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Das Salz

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am14.07.2014
Louise, die Witwe eines südfranzösischen Fischers, lädt ihre drei erwachsenen Kinder und ihre übrige Familie zu einem Abendessen. Je näher das geplante Familientreffen rückt, desto mehr Erinnerungen an Vergangenes werden wach. Eifersucht, Verbitterung, zärtliche Melancholie, aber auch verzweifeltes Bedauern über Geschehenes beginnen die Geladenen einzuholen. Die Vergangenheit entwickelt ein Eigenleben, Erinnerungen bringen immer neue, andere Erinnerungen hervor, und aus diesen inzestuösen Vereinigungen entstehen Fabeln, bis sich am Ende auch der verstorbene Armand, Tyrann und gewalttätiger Vater, zu Wort zu melden scheint: »So ist es nun mal, die Lebenden verformen das Gedächtnis der Toten, nie sind sie weiter von ihrer Wahrheit entfernt.«

Jean-Baptiste Del Amo, 1981 in Toulouse geboren, lebt in Montpellier. Für seinen Debütroman »Die Erziehung« wurde er 2009 mit dem Goncourt du Premier Roman ausgezeichnet. Er war Stipendiat der Villa Medici in Rom.
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Produkt

KlappentextLouise, die Witwe eines südfranzösischen Fischers, lädt ihre drei erwachsenen Kinder und ihre übrige Familie zu einem Abendessen. Je näher das geplante Familientreffen rückt, desto mehr Erinnerungen an Vergangenes werden wach. Eifersucht, Verbitterung, zärtliche Melancholie, aber auch verzweifeltes Bedauern über Geschehenes beginnen die Geladenen einzuholen. Die Vergangenheit entwickelt ein Eigenleben, Erinnerungen bringen immer neue, andere Erinnerungen hervor, und aus diesen inzestuösen Vereinigungen entstehen Fabeln, bis sich am Ende auch der verstorbene Armand, Tyrann und gewalttätiger Vater, zu Wort zu melden scheint: »So ist es nun mal, die Lebenden verformen das Gedächtnis der Toten, nie sind sie weiter von ihrer Wahrheit entfernt.«

Jean-Baptiste Del Amo, 1981 in Toulouse geboren, lebt in Montpellier. Für seinen Debütroman »Die Erziehung« wurde er 2009 mit dem Goncourt du Premier Roman ausgezeichnet. Er war Stipendiat der Villa Medici in Rom.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641134044
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum14.07.2014
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2087 Kbytes
Artikel-Nr.1455487
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



LOUISE

Sie erwachte in der festen Überzeugung, die Kinder schliefen noch. Dann schlich sich der Gedanke an das Abendessen in ihr Bewusstsein und mit ihm das Gefühl dieser Präsenz, der Präsenz der Kinder in ihren Betten am anderen Ende des Flurs, ihre unter die Decken verkrochenen Körper.

Durch das Fenster glitt ein zerfasertes Licht, das sich an der Kommodenecke brach. Das Zimmer lag im Morgengrauen. Den Lärm der Wellen konnte sie im Haus nicht hören, aber die Schreie der Möwen drangen zu ihr. Wenn die Fensterläden nicht geschlossen waren und sie am Morgen auf der Seite lag, das Gesicht zum Fenster gedreht, dann war eines der ersten Bilder, das sie sah, wenn sie die Augen aufschlug, der hohe Flug der Vögel im Himmelviereck in der Wand. Manchmal zog stockend ein Wolkenstreifen vorüber. War der Morgen grau, sah Louise einen Widerschein des Meeres, Schaum, der weiß oder gar schwarz sein konnte. Ganz unabhängig von der Wetterlage beherrschten die Vögel die Stadt. Was den Menschen der See auch zustoßen mochte, gleichgültig durchschnitten sie den Himmel. Ihre Unbeirrtheit gefiel ihr, nichts konnte sie davon abhalten, ihre Schleifen zu ziehen. Meist nahm sie ihre Schreie nicht wahr, die Gewohnheit verschmolz sie zu einer vertrauten, eintönigen Kulisse, doch heute Morgen legten sie sich doppelt ins Zeug, sie aus dem Schlaf zu reißen. Vielleicht war es auch der Wind, der Richtung Haus blies und das Konzert bis zu ihr trug. Oder vielleicht war es die Unruhe wegen des Essens, die sie schon die ganze Nacht geplagt hatte.

