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Schwarz-Weiß als Evidenz

'With black and white you can keep more of a distance'
BuchKartoniert, Paperback
296 Seiten
Deutsch
Campus Verlagerschienen am11.06.2015
Schwarz-Weiß-Fotografien können den Betrachter wie ein Blitz treffen, fand Roland Barthes, während ihn die »Schminke« der Farbfotos kalt ließ. Schwarz-Weiß hält sich nach wie vor hartnäckig in der Fotografie, in Film und Grafik - ihm wird Authentizität zugeschrieben.Sind der ästhetische Reiz und die Strahlkraft der Evidenz, die von Schwarz-Weiß ausgehen, ein Merkmal der Wahrnehmungswelt des 20. Jahrhunderts? Und ein Grund, warum uns die farblich unendlich variablen Erscheinungen des Lebensraums trügerisch vorkommen? In diesem Band untersuchen bekannte Kunst- und Medienwissenschaftler die Farben der frühen Fotografie, das Ordnungsschema des Schachbretts, Architekturfotografien des Bauhauses, Hell-Dunkel in Grafik und Malerei, die Farbphobie von Kunsthistorikern, die Nachkolorierung von Dokumentarfilmen und den Reiz des Asphalts.

Mit Beiträgen von Hartmut Böhme, Petra Bopp, Werner Busch, Michael Diers, Peter Geimer, Bettina Gockel, Romy Golan, Andreas Haus, Helmut Lethen, Kathrin Rottmann, Ernst Strouhal, Monika Wagner und Helen Westgeest.
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Produkt

KlappentextSchwarz-Weiß-Fotografien können den Betrachter wie ein Blitz treffen, fand Roland Barthes, während ihn die »Schminke« der Farbfotos kalt ließ. Schwarz-Weiß hält sich nach wie vor hartnäckig in der Fotografie, in Film und Grafik - ihm wird Authentizität zugeschrieben.Sind der ästhetische Reiz und die Strahlkraft der Evidenz, die von Schwarz-Weiß ausgehen, ein Merkmal der Wahrnehmungswelt des 20. Jahrhunderts? Und ein Grund, warum uns die farblich unendlich variablen Erscheinungen des Lebensraums trügerisch vorkommen? In diesem Band untersuchen bekannte Kunst- und Medienwissenschaftler die Farben der frühen Fotografie, das Ordnungsschema des Schachbretts, Architekturfotografien des Bauhauses, Hell-Dunkel in Grafik und Malerei, die Farbphobie von Kunsthistorikern, die Nachkolorierung von Dokumentarfilmen und den Reiz des Asphalts.

Mit Beiträgen von Hartmut Böhme, Petra Bopp, Werner Busch, Michael Diers, Peter Geimer, Bettina Gockel, Romy Golan, Andreas Haus, Helmut Lethen, Kathrin Rottmann, Ernst Strouhal, Monika Wagner und Helen Westgeest.
Details
ISBN/GTIN978-3-593-50302-8
ProduktartBuch
EinbandartKartoniert, Paperback
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum11.06.2015
Reihen-Nr.1
Seiten296 Seiten
SpracheDeutsch
Gewicht530 g
Illustrationenm. 120 z. Tl. farb. Abb.
Artikel-Nr.33374036
Rubriken

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
Inhalt

Von der Erkenntniskraft der Unterscheidung und dem Verlust der Oberflächentextur. Eine Einleitung 7
Helmut Lethen

Magie, Metaphysik und Ästhetik des Weißen und des Schwarzen in Literatur und Kunst 17
Hartmut Böhme

Lushin stürzt. Schwarz und Weiß am Schachbrett 47
Ernst Strouhal

Asphalt. Schwarzes Material und transparente Farbe 64
Kathrin Rottmann

Schwarz auf Weiß oder Weiß auf Schwarz. Das Ausloten druckgrafischer Möglichkeiten 80
Werner Busch

