendige Vorbemerkung und das Beispiel der Treblinka-?Akeda 35

3.2 Der Beginn der theologischen und philosophischen
Reflexion zur Schoah 41

3.2.1 Theodizee und Anti-Theodizee 41

3.2.2 Ignaz Maybaum (1897-1976) 42

3.2.3 Menachem Immanuel Hartom (1916-1992) 44

3.2.4 Jizchak Hutner (1906-1980) 45

3.2.5 Arthur A. Cohen (1928-1986) 47

4. Neues Denken nach der Schoah 47

4.1 Das Ringen um Judentum und Religion ohne Theodizee 47

4.2 Eine satirisch sarkastische Zurückweisung theologischer Deutungen des Holocaust - Adi Ofir (geb. 1951) 50

5. "Das Exil wird länger, des Vergessens wegen,
aber im Erinnern liegt das Geheimnis der Erlösung" 52

5.1 Die Bedeutung von Erinnern - Vorbemerkung 52

5.2 Primo Levis Bemerkungen zum Erinnern im Kontext
der jüdischen Tradition 53

5.3 Erinnern in der jüdischen Religionsgeschichte - bis zur
Formel vom Vergessen und Erinnern als den Insignien
von Exil und Erlösung 58

Teil I - Der Zionismus

I. Der sozialdemokratisch-genetisch-dynamische Ansatz

Moses Moritz (Maurice) Hess (1812-1875)

Eingeschlossen die Praktischen Forderungen
zur Palästinaarbeit von Zwi Hirsch Kalischer (1795-1874) 65

1. Biographisches 65

2. Hess-Deutungen 69

3. Rom und Jerusalem die letzte Nationalitätsfrage 73

3.1 Das Neue und der unmittelbarer Anlass 73

3.2 Gründe von Hess für die neuerliche nationale Wende 75

3.3 Das Judentum als Volk und Nation 76

3.4 Argumente für das Verständnis des Judentums als Nation 78
3.4.1 Das traditionell religiöse Bewusstsein - die Gebete
und das Hebräische 78

3.4.2 Die verfehlte Emanzipation 80

3.4.3 Die genetischen Bedingungen 82

4. Was ist eine Nation? - Definitionen 82

5. Die genetische Weltanschauung oder die Dynamische
Stofflehre - Basis des "rassischen" Verständnisses
von Nation 85

5.1 Ontologischer Monismus und das Ende des Idealismus 85

5.2 Die dynamische Stofflehre 88

5.2.1 Die Existenzbereiche und deren Lebensrhythmen 91

5.2.2 Ziele des organischen und sozialen Lebens -
Rasse und soziale Demokratie 92

6. Die Lehren von Volk, Rasse, Nation, Gott und Kosmos
in Rom und Jerusalem 95

6.1 Die Menschheit und ihre genetischen Rassen 95

6.2 Die Rhythmen der kosmischen und weltgeschichtlichen
Entwicklung 99

6.3 Religion und Nation 101

6.4 Gott in Kosmos und Geschichte 106

7. Das nationale zionistische Programm -
Hess - Laharanne - Kalischer 112

II. Der sozialpsychologisch-territorialistische Ansatz

Leon (Judah Lejb) Pinsker (1821-1891) 118

1. Biographisches 118

2. Der neue Denkansatz von Pinsker 119

3. Die Diagnose - Normalität und Anomalie 121

3.1 Die jüdische Seite des Problems 121

3.2 Die nichtjüdische Seite des Problems 124

4. Die nötigen Lösungen - ein jüdisches Territorium 129

5. Die praktischen Folgerungen 132

III. Der soziologisch-staatsrechtliche Ansatz

Theodor Binjamin Se'ev Herzl (1860-1904) 135

1. Biographisches 135

2. Der Judenstaat 137

3. Judennot und Judenfrage 139

4. Die wirtschaftlichen und politischen Schritte
zur Lösung 141

4.1 Die politischen Schritte - die Society of Jews 141

4.2 Die Theorie vom Rechtsgrund des Staates 142
4.2.1 Volk oder Land als Staat
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Leseprobe
EINFÜHRUNG

