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Werke. Bd. 8: Briefe (Werke, Bd. 8)

Die Ausgabe wird unterstützt von der Hamburger Stiftung zur Förderung der Wissenschaft und Kultur
BuchGebunden
804 Seiten
Deutsch
Klett-Cottaerschienen am25.09.20071. Aufl. 2007
In vier große Abschnitte ist diese erstmalige, repräsentative Auswahl aus den Briefwechseln Jean Amérys gegliedert:
- Die frühen Briefe, im Ausnahmezustand gewissermaßen. Dem KZ entronnen, versucht Améry, an alte Beziehungen anzuknüpfen. Dies in einer generell unfassbaren Situation: Vier Jahre lang kämpft Améry mit den Behörden um die Bestätigung seiner amtlichen Identität.
- Die Arbeitskorrespondenz mit Herausgebern, Rundfunkredakteuren und Verlegern, in denen sich präzise Kommentare zu seinen Arbeiten, Essays und Büchern finden. Besonders eindrücklich ist der Briefwechsel mit dem Herausgeber des »Merkur«, Hans Paeschke.
- Ein großer Abschnitt ist der Politik und dem »Dilemma des Engagements« (so der Titel eines Artikels zum Sechstagekrieg) gewidmet. Das Thema Israel war von brennender Wichtigkeit für Améry, es geht ihm dabei immer wieder um die Erprobung seiner zentralen philosophischen und politischen Kategorien.
- Ein letzter Abschnitt ist den Briefen vor dem Freitod in Salzburg gewidmet.
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Produkt

KlappentextIn vier große Abschnitte ist diese erstmalige, repräsentative Auswahl aus den Briefwechseln Jean Amérys gegliedert:
- Die frühen Briefe, im Ausnahmezustand gewissermaßen. Dem KZ entronnen, versucht Améry, an alte Beziehungen anzuknüpfen. Dies in einer generell unfassbaren Situation: Vier Jahre lang kämpft Améry mit den Behörden um die Bestätigung seiner amtlichen Identität.
- Die Arbeitskorrespondenz mit Herausgebern, Rundfunkredakteuren und Verlegern, in denen sich präzise Kommentare zu seinen Arbeiten, Essays und Büchern finden. Besonders eindrücklich ist der Briefwechsel mit dem Herausgeber des »Merkur«, Hans Paeschke.
- Ein großer Abschnitt ist der Politik und dem »Dilemma des Engagements« (so der Titel eines Artikels zum Sechstagekrieg) gewidmet. Das Thema Israel war von brennender Wichtigkeit für Améry, es geht ihm dabei immer wieder um die Erprobung seiner zentralen philosophischen und politischen Kategorien.
- Ein letzter Abschnitt ist den Briefen vor dem Freitod in Salzburg gewidmet.
ZusammenfassungIn diesem wichtigen Band sind fast 350 Briefe Amérys aus dem Zeitraum von 1945 bis 1978 gesammelt, kommentiert und erläutert.