The Medium of the Decade: The Photomural in 1937 97
Romy Golan

The Empty-Full Paradoxes of Dynamic Black and White: Uniting West and East from Tobey's and Reinhardt's Paintings to Paik's Screens 112
Helen Westgeest

Kunstgeschichte in Schwarz-Weiß. Visuelle Argumente bei Panofsky und Warburg 126
Monika Wagner

Steinzeit der Evidenz. Das Schwarz-Weiß des Roland Barthes 145
Helmut Lethen

Schillernd. Die Erfindung der Schwarz-Weiß-Fotografie 156
Bettina Gockel

Schwarz-Weiß. Architekturfotografie des »Neuen Bauens« 171
Andreas Haus

»Für den Soldaten ist das Farbenphoto die hundertprozentige Erfüllung« - Farbe als Evidenzversprechen inmitten schwarz-weißer Kriegserinnerungen 191
Petra Bopp

(Un)clrd. Schwarz-Weiß im Farbfilm. Politische Aspekte einer Hybridästhetik 208
Michael Diers

»White Negro« und »Negro White«: Mailer, Fassbinder, Sirk, Vian 229
Ingo Zechner

Die Farben der Geschichte und die »Wahrheit des Schwarz-Weiß« 246
Peter Geimer

Anmerkungen 259
Abbildungsnachweis 291
Autorinnen und Autoren 295
mehr
Prolog
Schlagkraft der Unterscheidungmehr
Leseprobe
Von der Erkenntniskraft der Unterscheidung und dem Verlust der Oberflächentextur. Eine Einleitung

Helmut Lethen

Den Anstoß für das Unternehmen Schwarz-Weiß als Evidenz gab eine überraschende Beobachtung Monika Wagners: Die Besichtigung von Mies van der Rohes Haus Tugendhat in Brünn nach seiner Restaurierung im Jahre 2012 habe ihre Vorstellung vom Neuen Bauen als einer Architektur strahlend weißer Kuben korrigiert. "Wer Wände mit einer puristisch glatten Oberfläche in sterilem Weiß erwartet hat, staunt über die optische Brillanz der Oberflächentönung. Die Haut des Hauses wies, das brachte die denkmalpflegerische Untersuchung und Rekonstruktion zu Tage, winzige gelbliche, bräunliche und rötliche Sandkörnchen auf, deren Erhebungen und farbliche Nuancen die Wand jetzt wieder beleben. Wo die Sandkörnchen an der Oberfläche des Putzes liegen oder durch Abrieb sichtbar werden, reflektieren sie das Licht der Sonne. Durch die Veränderung des Lichts ebenso wie durch die Bewegung des Betrachters/Bewohners wird der Eindruck einer lebendigen Haut des Gebäudes erzeugt." Hatten erst Schwarz-Weiß-Fotografien das Haus Tugendhat zur Inkunabel moderner Architektur gemacht? Die minutiöse Rekonstruktion entdeckte die diskrete Buntheit dieses Bauwerks wieder, die in unserem maßgeblich fotografisch vermittelten Gedächtnis keinen Platz gefunden hatte.
Die Überraschung wurde zur Initialzündung unseres Projekts. Die Evidenz der zirkulierenden schwarz-weißen Bilder des Neuen Bauens in Presse und Katalogen schien schlagend zu sein. Sie wurde im Fall der Villa Tugendhat mit dem Verlust an differenzierten Informationen zur Oberflächenstruktur des Gebäudes erkauft. Vielleicht ist der "Edelputz" des Tugendhat-Hauses ein Sonderfall. Im Normalfall diente, so Andreas Haus in seinem Beitrag (S. 183), die starke Linien- und Kantenbetonung der Schwarz-Weiß-Abbildungen dem Konzept des Neuen Bauens.
Haben die Architekten des Neuen Bauens in der Schwarz-Weiß-Fotografie ihr ideales Medium für die lichtglänzenden Kuben des Neuen Bauens gefunden - auch wenn die Wirklichkeit der Baukörper dieser Idee nie perfekt entsprach? War die Reduktion der Farben auf die Unbuntheit des Schwarz-Weiß eine Geste der Abwehr der "Netzhautmalerei der Impressionisten" (Marcel Duchamp) (vgl. den Beitrag von Ernst Strouhal, S. 49)? Ist der ästhetische Reiz des Schwarz-Weißen verwoben in utopische oder sozialreformerische Verhaltenslehren der Distanz in den 1920er Jahren? Erleichtern Schwarz-Weiß-Abbildungen den Zugang zu einem krafterfüllten Raum der Abstraktion (vgl. den Beitrag von Hartmut Böhme, S. 24)? Kurz: Überblendete die medial hergestellte Evidenz des Schwarz-Weißen die Wirklichkeit?
Mit diesen Fragen begann das Abenteuer einer Konferenz am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien (22. bis 24. Mai 2013), deren Vorträge nun als Essays, erweitert um Beiträge von Werner Busch und Ingo Zechner, in diesem Buch vorliegen.