1. Zionismus und Schoah - Wendepunkte der jüdischen Geschichte und des jüdischen Denkens

Der Zionismus und die Schoah sind jedes für sich und beide zusammen nicht nur epochale Wendepunkte in der jüdischen Geschichte, sondern ebenso im jüdischen Denken. Der Zionismus hat mit dem Denken des "Exil-Judentums" gebrochen, hat die alten typologischen Geschichtsvorstellungen aufgegeben, das rabbinische messianische Erlösungskonzept beiseitegeschoben und ist in die politische Geschichte zurückgekehrt. Das gottergebene Warten auf die Rückführung des Volkes Israel in das verheißene Land, das Bewusstsein, in einem alte Sünden sühnenden Exil dulden zu müssen, all dies sollte nun nicht mehr gelten. Neue Formen der Selbsteinschätzung und Identitätsbestimmung sowie daraus abgeleitete Handlungsmaximen stellten in vielen Bereichen einen vollkommenen Bruch mit der rabbinischen Vergangenheit dar, wie sie seit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 der bürgerlichen Zeitrechnung gegolten hatten. Hier wird ein neues Judentum gebaut, welches das zweitausendjährige "Exil-Judentum" ablösen wollte und sollte - dies gilt in gewisser Weise nicht nur für die säkularen, sondern auch für die religiösen Formen des modernen Zionismus.
Ganz anders aber genauso grundlegend hat die Schoah das jüdische Denken in neue Bahnen gelenkt. Natürlich gab und gibt es bis heute orthodoxe Denkweisen, welche die Schoah nur als ein weiteres Glied der jahrtausendealten Verfolgungs- und Exils-Geschichte Israels sehen wollen und nach deren Ansicht hier kein qualitativ neues Geschehen stattgefunden hatte. Aber eine Vielzahl - gerade der fortschrittlichen, aber auch orthodoxer Denker, sieht mit der Schoah einen qualitativen Bruch, ein Geschehen, das sich von den bisherigen Verfolgungen der Juden nicht nur dem quantitativen Ausmaß nach unterscheidet. Solche Denker sehen deswegen auch die Notwendigkeit, das jüdische Selbstverständnis als Individuum wie als Nation neu zu überdenken, zu überlegen, wie jüdisches Leben nach diesem grundstürzenden Ereignis neu zu rechtfertigen, zu bauen, zu planen und zu stärken sei. Der Genozid, der ein Drittel der jüdischen Weltbevölkerung auslösche und bis zu 80 Prozent der religiös-rabbinischen Elite, musste eine kritische Neubewertung für Politik, Theologie, Philosophie, jüdische Identität und die nötige Zukunftsgestaltung der Verfasstheit des jüdischen Volkes auslösen. Es galt die grundlegende Frage zu stellen, ob das Judentum nach diesem furchtbaren Morden noch eine Zukunft als eigene religiöse oder kulturelle Entität haben kann, und wenn ja, wie diese zu sichern sei.
Diese beiden das Denken grundsätzlich herausfordernden so unterschiedlichen Ereignisse, das eine positiv, das andere negativ, wurden von vielen der hier vorgestellten Denker im Nachhinein als eine dialektische Einheit begriffen, sei es, dass die Schoah das Anliegen des Zionismus rechtfertigt, sei es in dem Sinne, dass der Zionismus - vor allem dessen Krönung in der Staatsgründung Israels - nach der Schoah der einzig verbliebene Rettungs- und Hoffnungsanker der Überlebenden Individuen und des Volkes Israel als Ganzem sei - dies durchaus auch mit religiösen und heilsgeschichtlichen Übertönen.
Die Gründung eines jüdischen Staates nach 2000 Jahren Exil hat insbesondere nach dem bloßes Entsetzen und Starre auslösenden Genozid am europäischen Judentum nicht nur für die in diesen Staat Israel geflohenen oder eingewanderten Juden eine Neujustierung des jüdischen Selbstverständnisses erfordert, sondern für die gesamte Diaspora, die jetzt nicht mehr Exil genannt zu werden braucht.
Das gesamte jüdische Denken im zwanzigsten Jahrhundert muss daher in ein Denken vor Schoah und Staatsgründung und ein solches danach unterschieden werden. Diese beiden Ereignisse sind wie eine Wasserscheide, wie ein tiefer Graben, selbst wenn manche orthodoxen Kreise dies nicht so sehen mögen. Aber immerhin haben die Ereignisse der Schoah auch bei vielen orthodoxen Antizionisten ein Umdenken bewirkt, so dass es nur ganz kleine ?asidische Gruppen oder die sogenannten Neture Karta (Hüter der Stadt) sind, deren Antizionismus sich bis heute als eine aktive Gegnerschaft gegen den neugegründeten jüdischen Staat ausdrückt. Aber gerade auch diese Haltung hat durch die beiden Ereignisse eine neue Bedeutung bekommen, die oft tragische Züge annimmt.
Nachdem im Jahre 1948 das zionistische Ziel der Staatsgründung erreicht worden war, erhob sich natürlich die Frage, ob sich der Zionismus als politisch-ideologische Bewegung erübrigt hat und seine Weiterführung bis in die Gegenwart noch gerechtfertigt sei, oder ob es noch ausstehende Vorhaben zu erarbeiten gebe. Die Antwort auf diese Frage ist je nach ideologischer Ausrichtung oder Parteizugehörigkeit der Disputanten umstritten.