Sie hatte geträumt, sie säßen alle um einen Küchentisch herum. Es war nicht ihre Küche, aber sie war ihr vertraut. Armand unterhielt sich mit den Kindern. Sie sah ihre Gesichter nicht und konnte ihr Alter nicht bestimmen. Auch Armands Worte waren undeutlich; das verunsicherte sie, sie bildete sich ein, sie sprächen über sie, beanstandeten das Essen oder den Zustand des Hauses. Dann fiel ihr das Schlappern ihrer Schritte auf, wenn sie zwischen Tisch und Spüle hin- und herging. Louise senkte den Blick und sah, wie sich über die Fliesen unter dem Tisch eine Wasserpfütze ausbreitete, ohne dass jemand Notiz davon nahm. Armand murmelte weiter unverständliche Worte vor sich hin, und die Kinder saßen reglos und verängstigt da. Das Wasser machte ihr Angst, es stieg immer weiter an und hatte bald ihre Knöchel erfasst. Louise forderte die Kinder auf, etwas zu unternehmen, ihr zu sagen, was da vor sich ging, doch keiner antwortete ihr, alle starrten wie versteinert Armand an. Sie erinnerte sich, wie sehr die Vorstellung sie erschreckte, dass das Wasser, das weiter anstieg, den Tisch, das Essen und die ganze Familie zu überschwemmen drohte. Da die andern tatenlos blieben, suchte Louise in allen Richtungen nach der undichten Stelle und entdeckte zu ihrer Verblüffung, dass all das Wasser aus Armand herausfloss. Es floss aus seinen Hosenbeinen, aus Kragen und Hemdsärmeln, aus dem Mund, dessen Bewegungen sie nicht sehen konnte.

Dann wurde ihr, wie das manchmal vorkommt in Träumen, die Irrealität der Szene bewusst: Sie musste aufwachen. Armand war tot, die Kinder konnten gar nicht mit ihm am Tisch sitzen. Diese Küche hatte sie frei erfunden. Da stand kein Wasser bis zu ihren Knien. Mehrmals hintereinander musste sie sich in der Nacht vor dem Essen aus diesem Traum reißen. Sie erwachte in der Feuchte der Laken, um gleich darauf in einen ähnlichen Traum zurückzufallen.

*

Dass die Kinder noch im Bett liegen konnten, obwohl sie schon seit Jahren aus dem Haus waren und am selben Abend das von ihr initiierte Essen stattfinden sollte, störte sie nicht. Diese Absurdität, der jede zeitliche Logik fehlte, verschaffte ihr ein Glücksgefühl, ähnlich wie damals, als die Kinder am Morgen, nachdem Armand zum Hafen hinuntergegangen war, zu ihr ins Zimmer geschlüpft kamen. Kaum waren sie aufgewacht, krochen sie unter ihre Laken und umgaben sie mit ihrem lauwarmen Fleisch. Die Schlaftrunkenheit erlaubte es Louise, diese Szene noch einmal zu durchleben. Sie musste dem Augenblick entfliehen, sich vom Dämmerzustand tragen lassen, um sich am Leben zu fühlen. Sie versuchte den Eindruck ihrer Anwesenheit auszudehnen, doch während die Rollos Lichtlamellen formten und auf ihren gebeugten Arm rotbraune Streifen malten, setzte sich allmählich die Realität des Zimmers durch. Nur widerwillig löste sich Louise von der Vorstellung der Betten, der verschlafenen Gesichter ihrer Kinder im Türrahmen. Das Haus ringsum hatte die Stille und Unbeweglichkeit von Stelen. Von ihrem Zimmer aus sah sie das Labyrinth der Zimmer vor sich, und es kam ihr vor, eine Ruine, ein viel zu großes Wrack zu bewohnen. Schon andere haben versucht, die Leere zu beschreiben, die die Abschiede hinterlassen.

Louise setzte sich auf den Bettrand. Das Nachthemd rutschte ihr über die Schenkel. Sie strich mit der Fußsohle über den Teppich. Sie beschloss, die Fenster weit zu öffnen, vor dem Abend den Teppich auszuklopfen, zum Markt zu gehen, nahm sich all diese belanglosen Dinge vor, mit denen Frauen ihres Alters sich herausputzten. Der Besuch der Kinder machte ihr Angst. Ihre Anwesenheit im Haus war schmerzhaft für sie. Dabei war es ihr Wunsch, sie kamen auf ihre Bitte heute Abend, doch sie wirkten brutal in diesen Räumen, so riesenhaft, dass Louise zu zweifeln begann, ob sie sie wirklich zur Welt gebracht hatte, und sie wie Fremde wahrnahm. Aber das war, so sagt man, nichts Ungewöhnliches, Kinder beginnen sich, sobald sie aus dem Mutterleib heraus sind, zu entfernen, zusehends unabhängiger und fremder zu werden. Louise verfolgte den Gedanken nicht weiter, beobachtete stattdessen durch das Fenster, wie es Tag wurde, und überlegte, was als Nächstes zu tun war.