Schwarz-Weiß, ein Kern der Ästhetik des 20. Jahrhunderts

Der Siegeslauf der Ästhetik des Schwarz-Weißen begann zu einem Zeitpunkt, als die Technologie der Farbfotografie bereits erstaunliche Resultate vorzuweisen hatte. Die Herrschaft des Schwarz-Weißen ist im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts folglich nicht nur auf technische Defizite zurückzuführen.
Bettina Gockel weist darauf hin, dass Fotos in brillantem Schwarz-Weiß im 19. Jahrhundert schwerlich aufzufinden sind. Daguerreotypien schillerten noch in Bildtönen von Grau bis Blaugrau/-violett oder auch goldfarben. Unter dem Einfluss des Piktoralismus liebte man im 19. Jahrhundert den Schimmer der Fotografien in zartem Blaugrau, bräunlichem Rot und erdigen Gelbtönen (S. 161-164). Selbst der Asphalt glänzte, wie Kathrin Rottmann entdeckt, in purem Schwarz erst, als ihm Grafit untergemischt wurde; dann konnte er in Kombination mit der grellen Helligkeit elektrischer Bogenlampen ein Faktor der Großstadtästhetik des "Asphalt Jungles" werden (S. 75).
Musste der Reiz des Schwarz-Weißen, wie Andreas Haus annimmt, erst in der harten Schule der Wahrnehmung in den 1920er und 30er Jahren gelernt werden? Der Reiz scheint nach dem Ersten Weltkrieg direkt mit Ideen einer zivilen Gesellschaft verbunden; mit Praktiken moderner Hygiene, sozialreformerischen Utopien und Verhaltenslehren der Distanz. In welchem Ausmaß Schwarz-Weiß zum operativen Einsatz der Fotografie gehörte, demonstriert der Beitrag von Romy Golan. Schwarz-weiße photomurals signalisierten in den 1920er und 30er Jahren militantes Engagement. Das Schwarz reihte Picassos Guernica nicht nur in die Maltradition von El Greco, Velásquez und Goya ein, sondern bekundete auch seine Solidarität mit den Akteuren der photomurals des spanischen Pavillons auf der Weltausstellung 1937.
Dass die Polarität von Schwarz-Weiß und Farbe auch in der kulturellen Konstruktion des "Männlichen" und "Weiblichen" eine Rolle spielte, sei hier kurz an einem Beispiel erläutert: Helene Hessel (bekannt als Vorbild der Geliebten in Truffauts Film Jules et Jim) ruft in der Zeitschrift Das Tage-Buch vom 8. Januar 1921 der modernen Frau zu "Schafft euren Kräften Spielraum" - womöglich in einer Umwelt, die sich der Farbe verweigert: Gebt der neuen Frau
"vor allem ein eigenes Badezimmer mit viel Duschen und strömendem Wasser. Laßt sie Hygiene lernen von einer Hebamme oder Masseuse und auf ihre Beine achten, laßt sie sich um die Gesundheit ihres Geschlechts kümmern. Föhnapparate und flüssige Seifen, grelle Elektrizität, damit sie ihren Körper kennen und benutzen lernt. Laßt sie Bilder sehen von nackten Göttern, dass sie sich vergleichen lernt. Noch besser Plastiken. Gebt ihr einen großen Balkon für ihre Luft- und Sonnenbäder."
Offensichtlich stehen Hessel in der Tradition Winckelmanns schneeweiße Götterstatuen vor Augen. So kommt sie zu ihrer kühnsten Forderung: "wenn Ihr es wagt, so verzichtet auf alles Farbige und macht Euch eine Nonnenzelle, in der ihr Eure Schönheit, Eure Jugend, Euren Körper wissenschaftlich und genau behandelt."
Verhaltensunsicherheiten, die in Krieg und Inflation entstanden, fördern die Suche nach neuen Ordnungsschemata. Die Aufspaltung von Körper und Psyche, die Hessel in ihrer Badeszene vornimmt, mag zur Suchbewegung der Selbstbestimmung gehören. Descartes, dem in Deutschland gern die Spaltung von Körper und Psyche vorgehalten wird, ist im weißgekachelten Badezimmer der mondänen Frau gelandet, die ihren unbehüteten Körper in Reinigungsritualen von den Finsternissen paternalistischer Erbschaften befreit.