Schoah und Staatsgründung sind Ereignisse, die chronologisch im Wesentlichen zu all jenen Autoren und Denkern gehören, die im 20. und 21. Jahrhundert sich Gehör verschafften und die zunächst allesamt im vierten Band des Jüdischen Denkens behandelt werden sollten, nun aber auf zwei Bände aufgeteilt wurden. Es stellte sich für die Aufteilung des Stoffes die Frage, inwieweit es berechtigt ist, das Denken zu Zionismus und Schoah aus seinem chronologischen Kontext herauszunehmen und ihm einen eigenen, gar gemeinsamen Band des Jüdischen Denkens zu widmen. Die Antwort auf diese Frage ist aus der Sicht der meisten in diesem Band vertretenen Denker, die sich der Schoah gewidmet haben, eine uneingeschränkte Befürwortung einer solchen gemeinsamen Heraushebung von Zionismus, Staatsgründung und Schoah aus dem übrigen philosophischen und theologischen Diskurs. Aber auch für den im Nachhinein prüfenden Historiker des jüdischen Denkens ergibt sich diese Berechtigung, weil aus der Distanz betrachtet beide Ereignisse - so unterschiedlich, ja gegensätzlich sie tatsächlich waren - in einer Weise verbunden sind, die Zionismus und Schoah zusammengenommen als großen dialektischen Umbruch im jüdischen Denken erscheinen lassen, der bis hinein in die Erkenntnislehre reicht. In dieser Beurteilung selbst sind allerdings bereits epistemische Voraussetzungen involviert.
Die unterschiedlichen Beurteilungen von Zionismus und Schoah sind in nichts weniger als in grundlegenden Differenzen der Weltsicht und der conditio judaica begründet. All jene Autoren, die noch dem traditionellen rabbinischen Denk-Paradigma verhaftet blieben, haben den Zionismus und die Schoah in ihr überkommenes Geschichtsdenken eingefügt, in dem beide Ereignisse tatsächlich keinerlei Recht beanspruchen können, als Wendepunkt zu einer neuen Ära betrachtet zu werden. Für das traditionelle rabbinisch geprägte Denken war der Zionismus eine zu verwerfende Abweichung von der überkommenen jüdischen Tradition, nach welcher das Volk Israel von seinem Gott ins Exil verstreut wurde, wo es so lange bleiben sollte, bis der von Gott erwählte Messias das Exilsdasein der Juden beendet und sie wieder in die Geschichte, oder besser an deren Ende, hinüberführt. Auch die etwas moderneren rabbinischen Konzeptionen, wie sie in Band drei des Jüdischen Denkens vorgestellt wurden, sahen die Rolle der Juden weiterhin in theologischen und heilsgeschichtlichen Kategorien, wenn sie diesen in der Zerstreuung eine Weltmission zuschrieben, welche zur Herbeiführung eines universalen messianischen Reiches als der Quelle einer umfassenden Weltgerechtigkeit führen würde. Die Schoah hingegen ist für dieses überkommene Denken nur ein weiteres Glied in der langen und schmerzlichen Verfolgungsgeschichte der Juden, demnach auch nichts Neues und kein Umbruch in der Geschichte. Dies betrifft auch die mögliche Suche nach Antworten auf die brennende Frage nach den Ursachen des Leidens, die dann meist in der menschlichen Sünde gesucht werden.
Wollte man hingegen in Zionismus, Staatsgründung und Schoah eine grundsätzliche Wende im jüdischen Selbstbewusstsein sehen, erforderte dies neue Denkkategorien aus den unterschiedlichsten Wissenschaften, der modernen Historiographie, der Philosophie, der Soziologie, der Anthropologie, aber auch der Theologie, welche das Geschehen in Zionismus und Schoah in einem völlig anderen Licht erscheinen ließen als es sich für das überkommene Denken darstellte. Und es ist ausschließlich dieses neue Licht, diese neuen Zugangsweisen im Verstehen des menschlichen Daseins, die eine neue Bewertung von Zionismus und Schoah ermöglichten, ja den Zionismus überhaupt erst entstehen ließen. Und gemessen mit diesen neuen Maßstäben, nach denen im Nachhinein auch die ältere Vorgeschichte neu vermessen wird, erscheinen Zionismus und Schoah je für sich als Umbrüche im jüdischen Dasein, in der jüdischen Geschichte und im jüdischen Denken. Jedes dieser beiden Ereignisse für sich genommen lässt im Licht des neuen Denkens schon einen solchen Umbruch erkennen, um wieviel mehr, wenn man sie beide zusammen betrachtet. Wiewohl beide Ereignisse schon chronologisch eine gewisse Verflechtung besaßen, wurden sie in den nachherigen reflektierenden Bewertungen der conditio judaica durch die jüdischen Denker zu einer dialektischen Einheit verbunden, so dass sie beide zusammengenommen als die große und umfassende Wende im jüdischen Dasein und Bewusstsein erscheinen mussten. Um es auf einen ersten Begriff zu bringen, der von den Autoren beider Themen gebraucht wurde: Das Judentum ist durch Zionismus und Schoah wieder in die Geschichte zurückgekehrt, sei es als wollendes Vorausdenken oder als resümierendes Nach-Denken. Das Dasein des Judentums als Exilsdasein ist und musste mit den beiden Ereignissen als zuende gekommen betrachtet werden.