Details
ISBN/GTIN978-3-608-93568-4
ProduktartBuch
EinbandartGebunden
Erscheinungsjahr2007
Erscheinungsdatum25.09.2007
Auflage1. Aufl. 2007
ReiheWerke
Reihen-Nr.8
Seiten804 Seiten
SpracheDeutsch
Gewicht806 g
IllustrationenLesebändchen
Artikel-Nr.10524411
Rubriken

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
Der verlorene Brief
Verlorenheit nach der Befreiung: 1945 bis 1950
Ressentiments: November 1957 bis Mai 1967
Zwischen Vietnam und Israel
Zwischen Israel und Lefeu:
Juni 1967 bis Februar 1974
Diskurse über den Freitod: März 1974 bis Oktober 1978
»Kleines Wort aus der Nacht«: Oktober 1978
Anhang
Siglen und Abkürzungen
Biographische Anmerkungen zu den Adressaten
Anmerkungen zu den einzelnen Briefen
Editorische Notizen, Quellennachweise, Dank
Gerhard Scheit: Nachwort
Anmerkungen
mehr
Prolog
Ein Höhepunkt der großen Améry-Ausgabe: fast alle Briefe sind bisher unveröffentlicht.mehr
Leseprobe

Gerhard Scheit: Nachwort

Die Briefe dieses Bandes umfassen etwa ein Drittel der Korrespondenz Jean Amérys, soweit sie auffindbar war. Mit Ausnahme zweier Schreiben an Behörden dürften sich nur Briefe aus der Zeit nach 1945 erhalten haben, was allerdings wenig erstaunt. Gerade in den extremen Momenten, die diese Auswahl bestimmen, ist unausgesetzt präsent, was davor geschah - ob nun die Liebesbeziehung auf dem Spiel steht oder die alltägliche Misere des freien Schriftstellers sich zuspitzt; ob politische Konflikte ausgetragen werden und Freundschaften zerbrechen oder intellektuelle Verbundenheit von wachsender Gleichgültigkeit aufgerieben wird. Es sind immer Briefe aus dem Exil, ohne die Sicherheit, die andere von Heimat sprechen lässt. Kaum gelingt es Améry, die »Selbstkonstitution im Briefe« zu gutem Ende zu führen: allenthalben tritt die Angst hervor, sich als Schriftsteller nicht durchzusetzen oder den bereits erreichten Rang wieder zu verlieren; immer wieder ist er auf der Hut vor der falschen Deutung durch Freunde und »Generationskameraden« wie vor der öffentlichen Meinung, gegen die er revoltiert. Und in solchen Revolten zeichnen sich dann die Wendepunkte der intellektuellen Auseinandersetzungen und der politischen Konstellationen nach 1945 weit schärfer ab als in den üblichen zeit- oder literaturgeschichtlichen Studien.
Die Auswahl ist chronologisch geordnet, sie wird durch zwei Texte gegliedert, die gar keine Briefe sind: einen Essay über die verlorene Kunst des Briefeschreibens, worin Améry ganz all gemein von jener »Selbstkonstitution im Briefe« spricht, die nicht mehr gelingen will; und einen Artikel über Engagement zwischen Vietnam und Israel, der seine linken Freunde provozieren sollte. Beide konturieren die Gegensätze zwischen den verschiedenen Phasen von Amérys Korrespondenz. Der kultursoziologische Essay des geachteten Autors von 1976 über die schwindende Fähigkeit der Menschen, Briefe zu schreiben, kontrastiert mit der gespenstischen Situation des Unbekannten von 1945, der gerade der Vernichtung entkam und erste Kontakte mit Freunden aufzunehmen sucht. Diese im Nachlass Maria Amérys entdeckten Briefe, geschrieben in den ersten Monaten und Jahren nach der Befreiung aus Bergen-Belsen, sind ein einzigartiges Dokument der Verlassenheit nach dem Unausdenkbaren, das geschehen ist. Dem steht die spätere, umfangreiche und weit gestreute Korrespondenz gegenüber, die den nun so rasch bekannt gewordenen Autor inmitten vielfältiger Freundschafts- und Arbeitsbeziehungen zeigt, in permanenter Konfrontation mit den aktuellen politischen Fragen. Deren Nervenpunkte aber erschließen sich direkt oder indirekt durch den Bruch, der von jenem engagierten Artikel übers Engagement anlässlich des Sechstagekriegs 1967 mit besonderer Präzision markiert worden ist. Darüber hinaus ist die Biographie, die Irene Heidelberger-Leonard über Améry geschrieben hat, der unersetzliche Kommentar zur Auswahl der Briefe.