Schattenrisse der Erkenntnis

Alle Farben in Natur (und Kunst), lehrt Ishmael in Herman Melvilles Moby Dick, sind nur "abgefeimte Täuschungen" (subtile deceits), "rätselhafte Schminke" (mystical cosmetics) über dem "inwendigen Beinhaus" (the charnel-house within) (vgl. den Beitrag von Hartmut Böhme, S. 27). Bis zur Hellen Kammer von Roland Barthes kann man die negative Haltung zur Farbe als Schminke verfolgen (vgl. den Beitrag von Helmut Lethen, S. 148). Die Skepsis gegenüber dem Schillern der Farbe hat einen antiken Ursprung. Eine besondere Form dieses Topos findet sich bei Lukrez. Er bindet in De rerum naturae (geschrieben im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung) die Erkenntnis an die zu ertastenden Umrissformen der Dinge und nicht an die Farben ihrer Oberflächen:
"Weil nämlich die Blindgeborenen (caecigeni), die niemals das Leuchten der Sonne erblickten, dennoch durch Berührung (tactus) die Körper (corpora) kennen, die seit Anfang der Zeit mit keiner Farbe verbunden sind, kann unser Geist erkennen, dass sich die Körper - ohne von farbiger Schminke beschmiert zu sein - zur Erkenntnis wenden. Außerdem, wenn wir selbst etwas in blinder Dunkelheit (tenebrae caecae) berühren (tangere), fühlen wir es, ohne dass es in Farbe getaucht ist."
Bei Lukrez bleibt die Erkenntnis der Dinge an das Ertasten ihrer Konturen gebunden. Die Farbigkeit ihrer Oberflächen wird als erkenntnisverhindernde Kosmetik abgewehrt. Peter Geimer spielt dieses Argument in seinem Beitrag am Beispiel der Debatten um die Nachkolorierung filmischer Weltkriegs-Dokumentationen noch einmal durch. Michael Diers untersucht in seiner Mikroanalyse den simultanen Einsatz von Schwarz-Weiß und Farbe im Film if.... Was leistet der Farbverzicht in diesem Farbfilm? Kein Streit mehr um das Authentizitätsmonopol! Hier gelingt die "Konfrontation zweier physischer Sphären oder Räume und/oder unterschiedlicher mentaler oder psychischer Zustände: Wachsen versus Krankheit, Leben versus Kunst, Himmel versus Erde und Vergangenheit versus Gegenwart ( flashback )" (S. 212). Solche Kunstgriffe zur Entspannung der beinharten Polarität zugunsten einer Wellenbewegung des kategorialen Wechsels von Schwarz-Weiß und Farbe sind selten.
In großer Ferne zum lustbetonten Tastspiel von Erkenntnis und Körper, in das sie der Epikureer Lukrez verwickelt hatte, verdüstern die modernen Versionen den antiken Schmink-Topos. In der Rede von Ishmael verbirgt die Farb-Kosmetik das "Beinhaus" des Todes; in Barthes Heller Kammer markiert das Schwarz-Weiß der Fotografie die todesgleiche Abwesenheit des einst Lebendigen. Die klaren Konturen des fotografierten Körpers rücken gespenstisch nah - und bleiben in der unberührbaren Evidenz des Bildes gefangen (vgl. den Beitrag von Helmut Lethen, S. 155). In diesem Zusammenhang ist auch der Satz von W.G. Sebald zu erklären, die Grauzonen der Schwarz-Weiß-Fotografie deuteten auf ein Territorium hin, "das zwischen Leben und Tod liegt".
Die Fixierung auf die Umrisslinie kommt zur Perfektion in Schattenrissen und Scherenschnitten. Johann Caspar Lavaters Physiognomik genügen die scharfen Konturen des Profils. In seinen Silhouetten sind die Binnendifferenzierungen der Charakterköpfe schwarz ausgetuscht. Die Linie, die das Profil umreißt, führt zur Erkenntnis des Kerns des Lebewesens. Das bleibt in der Geschichte der Physiognomik bis zu den Grafiken in Ernst Kretschmers Körperbau und Charakter (erschienen 1921, 26. Auflage in den 1960er Jahren) gleich. Seine Typologien - der schlankwüchsige Leptosom, der breitwüchsige Pykniker und der grobwüchsig muskuläre Athletiker - sind Konstrukte aus Linien. Man kann sie nachkolorieren, aber Typologien orientieren sich meist an Linien und die Linie wurde in Schwarz-Weiß gedacht. Im Fall der Schattenrisse, Silhouetten und Scherenschnitte tritt der Verlust der spürbaren Oberflächenstruktur, das Absehen von verschiedenen Texturen der Haut und der Atmosphären, die sie ausstrahlt, besonders stark hervor. Das Reduktionsverfahren der Physiognomik fällt ins Auge. Die Farbe wird zwar auch von der Wahrnehmungsphysiologie als Oberflächentönung mit höchsten Emotionswerten belegt, gilt aber als wissenschaftlich instabile (vgl. den Beitrag von Monika Wagner, S. 133), subjektiv getönte Größe und wird nur zweitrangig in Betracht gezogen. Das trifft, wie verschiedene Beiträge unseres Bandes demonstrieren, neben der Physiognomik auch für weite Teile der Kunstgeschichte zu.