2. Nationales und zionistisches Denken

2.1 Vorbemerkung

Der Zionismus, oder das nationale jüdische Denken, setzte schon tief im 19. Jahrhundert ein, erfuhr mit der von Theodor Herzl beim ersten Zionistenkongress in Basel vom 29.-31. August 1897 gegründeten zionistischen Weltorganisation seinen ersten Höhepunkt, der dann durch die Gründung des ersten jüdischen Staates nach fast 2000 Jahren vom 14. auf den 15. Mai 1948 (5. Ijjar 5708) gekrönt wurde.
Das nationale jüdische Denken ist im Kontext des europäischen Völkerfrühlings des 19. Jahrhunderts aufgebrochen und hatte seit dieser Zeit, bis in das beginnende 20. Jahrhundert hinein den Charakter des Utopischen, eines Denkens, das mit den bisherigen Denktraditionen brechen wollte, um im Rahmen der Geschichte Neues, bisher nicht Denkbares zu konzipieren und um daraus zur Tat, zur politischen Veränderung aufzurufen - konkret zur Rückkehr der Juden in das in ihrem Bewusstsein und in der religiösen Tradition stets als Hoffnungsziel bewahrte Heilige Land, das Land der Väter Israels. Haupttriebfeder dieser Phase des erwachenden nationalen politischen Denkens im Judentum war zum einen die beklagenswerte, ja katastrophale Lebenssituation der Juden in den europäischen Ländern und darüber hinaus, und zum andern der Versuch, die jüdische Exilssituation nicht nur als liturgisch-theologisches Bewusstsein zu zelebrieren, sondern als politisch-soziale Realität. Letzteres sollte dazu führen, die Lage der Juden als Politikum darzustellen, ein Politikum das in die Handlungsvollmacht der lebenden und agierenden Juden und Staaten gehört, also nicht als ein gottgewolltes Schicksal hinzunehmen sei. Das Volk Israel sollte, wie dies Moses Hess einmal formulierte, wieder auf das Gleis der Geschichte gestellt werden. Es war der Aufruf, aus der Fremdbestimmung unter den nichtjüdischen Völkern zur Selbstbestimmung im eigenen Land zurückzukehren.