Briefe aus dem Nichts
Wir alle, sagt Jean Améry, »die Großen und die Kleinen und die Nichtigen«, haben das Briefeschreiben verlernt. Darin liege ein Verlust von »Urbanität« - etwas, das »neuere, bessere Formen des menschlichen Zusammenlebens« sich jedoch erhalten sollten, wollen sie wirklich bessere sein. Am Niedergang der einen Ausdrucksform lässt sich ablesen, wie es um die Sprache im Ganzen steht. Im Essay über den »verlorenen Brief«, der diesen Band einleitet, meint Améry mit Urbanität nicht einfach städtische Zivilisation, es geht vielmehr um ein Potential des Humanen, das zwar mit dieser Zivilisation entstanden ist, aber durch deren unabsehbar gewordene Entwicklung auch sehr schnell wieder verschwinden kann. »Die klassenlose Gesellschaft sollte bedeuten, daß ihre Mitglieder einander schätzen, nicht daß sie in Sprache und Gestik die Gleichgültigkeit oder gar Verachtung des je anderen bekunden. Uneingeschüchtert vom Trend stehe ich darum ein für den Brief, der in seiner Ausführlichkeit allein schon dem anderen bezeugte, daß man bereit war, Zeit für das schriftliche Gespräch mit ihm aufzubringen, daß man nicht dem kapitalistischen Grundsatz time is money sich unterwarf.«
Gerade die ersten Briefe jedoch sind unerhört und mit nichts vergleichbar. Sie erzählen ganz anders als der berühmte Essayist von 1976 vom Ende der Urbanität und vom Tod des Humanen. Kaum ist etwas Ähnliches je in einer Briefausgabe erschienen. Es sind Briefe aus dem Ausnahmezustand. Hier schreibt jemand, der direkt vom Vernichtungslager kommt: Nach »642 Tagen in deutschen KZ-Lagern« war er am 15. April 1945 zusammen mit etwa 40 000 anderen Häftlingen von der britischen Armee befreit worden, und stand nun »mit fünfundvierzig Kilogramm Lebendgewicht und einem Zebra-Anzug wieder in der Welt« (JSS, Werke Bd. 2, S. 89). Im selben Monat kehrt er, immer noch im »gestreiften Häftlingsanzug«, nach Brüssel zurück - dorthin, wo er vor knapp zwei Jahren als Mitglied einer Widerstandsgruppe verhaftet wurde. Bald darauf erhält er einen Brief aus den USA von Maria Leitner - sie war im November 1941 mit ihrem Mann aus Belgien geflüchtet. Er antwortet sofort: »Meine liebe Mitzi«, schreibt: »ja, ja ich bin es schon«, und das erste, was er mitteilt, dass seine Frau, »sein Mädchen« ihm gestorben ist, »ohne deportiert gewesen zu sein«. Er selbst aber war »in so einigen Konzentrationslagern gewesen«.
Das »Bewegende« an diesem Briefwechsel mit Maria Leitner, der mitunter wunderliche Züge annimmt, verdankt sich, wie Irene Heidelberger-Leonard schreibt, »dem fast nüchternen Ernst« einer Situation, die im Grunde nicht mitzuteilen ist; einem Alltag nach Erfahrungen, die doch keinen Alltag mehr zulassen; »ein überlebender KZ-Häftling kehrt ins Nichts zurück« - und muss vier Jahre lang auch noch um die amtliche Bestätigung kämpfen, dass es ihn gibt. Er versucht sich, wie er selbst sagt, eine »Zwischenexistenz« zu schaffen (26.2.1946), und beginnt für holländische und belgische Zeitungen zu schreiben: »Das geht natürlich nur unter Heulen und Zähneklappern ab, denn alles was ich schreibe, muss übersetzt werden und bringt also schon aus diesem Grunde nicht allzuviel ein.« Eine gewisse finanzielle Unterstützung erhält er lediglich von Onkel und Cousine in England.