Linienbasierte Reflexion

"Im Falle von Gemäldereproduktionen", konstatiert Werner Busch in seinem Beitrag über die Auslotung druckgrafischer Möglichkeiten, "hielt das Schwarz-Weiß-Medium der Druckgrafik in der primär auf den Umriss reduzierten Form ein Abstrakt der Bilderfindung fest, legte quasi die Idee frei". Das Schwarz-Weiß der Druckgrafik wird zu einem "künstlerischen Reflexionsmedium" (S. 80).
Im Feld der Kunstgeschichte dominiert die Zuschreibung der Linie und des Schwarz-Weiß an den Intellekt, an die Idee des "eigentlichen" Gehalts des Kunstwerks. Durch die Reduktion auf hell und dunkel, schwarz und weiß und ihre tonalen Abstufungen sollen, wie es in der Moderne heißt, "Grundformen" als "Ausdrucksträger", die "menschlichen Grunderfahrungen" entsprechen, freigelegt werden. Monika Wagner zeigt in ihrem Beitrag, in welcher Tradition des "idea"-Denkens man dieses Konzept ansiedeln kann. Plötzlich wird klar, warum bis weit ins 20. Jahrhundert in Werken der Kunstgeschichte die Abwesenheit der Farbe nie als Mangel beklagt wird. Schwarz-weiße Reproduktionen wurden sogar, wie der Fall Panofsky zeigt, noch in den 1930er Jahren als adäquatere Darstellungsformen verteidigt. Wenn die Idee als Zentrum des Kunstwerks in der Linie ihr adäquates Realisationsmittel findet, dann gerät die Farbe in den Verdacht, nur eine die Idee "verunreinigende Materialisation" zu sein (S. 136). Die Nachbarschaft der Linie zur Schrift erleichtert die Entzifferung ihres Sinns. Monika Wagner wirft folgerichtig die Frage auf, "inwieweit die Ikonologie als Methode aus der Schwarz-Weiß-Reproduktion entwickelt wurde" (S. 139) und untersucht dann in einem Gedankenexperiment, ob das Netzwerk von Bezügen auf den schwarz-weißen Demonstrationstafeln von Aby Warburg weiterhin seine Evidenz ausstrahlt, wenn man die Einzelbilder des Atlas in Farbe reproduziert.
Logifizierungen folgen der Linie. Das hat den Vorteil, dass die Denkbewegung nicht in die Kontrastlosigkeit des totalen Schwarz oder des absoluten Weiß mündet. Die schwarz-weiße Linie scheint das ideale Stilmittel zu sein, wenn die Tiefenstruktur des "Beinhauses" hinter den schimmernden Oberflächen nachgezeichnet werden soll. Das Konstrukt der Linien ist aber defizitär, wenn es den Pulsschlag des Organischen, die Temperaturen der Leidenschaft, die "Haut" der steinernen Gehäuse nicht wiedergeben kann. Atmosphären brauchen Farbe, sie gehören zum Milieu des Denkens.