Schon am Tag zuvor hatte in den Fingern wieder diese Spannung angefangen, die vertraute und gefürchtete Steifheit in den Händen. Es begann, nachdem sie mit Jonas telefoniert hatte. Als sie auflegen wollte und der Hörer ihr aus der Hand glitt, wusste sie, dass es wieder so weit war. In der Nacht wurde es schlimmer, vielleicht war das schuld an den wirren Träumen. Louise nahm die Teufelskrallenkapseln aus der Nachttischschublade, obwohl sie wusste, dass sie eigentlich die Entzündungshemmer nehmen sollte. Schon kam es ihr vor, als stäche ein Metalldraht durch die Haut ihrer Finger und bohre sich beharrlich in jedes ihrer Gelenke. Ihre Bewegungen wurden unbeholfen.

Der Besuch der Kinder erregte sie aber auch; inzwischen fühlte sie sich hellwach und wollte sich von dem Ziehen in den Fingern nicht unterkriegen lassen. Ein außerordentliches Ereignis kann den banalen Stunden, die ihm vorausgehen, einen besonderen Reiz verleihen oder sie durch den Kontrast noch schaler erscheinen lassen. Schon bevor sie da waren, gaben die Kinder dem Tag Konturen, die es Louise erlaubten, ihren Alltag anzugehen. Gewöhnlich beherrschte die Langeweile ihre Tage. Die Gewohnheit verschmolz sie miteinander. Sie beklagte sich nicht und verlangte nichts weiter. Die Langeweile durchzog ihre ganze Existenz. Ihr Leben bestand bei genauerem Nachdenken aus einer Landschaft ohne Unebenheiten, ohne diese besonderen Momente, an die man sich gerne zurückerinnerte, ohne einen Vorsprung, von dem aus man alles unter einem neuen Blickwinkel betrachten konnte. Ein Bild nach dem andern schob sich an die Schwelle ihres Bewusstseins und rollte, vom nächsten verdrängt, zurück, ohne dass eine Welle größer gewesen wäre als eine andere. Diese Existenz konnte genauso gut eine Ewigkeit oder eine Sekunde dauern. Sie musste an die Gischt denken, von der Armand stets bedeckt war, wenn er vom Hafen zurückkehrte. Das kam bestimmt von der Gewissheit, dass hinter dem Fenster, weiter unten, gleichzeitig mit ihr der Hafen erwachte falls er überhaupt jemals schlief. Louise sah die Netze vor sich, die gespannt und dann auf die Fischkutter gehievt wurden, die Geschäftigkeit der Seeleute, hörte ihre sich ereifernden Stimmen, nahm den Geruch ihrer Haut wahr, ihrer Hände, die von den Fischeingeweiden eisern rochen. Sie hatte diese immer von Neuem entfachte Begeisterung für das Meer nie verstanden. Die Männer gehen zum Meer, wie sie zu den Frauen gehen, werden der Frauen überdrüssig, nie aber der See. Sie dachte an Armand, ohne wirklich an ihn zu denken; die Verstorbenen sind stets in uns. Sie sind kein Bild, sondern ein unauslöschlicher Abdruck, ein Schleier, der zwischen uns und der Welt liegt und sie mit einer bitteren Melancholie tönt. Nichts mehr erreichte sie, kein Bild, kein Ton, kein Gefühl, das nicht durch die Erinnerung an Armand gefärbt war.

Louise stand auf und streifte sich einen Morgenmantel über, schlüpfte in die Pantoffeln, die sie stets ans Fußende des Bettes stellte, dann spannte sie Laken und Decken, strich notdürftig die Daunendecke zurecht. Sie nahm den Raum ringsum nicht mehr wahr, die engen, ergrauten Wände, die groben beigefarbenen Teppichmaschen; es war ein altmodisches Schlafzimmer, das mit seinen bräunlichen Tapetenbahnen im hereinfallenden Licht wie ein Polaroid-Dekor wirkte. Ihre Finger fühlten sich wie Krallen an. Louise dachte daran, wie Armand die Kinder eins nach dem anderen aus ihren Betten gezerrt hatte. Und ihr die laxe Haltung vorgeworfen hatte:

Ich will nicht, dass meine Rangen ständig an den Rockschößen ihrer Mutter hängen.

Er war im Zimmer aufgetaucht, in sein Seemannsschweigen gehüllt so bezeichnete Louise die Undurchdringlichkeit, hinter der er so oft verschwand, um sich durch nichts mehr erreichen zu lassen , marschierte auf das Bett zu, riss wütend an den Laken und versuchte aufs Geratewohl Arme oder Beine der Kinder zu fassen. Erst hatten sie gelacht, und sie mit ihnen, dachten, es sei ein Spiel, aber Louises Lachen brach rasch ab, denn sie erkannte, was die Kinder noch...


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Autor

Jean-Baptiste Del Amo, 1981 in Toulouse geboren, lebt in Montpellier. Für seinen Debütroman »Die Erziehung« wurde er 2009 mit dem Goncourt du Premier Roman ausgezeichnet. Er war Stipendiat der Villa Medici in Rom.