Die Last des Überlebenden lässt sich nicht beschreiben. Er hat erfahren, dass Gina, seine erste Frau, im April 1944, während er in Auschwitz war, in ihrem Versteck an einem Herzversagen gestorben ist. Als Jüdin verfolgt, war Regine Mayer-Berger 1940 untergetaucht - unterstützt von eben jener Freundin, mit der Améry nun wieder Kontakt aufnimmt. Und zwischen der Nichtjüdin, die seiner Frau geholfen hatte, ehe sie mit ihrem jüdischen Mann nach Amerika flüchtete, und dem Heimkehrer aus dem Lager, der auf Hilfe so sehr angewiesen ist, entwickelt sich bald eine Liebesbeziehung.
Das Indiskrete, solche Briefe zu veröffentlichen und zu lesen, ist der Preis dafür, selbst nur einen vagen Begriff von der subjektiven Lage des Überlebenden zu bekommen. Der komisch anmutende Idiolekt mit den unablässigen Verballhornungen und der geradezu kunstvollen Imitation der kleinen Kinder; der Hundename »Mops«, den Maria erhält, überhaupt die vielen Anspielungen auf Tiere, die auch in Form von Zeichnungen die Briefe bisweilen schmücken: so wie sie hier auftreten, sind die zärtlichen Regressionen, die zur Liebe gehören, zugleich Versuche psychischer Entlastung für diese Liebe im Ausnahmezustand. Entlastung auch für die unendlich großen Schwierigkeiten, literarisch neu zu beginnen, nicht aufzugeben in dem Bestreben, der anerkannte Schriftsteller endlich zu werden, der man schon vor der Flucht aus Österreich hat sein wollen. Die wiederaufgenommene Arbeit an dem Roman soll die Kontinuität zur Existenz herstellen und doch alle Erfahrungen, die diese Kontinuität sprengen, in sich aufnehmen. Im Fragment eines Briefs an Ernst Mayer, seinen besten Freund aus den Jahren vor 1938, schreibt Améry Ende 1945, der Roman, dessen »Skelett die eben geschehene unselige Geschichte« sei und eine ganz umfassende autobiographische Darstellung geben werde, »ist das Letzte und Äusserste, was ich zu geben habe: Wird es gut sein, dann wird mein Leben einen Sinn gehabt haben, wird es ein Nichts sein, dann werde ich wissen, dass ich selber ein solches bin.«
Améry darin beizustehen ist Maria Leitner bereit. Schon in den ersten Briefen zeichnet sich ab, dass sie das Angebot annehmen wird, das ihr der Überlebende aus Brüssel mit nichts in der Tasche offeriert - inzwischen spaziert er übrigens »in einer amerikanischen Militärjacke« durch die Stadt und wird darum »bei jedem Schritt und Tritt belästigt« von der amerikanischen Militärpolizei (10.10.1945). Maria verlässt ihren Mann, heiratet »Hansl« und setzt sich in der beengten Wohnung an die Schreibmaschine, um über zwei Jahrzehnte hindurch für ihn zu tippen, zu lektorieren und zu korrigieren - unzählige Durchschläge bleiben ihr davon im Oktober 1978 als Nachlass des »todtraurigen Manns«, mit dem sie so »lebendige Gespräche« geführt hat (Brief Maria Amérys an Rudolf Hartung vom 28.10.1978).