Allerdings macht der Beitrag von Helen Westgeest über den Austausch der Kunst der westlichen Länder mit Elementen des Zen-Buddhismus und japanischer Kalligrafie darauf aufmerksam, dass diese Sicht auf die logifizierende Linie oder auf totales Schwarz bzw. Weiß möglicherweise eurozentrisch kodiert ist. Kann im totalen Weiß nicht auch eine "Energie der Leere" aufgespürt werden (S. 117)? Ist die Linie nicht imstande, den Flug der Zeit nachzuziehen?
Einmal auf die Schwerkraft des Schwarz-Weißen in der kunsthistorischen Tradition in Europa aufmerksam gemacht, verwundert es nicht, welches Setting der australische analytische Philosoph Frank Cameron Jackson 1982 für sein Gedankenexperiment Marys Zimmer wählte:

"Mary ist eine brillante Wissenschaftlerin, die, aus welchen Gründen auch immer, gezwungen ist, die Welt von einem schwarzweißen Raum aus mithilfe eines schwarzweißen Fernsehmonitors zu untersuchen. Sie spezialisiert sich auf die Neurophysiologie des Sehens und eignet sich, wie wir annehmen wollen, alle physikalischen Informationen an, die verfügbar sind, über das, was passiert, wenn wir reife Tomaten oder den Himmel sehen, und Begriffe wie rot , blau usw. benutzen. Sie entdeckt zum Beispiel, welche vom Himmel ausgehenden Wellenlängen-Kombinationen genau die Netzhaut stimulieren, und wie genau dies mithilfe des zentralen Nervensystems ein Zusammenziehen der Stimmbänder und Ausstoßen von Luft aus der Lunge hervorruft, das zur Äußerung des Satzes Der Himmel ist blau führt. [...] Was wird passieren, wenn Mary aus ihrem schwarzweißen Raum gelassen wird oder wenn man ihr einen Farbfernseher gibt? Wird sie etwas lernen oder nicht?"

Lernt diese Wissenschaftlerin, die man ins Gehäuse des Schwarz-Weißen "gezwungen" hat, etwas Neues, wenn sie, befreit, zum ersten Mal eine Farbwahrnehmung außerhalb ihres Gefängnisses hat? Die analytische Philosophie grübelt bis heute über dieser Frage. Sie könnte vielleicht lernen, dass Farbbenennungen arbiträr sind, kaum aber wohl Farbwahrnehmungen. Hier tauchen Fragen, die im 18. Jahrhundert von Condillac und Diderot durchgespielt worden waren, im Milieu der analytischen Philosophie wieder auf und werden als schwer lösbar charakterisiert.