2.2 Die Ursachen des neuen Denkens

Das Denken verändert die Menschen, es verändert die Welt und auch den Lauf der Geschichte. Auf keine Epoche der jüdischen Geschichte trifft diese Beobachtung mehr zu als auf die Entdeckung der "Nation" als sozialer und vor allem politischer Kategorie. Diente das ältere, vorzionistische, jüdische Denken meist der Deutung der conditio judaica, welches die vorfindliche Situation der Juden zu verstehen und ihr Sinn zu geben versuchte, wodurch es natürlich auch stabilisierenden Einfluss auf das Leben des Einzelnen und größerer oder kleinerer Kreise der Gemeinschaft genommen hatte, so hat das neue "nationale Denken" eine Sprengkraft entfaltet, die den Lauf der jüdischen Geschichte als Ganzes verändert, ja umgekrempelt hat. Das nationale Denken führte das jüdische Selbstverständnis und das darauf bezogene Denken aus einem bald zweitausendjährigen modus interpretandi des status quo zu einer Neubetrachtung der jüdischen Lage, die sich nicht länger nur mit der Deutung der jüdischen Geschichte und des gegebenen jüdischen Daseins begnügte, sondern dazu aufrief, diese Geschichte und dieses Dasein mit eigenen Kräften, wider die inneren und äußeren Ideologien, zu verändern und auf eine neue Grundlage zu stellen.
Der philosophisch und literarisch prononcierteste Autor des neuen Denkens, Achad Haam, alias Ascher Ginzberg, hat dies in seinem epochemachenden ersten zionistischen Aufsatz "Nicht dies ist der Weg!" von 1892 so formuliert:

"Nach vielen Jahrhunderten der Armut und Niedrigkeit von außen und des blinden Glaubens und der Hoffnung auf die Gnade des Himmels von innen trat in unserem Zeitalter ein neuer, folgenschwerer Gedanke in Erscheinung: den Glauben und die Hoffnung vom Himmel herunterzuholen und sie in lebendige, reale Kräfte umzusetzen; auf die Erde die Hoffnung und auf das Volk den Glauben zu gründen ...".

Das alte Tabu, dass eine Änderung des jüdischen Schicksals alleine vom Himmel und mittels des Messias zu erhoffen sei, wurde nun aufgegeben. Man sah jetzt die Chancen und Möglichkeiten, selbst in das Schicksal des jüdischen Volkes einzugreifen und zum Besseren zu wenden.
Die grundlegende Veränderung im jüdischen Denken war demnach, dass die tatsächliche Realität des jüdischen Lebens in der Zerstreuung des Exils nun selbst Gegenstand der Betrachtung wurden und nicht mehr den Ausgangspunkt für theologische oder metaphysische Deutungen des Grundes oder der Ursachen des Exils bildeten - die bedrückende conditio judaica also weder als göttliche Strafe für eine Schuld, noch als Auswirkung metaphysischer Ereignisse verstanden wurde. Man wollte Schluss damit machen, mit Hilfe der Theologie die jüdische Situation als einen Preis für die "Auserwählung" zu betrachten, oder mittels einer Heilsgeschichte beziehungsweise der Hegelschen Geschichtsphilosophie die Juden als Träger einer bestimmten Mission in der Völkerwelt zu sehen, oder gar als Besitzer einer besonderen höheren Erkenntnis. Demgegenüber wurde von den neuen zionistischen Denkern die jüdische Lebenssituation jetzt als solche in ihrer Realität betrachtet und aus dieser Realität zu erklären versucht. Ein wichtiges Instrument dafür war die neu entstandene wissenschaftliche Soziologie, derer sich alle nationalen Denker bewusst oder unbewusst bedienten, allen voran Achad Haam. Diese soziologische Wende hat schon der Jerusalemer Philosoph Nathan Rotenstreich in seiner 1945 erschienenen Darstellung des modernen jüdischen Denkens herausgehoben, indem er dieses moderne Denken von den älteren theologischen Erklärungen des jüdischen Exils abhob:

"die typische erste Besonderheit des Nachdenkens über das Exil ist [nun] die Beschränkung [der Erklärungen] auf die Soziologie. Das moderne nationale Denken beschränkt sich darauf, das Wesen des Exils von seiner nationalen Seite her aufzudecken, auf das, worin es die Lebensrealität der Gesellschaft als Gesellschaft erkennt. [...] es stellt nicht die Frage nach dem woher des Exils, sondern nimmt es als Realität, als die Wirklichkeit des Volkes, in der es sich tatsächlich befindet. Das moderne nationale Denken versucht, diese Wirklichkeit von ihren Wurzeln her zu verstehen, mit dem Ziel, eine Grundlage für veränderndes und verbesserndes gesellschaftliches Handeln zu gewinnen. Das Exil ist demnach so zu beschreiben: Das Exil ist die Entfernung des Volkes von seinem Heimatland, ist die Zerstreuung des Volkes in der weiten Diaspora, ist die Fremdheit des Volkes in seiner gegenwärtigen Umgebung und dessen Verknechtung unter diese. All diese Grundsätze der Definition des Exils sind Elemente aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die keinerlei Bedeutung jenseits von ihnen haben."