Rückkehr zur Urbanität
Geradezu konstruiert wirkt dagegen die Urbanität, wie sie aus den zahllosen Briefen an den Jugendfreund Ernst Mayer spricht - der umfangreichste Teil der vorhandenen Korrespondenz und für die Kenntnis von Amérys Entwicklung und Alltagsleben nach der Eheschließung mit Maria so wichtig wie ein Tagebuch. Abgesehen vom Fragment aus dem Jahr 1945, mit dem Améry den Kontakt nach dem Ende des Dritten Reichs wieder herstellen konnte, stammen davon die ersten hier gesammelten Zeugnisse aus der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre. Die Regelmäßigkeit, mit der sich die Freunde schreiben, und die nicht selten rituelle Bezugnahme auf die lange zurückliegende Jugend oder den eben verbrachten Urlaub (in Gegenden, die an diese Jugend erinnern sollen) hinterlassen fast den Eindruck, die Freunde hätten sich abgesprochen, so zu tun, als ob die Form des Briefs keine verlorene wäre. Wer hier aber Gottfried Kellers Novelle von den »Mißbrauchten Liebesbriefen« assoziiert, hat nichts begriffen. Statt um Selbstbespiegelung des Literaten, wozu die Kellersche Spießbürgerfigur die Liebesbriefe an seine Frau missbraucht, geht es um Freundesliebe, die gerettet werden soll und um das rechte Wort ringt. Warum sich Jean Améry gerade hier um die verlorene Form inständig müht, kann nicht schwer genug genommen werden: Mit der Konstruktion von Bürgerlichkeit und Distanz versuchen die Freunde über all das hinwegzukommen, was sie seit 1938 trennt und worüber hinwegzukommen unmöglich ist, wie sie doch auch zugleich wissen: »Es liegt zuviel zwischen damals und heute«, so Améry 1976, nachdem er die Möglichkeit »heimzukehren« anklingen ließ. Jahr für Jahr aber verbrachte man den Urlaub gemeinsam, zum letzten Mal zwei Monate bevor sich Améry das Leben nahm. Ernst Mayer folgte ihm wenige Jahre später nach.
Vordergründig spielt sich in diesem Briefwechsel ein Konkurrenzkampf ab zwischen dem schließlich doch noch berühmt gewordenen, finanziell allerdings ungesicherten »Berufs-Auschwitzer« (an Ernst Mayer, 20.4.1967) im lebenslangen Exil und dem vergeblich nach etwas Ruhm haschenden, dabei einem abgesicherten Lebensabend entgegensehenden Hofrat im Nachfolgestaat des Herbert Törleß. Und selbst als einmal die Krise an diesem Punkt ausbricht - bei einem Besuch Ernst Mayers in Brüssel, Weihnachten 1965 - gelingt es doch, in einigen längeren Briefen mit umständlichen Berichtigungen die Balance der Konstruktion wiederherzustellen. Ernst Mayer bekommt aber weiterhin zu spüren, dass er mit seiner ganzen Existenz zu wenig »nein« sage zu diesem Leben und zu dieser Gesellschaft. Es ist, als würde Améry ihm gegenüber auf die Polarität dringen, die seine Figuren Eugen Althager und Heinrich Hessl im frühen Roman Die Schiffbrüchigen verkörpern; die dann wiederkehrt in Lefeu, wenn Améry seine Hauptfigur als »Urbild des Mannes, der nein sagt« bezeichnet, und ihm die »geldgewaltigen« Jasager entgegenstellt.
Das Konstruierte tritt nicht zuletzt hervor, als gerade die Stilisierung darauf angelegt scheint, dass Zeit keine Rolle spiele - und ständig wird die Not mit ihr beklagt. Das gilt auch für andere Adressaten, denen Améry nicht so eng verbunden war, etwa Inge Werner, die mit ihm nach der Lektüre von Jenseits von Schuld und Sühne Kontakt aufnahm, und deren Gewissensnot über ihre glückliche Kindheit als nichtjüdisches Mädchen im Nationalsozialismus der berühmte, dafür zuständige Autor zu besänftigen sucht. Durch Amérys Buch konnte Inge Werner die Situation ihres jüdischen Mannes mit einem Mal verstehen - »seine Ressentiments und die Solidarität mit seinem Volk angesichts der immerwährenden Bedrohung. Besser als je zuvor begreife ich auch sein Unbehagen in diesem blühenden Land Deutschland, in dem er um meinetwillen lebt, ich verstehe, weshalb er nicht froh ist und es wohl niemals mehr sein kann, so sehr ich das für ihn gewünscht hätte [...].« (An JA, 7.3.1967) Das Formelhafte mancher Antworten Amérys auf solche Briefe ist nicht zuletzt der Ökonomie des ohnehin prekären Arbeitsalltags geschuldet, die es kaum zuließ, die sprachliche Kraft der Essays auch für den Briefwechsel aufzubieten. Über Werner selbst ist nur wenig bekannt, sie schrieb zahllose Briefe an Améry und begab sich später, nach der Trennung von ihrem Mann, in psychiatrische Behandlung. Améry bemühte sich, ihr regelmäßig zu antworten, aber an seinen Briefen insbesondere der späteren Zeit ist deutlich, dass er es mehr und mehr als beinahe quälende Verpflichtung empfand, der Unglückseligen beizustehen.