Generationen des Bildgedächtnisses

Schwarz-Weiß hat in Film und Fotografie in den letzten Jahrzehnten sein Authentizitätsmonopol verloren (vgl. die Beiträge von Michael Diers und Peter Geimer). Im 20. Jahrhundert war der Imaginationsraum des Historischen nur in Schwarz-Weiß vorstellbar, im Gegensatz zur Farbenpracht der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts. Es scheint heute, als ob das Bildgedächtnis einer älteren Generation noch ganz von einem älteren Medium grundiert sei, während sich jüngere Generationen auch zeitlich ferne Ereignisse eher in Farbe aneignen. Weil Farbigkeit es dem heutigen Zuschauer erleichtern soll, die Distanz zu Ereignissen wie dem Zweiten Weltkrieg zu überwinden, greift man zu Techniken der Nachkolorierung. Denn, so das Argument, der Schrecken des Kriegs hat sich in einer uns durchaus vertraut bunten Welt abgespielt. Darum sollen die Praktiken des Schreckens "unmittelbarer" erfahrbar sein, wenn sie in Farbe präsentiert werden (vgl. den Beitrag von Michael Diers, S. 211).
Fotografierte Körper in Farbe ermöglichen engere Tuchfühlung, lassen die Vermittlung durch den technischen Apparat leichter vergessen. Petra Bopp weist in diesem Zusammenhang auf eine Merkwürdigkeit hin, die unsere Beobachtung bestätigt. Die knipsenden Landser benutzten im Zweiten Weltkrieg in erstaunlichem Ausmaß bereits Farbfilme. Landschaften und strahlend blaue Himmel wurden in Farbe aufgenommen. Sobald der militärische Alltag mit seinen Zerstörungen und Toten dokumentiert werden sollte, benutzten die Soldaten eher Schwarz-Weiß (S. 200/201). Schwarz-Weiß verbürgt Zeugenschaft und entlastet durch Distanz.
Wahrscheinlich stehen sich, wie Peter Geimer annimmt, gegenwärtig in der Opposition der Authentizitätsansprüche von Schwarz-Weiß und Farbe zwei verschiedene Modi der Rezeption gegenüber: "Distanzierung und Anverwandlung, Zeugenschaft und Animation, Beglaubigung und Empathie" (S. 249). Im Fall der Nachkolorierung der Geschichte verteidigt Geimer das ursprüngliche Schwarz-Weiß der Weltkriegsdokumentationen. Es geht um Distanz, Zeugenschaft und Beglaubigung. Geimer weist auf den "Irrtum der Ikonoklasten" hin, die alles kolorieren, um den Eindruck der Unmittelbarkeit zu erhöhen; die annehmen, dass, erst wenn der Verdacht, dass unsere Wahrnehmung der fernen Wirklichkeit durch Bilder vermittelt ist, beseitigt sei, "am Ende eine Welt der reinen Transparenz vor Augen stünde" (S. 255).
Zum Problem der Nachkolorierung der Geschichte gehört ein kurioser Fall, von dem Petra Bopp auch im Katalog der Ausstellung Fremde im Visier berichtet. In den 1980er Jahren beginnt ein Kriegsveteran in die Fotoalben, in denen er seine Erfahrungen an verschiedenen Fronten des Krieges gesammelt hatte, aus aktuellen Reiseprospekten farbenfrohe Abbildungen von Landschaften und Kulturen, in die er als Soldat geraten war, zwischen seine Dokumente zu kleben (S. 207). Vielleicht, um den Eindruck der nacherlebbaren Präsenz zu erhöhen?