Trotz dieser diametral umgewendeten Neuausrichtung des jüdischen Denkens darf man allerdings nicht den Fehler begehen, zu behaupten, dass hier eine neue soziologische Realität, ein neues Volk, oder eine neue Nation geschaffen, oder gar erfunden worden sei, wie dies unter anderen das unsägliche Buch des israelischen Historikers Shlomo Sand mit seinem reißerischen Titel Die Erfindung des jüdischen Volkes behauptet. Nicht das jüdische Volk ist hier erfunden worden, sondern eine innovative Weise, über die seit Jahrtausenden bestehende Volksgruppe nachzudenken. Diese neue Denkweise, die wie viele neue Denkansätze in allen Bereichen der Kultur und Wissenschaft neue Lösungen für alte Probleme sichtbar machte, die den bisherigen Denkweisen nicht gelungen waren, war also das Novum, nicht das jüdische Volk als solches. Wie schon unzählige Male in der langen Geschichte dieses Volkes - jeder Leser dieser Darstellung des Jüdischen Denkens wird das wahrgenommen haben -, vermochten eine ganze Anzahl von jüdischen Denkern des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, ihr eigenes Philosophieren von den neuesten Debatten der Zeit befruchten zu lassen und so das eigene Schicksal, die Lage ihres Judentums neu und präziser zu verstehen und daraus ihre Schlüsse zu ziehen. Sie haben nicht, ich betone dies ein weiteres Mal, das jüdische Volk neu erfunden, sondern sie haben das vorhandene Volk mit neuen Denkkategorien gesehen und beschrieben. Durch die Definition des Volkes als Nation, Le'om, (auch wenn sie dazu gelegentlich den hebräischen Begriff 'Am, "Volk", als Synonym für "Nation" weiter verwendeten), konnten sie die in ihrer Zeit in Europa mit Hilfe dieser nationalen Denkkategorie gewonnenen Einsichten auch auf das Judentum beziehen und die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen wie auch die daraus abzuleitenden politischen Forderungen erheben.

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Kritik
»Mit Band 5 von 'Jüdisches Denken' hat Karl Erich Grözinger ein Werk abgeschlossen, das nicht nur Bewunderung verdient, sondern auch auf Jahrzehnte hinaus das unüberholbare Standardwerk für alle, die sich mit jüdischen Studien befassen, bleiben wird.« Micha Brumlik, Das Historisch-Politische Buch, Jahrgang 68, Heft 1»[Karl Erich Grözinger ] hat der deutschen Judaistik ein stolzes Monument errichtet. [...] Er hat in einem gewaltigen Kraftakt bewiesen, dass sich kritische Werkanalyse und synthetische Gesamtschau, philologische Genauigkeit und philosophische, theologische und politische Relevanz keineswegs ausschließen müssen.« Daniel Krochmalnik, Jüdische Rundschau, März 2020»Grözingers Buch ist ein erschöpfender Gang durch die Geschichte des jüdischen Denkens, der die Verästelungen des Zionismus darlegt und klar und deutlich zeigt, wie er sich entwickelt hat und immer noch weiter entwickelt.« Miriam Magall, Jüdisches Leben in Bayern, 18.04.2016»Es gibt keine vergleichbare Gesamtdarstellung weltweit: nicht was den bloßen Umfang betrifft, aber auch nicht, was die geistige Flexibilität angeht, die jeden der fünf Bände als eigenständige Lektüre lohnenswert macht - um das Mindeste zu sagen.« Thomas Meyer, Foreign Entanglements: Transnational American Jewish Studies, Journal of the Association for Jewish Studies in Germany, No. 27, 2021Übers Gesamtwerk; Bände 1-5»[Karl Erich] Grözinger ist ein Werk ganz eigener Gattung gelungen, das über ein übliches Handbuch weit hinausreicht und auch seine eigenen Maßstäbe setzt.« Carsten Wilke, Aschkenas 2022; 32(1): 189-196mehr

Schlagworte

Autor

Karl Erich Grözinger ist Professor emeritus für Religionswissenschaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam und war Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin- Brandenburg. Die drei schon vorliegenden Bände »Jüdisches Denken« gelten als Standardwerke.