Von den Briefen an Mary Cox-Kitaj konnte kein einziger aufgefunden werden - ihr Verschwinden mag sogar ein Indiz dafür sein, wie groß das Gewicht dieser Liebesbeziehung in den letzten zehn Jahre von Amérys Leben war. Cox-Kitaj, 1924 geboren und in früheren Jahren - wie Maria Leitner und Inge Werner - mit einem Mann jüdischer Herkunft verheiratet (mit dem aus Wien stammenden Bill Kitaj, der 1966 tödlich verunglückte; vgl. B S. 341f.), war Amerikanerin, Assistant Professor of German an der Idaho University, und hatte einst in US-Militäruniform für die Reeducation der Deutschen gearbeitet. So ist auch in dieser Hinsicht kaum anzunehmen, dass in den »verlorenen« Briefen an sie irgendetwas vom Tonfall zu hören wäre, mit dem sich Améry angestrengt begütigend an Inge Werner wendet.
Mit Erich Schmid, dem anderen Freund aus dem Wien der dreißiger Jahre, wechselt Améry nicht nur seltener Briefe als mit Ernst Mayer, in ihnen ist auch eine durchaus andere Atmosphäre spürbar. Urbanität erscheint in der knappen Form, die hier dominiert, noch unverkrampft. Als wäre Austausch von Erfahrungen nicht möglich oder im Gegenteil nicht nötig, bleiben die Korrespondierenden offenbar von vornherein zurückhaltend, weil aufeinander noch in der Distanz vertrauend. Mit dem Pariser Freund, der selbst als Jude vom Nationalsozialismus verfolgt und aus Österreich vertrieben worden war, gab es nichts Verlorenes zu rekonstruieren, die Erfahrungen, die sie verbanden, waren beiden vermutlich so gegenwärtig, dass darüber kaum zu sprechen war, es genügte, »ein ganz klein wenig« zu korrespondieren, »damit man sich nicht aus den Augen verliert« (an Erich Schmid, 3.6.1971). Das in seiner Abgeschlossenheit und Autonomie faszinierende Leben in der Malerei, das Erich Schmid führte, konnte nur durch die Distanz des Roman-Essays nachvollzogen werden, während Erich Schmid seinerseits ganz ungezwungen Améry seine Erfahrungen mit dessen schwierigsten Büchern dartun konnte. [...]

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Autor

Jean Améry, im Oktober 1912 als Hans Mayer in Wien geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Intellektuellen der sechziger und siebziger Jahre. Seine bahnbrechenden Essays sind in ihrer Bedeutung vielleicht nur mit den Schriften Hannah Arendts und Theodor W. Adornos zu vergleichen. Als Reflexion über die Existenz im Vernichtungslager stehen sie vermutlich Primo Levis Büchern am nächsten. Zugleich jedoch hat Améry wie kaum ein anderer Intellektueller die deutsche Öffentlichkeit mit französischen Denkern und Schriftstellern bekannt gemacht und konfrontiert.Jean Améry starb im Oktober 1978 durch eigene Hand.Von Irene Heidelberger-Leonard ist bei Klett-Cotta eine Biographie von Jean Améry erschienen.Bei Klett-Cotta erscheint die neunbändige, reich kommentierte Werkausgabe mit zahlreichen noch nicht veröffentlichten Texten. Damit besteht zum ersten Mal ein Gesamtüberblick über das vielseitige Werk Amérys.