Verhaltenslehre der Distanz

"Fein ist perlgrau oder weiß. Blau ist ordinär, rot ist aufdringlich, grün ist kraß [...], die Farblosigkeit ist das Kennzeichen der Bildung, weiß gleicht der Farbe europäischer Haut!" Als wir Béla Tarrs Satz "With black and white you can keep more of a distance" für das Cover dieses Bandes vorschlugen, war uns nicht bewusst, dass der Kern der modernen Schwarz-Weiß-Ästhetik auch in eine Verhaltenslehre der Distanz der 1920er und 1930er Jahre verwoben ist. Bei Béla Tarr ging es um die Distanz seiner Schwarz-Weiß-Filme zur Buntheit der Wirklichkeit. Verschiedene Beiträge dieses Bandes lassen jedoch erkennen, dass es in der Kulturgeschichte des Schwarz-Weißen auch um Distanz in einem umfassenderen Sinn geht. Distanz aufgrund des spürbar Artifiziellen der Schwarz-Weiß-Abbildung; die Kamera schiebt sich zwischen das Auge und das aufzunehmende Objekt. Distanz durch Auskühlung der emotionalen Unmittelbarkeit der Farbflächen. Distanz durch die vermeintlich leichtere Reduktion auf eine Idee. Die Verlustrechnung dürfte im Laufe unserer Abhandlung klar geworden sein.
Die Schlagkraft der Unterscheidung hat auch eine finstere Dimension. Das wird vielleicht am deutlichsten in Ingo Zechners Beitrag über die Schlagkraft der Unterscheidung der Hautfarben in Diskursen des Rassismus. Der Schematismus des Schwarz-Weiß dringt in die Körper ein, wird "essentialisiert". Blackness besitzt einen Körper, "dessen Funktionsweise völlig von ihr bestimmt ist" (S. 231). Umso schwindelerregender wird die Situation, wenn, wie in den angeführten Fällen, die Person weiß aussieht, aber schwarz ist.
Ernst Strouhal weist in seiner Skizze der Geschichte des Schachspiels darauf hin, dass mit dem Gewinn an übersichtlicher Struktur des Spielfelds durch seine Einteilung in 64 Schwarz-Weiß-Quadrate die Dynamik der Spielzüge gesteigert wurde. Am Schachbrett ließ sich der Krieg als ein begrenztes Duell zwischen zwei Parteien auf distinkten Feldern und mit klaren Zielen simulieren (S. 52). Lässt das eher an das alte Modell der eingehegten Kabinettskriege denken, so ist die Unterscheidung von Vertrauens- und Misstrauenszonen, Freund und Feind, eigener und fremder Rasse untergründiger, brisanter und unkalkulierbarer, weil sie in einen Raum führt, in dem Gewalt alle Lebewesen mit der gleichen Todesfarbe behaftet.
Hartmut Böhme führt die Schrecken der Kontrastlosigkeit ("Was soll es Schwarz auf Schwarz zu lesen geben - außer Nichts") vor Augen. Sein einleitender Essay mündet in Durs Grünbeins Gedicht Vom Schnee oder Descartes in Deutschland:

"Schnee abstrahiert. Nehmt an, der hat das Bett gemacht
Für die Vernunft ..."

Bei Grünbein wird das Schneeweiß als Unterlage der Schrift ein "Medium der Strahlkraft sinnlichen Erscheinens, der Klarheit der Abstraktion". Das Abstrakte ist als Erkenntnissituation nicht leer, "sondern eine großartige Szenerie für die Vernunft und die Sinne" (S. 46).
Die Klarheit des Erkennens im Lineament der Vernunft mit den Attraktionen und Tiefendimensionen der farbigen Oberflächen in Einklang zu bringen, ist also möglich.
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Autor

Monika Wagner lehrte 1986 bis 2009 Kunstgeschichte an der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Kunst der Moderne, der Geschichte und Theorie der Wahrnehmung und der Ikonografie des Materials. Helmut Lethen ist Direktor des IFK Wien und hat dort 2007 den Schwerpunkt »Kulturen der Evidenz« ins Leben gerufen. Seine Gebiete sind Historische Avantgarden, philosophische Anthropologie und Mediengeschichte.