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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
342 Seiten
Deutsch
Matthes & Seitz Berlin Verlagerschienen am13.06.20131. Auflage
'Wie tritt man einen Weg in unberührten Schnee?' Schalamows Erzählungen gehören zu den herausragendsten Leistungen der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Autor geht darin einer Schlüsselfrage unserer Gegenwart nach: Wie können Menschen, die über Jahrhunderte in der Tradition des Humanismus erzogen wurden, Auschwitz, Kolyma hervorbringen? Schalamow zieht den Leser der Erzählungen aus Kolyma, deren erster Zyklus in diesem Buch versammelt ist, in die Gegenwart des Lageralltags hinein, ohne Hoffnung auf einen Ausweg: 'Viele Kameraden sind gestorben. Aber etwas, das stärker ist als der Tod, ließ ihn nicht sterben. Liebe? Erbitterung? Nein. Der Mensch lebt aus denselben Gründen, aus denen ein Baum, ein Stein, ein Hund lebt.'

Warlam Schalamow, 1907 im nordrussischen Wologda als Sohn eines orthodoxen Geistlichen geboren, studierte zunächst sowjetisches Recht in Moskau. Nach seiner Verhaftung wegen »konterrevolutionärer Agitation« wurde er zu Lagerhaft im Ural verurteilt und in die Kolyma-Region um den gleichnamigen Fluss im Nordosten Sibiriens deportiert. 1956 kehrte er nach Moskau zurück, wo er 1982 starb. Bei Matthes & Seitz Berlin erscheint eine Ausgabe seiner Werke in Einzelbänden.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,80
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR21,99

Produkt

Klappentext'Wie tritt man einen Weg in unberührten Schnee?' Schalamows Erzählungen gehören zu den herausragendsten Leistungen der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Autor geht darin einer Schlüsselfrage unserer Gegenwart nach: Wie können Menschen, die über Jahrhunderte in der Tradition des Humanismus erzogen wurden, Auschwitz, Kolyma hervorbringen? Schalamow zieht den Leser der Erzählungen aus Kolyma, deren erster Zyklus in diesem Buch versammelt ist, in die Gegenwart des Lageralltags hinein, ohne Hoffnung auf einen Ausweg: 'Viele Kameraden sind gestorben. Aber etwas, das stärker ist als der Tod, ließ ihn nicht sterben. Liebe? Erbitterung? Nein. Der Mensch lebt aus denselben Gründen, aus denen ein Baum, ein Stein, ein Hund lebt.'

Warlam Schalamow, 1907 im nordrussischen Wologda als Sohn eines orthodoxen Geistlichen geboren, studierte zunächst sowjetisches Recht in Moskau. Nach seiner Verhaftung wegen »konterrevolutionärer Agitation« wurde er zu Lagerhaft im Ural verurteilt und in die Kolyma-Region um den gleichnamigen Fluss im Nordosten Sibiriens deportiert. 1956 kehrte er nach Moskau zurück, wo er 1982 starb. Bei Matthes & Seitz Berlin erscheint eine Ausgabe seiner Werke in Einzelbänden.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783882211290
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2013
Erscheinungsdatum13.06.2013
Auflage1. Auflage
Reihen-Nr.1
Seiten342 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1292 Kbytes
Artikel-Nr.2872190
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Auf Ehrenwort

Sie spielten Karten beim Pferdetreiber Naumow. Die diensthabenden Aufseher schauten niemals in die Baracke der Pferdetreiber, sie fanden zu Recht, ihre Hauptaufgabe bestehe in der Überwachung der nach Artikel 58 Verurteilten. Den Konterrevolutionären aber wurden die Pferde in der Regel nicht anvertraut. Insgeheim allerdings murrte die praktisch denkende Leitung: sie kam um die besten, sorgfältigsten Arbeiter, doch die Vorschrift war in dieser Hinsicht eindeutig und streng. Kurz, bei den Pferdetreibern war man am sichersten, und dort trafen sich die Ganoven jede Nacht zu ihren Kartenduellen.

In der rechten Ecke der Baracke waren auf der unteren Pritsche bunte Steppdecken ausgebreitet. Am Eckpfosten war mit Draht eine brennende »Kolymka« befestigt, ein selbstgemachtes Benzindampflämpchen: Auf den Deckel einer Konservendose wurden drei, vier offene Kupferröhrchen gelötet, das war die ganze Vorrichtung. Damit die Lampe brannte, legte man heiße Kohle auf den Deckel, das Benzin wurde warm, der Dampf stieg durch die Röhrchen auf, und das Benzingas, mit einem Streichholz angesteckt, brannte.

Auf den Decken lag ein schmutziges Daunenkissen, und zu seinen beiden Seiten, die Beine auf Burjatenart untergeschlagen, saßen die Spieler - die klassische Pose der Kartenschlacht im Gefängnis. Auf dem Kissen lag ein nagelneues Kartenspiel. Das waren keine gewöhnlichen Karten, es war ein selbstgemachtes Gefängnisspiel, das die Meister dieses Handwerks in erstaunlicher Schnelligkeit herstellten. Zu dieser Herstellung brauchte man Papier (ein beliebiges Buch), ein Stück Brot (zum Zerkauen und Durchdrücken zur Gewinnung von Stärke - zum Zusammenkleben der Seiten), einen Kopierstift (anstelle von Druckfarbe) und ein Messer (zum Ausschneiden der Farbschablonen und der Karten selbst).

Die heutigen Karten waren gerade aus einem Bändchen Victor Hugo geschnitten, gestern hatte jemand das Buch im Kontor liegenlassen. Das Papier war fest und dick, man brauchte die Seiten nicht zusammenzukleben, wie man es bei dünnem Papier tut. Im Lager wurden bei allen Durchsuchungen strikt die Kopierstifte konfisziert. Auch bei der Kontrolle von eingehenden Paketen wurden sie eingezogen. Das tat man nicht nur zur Unterbindung der möglichen Herstellung von Dokumenten und Stempeln (auch diese Kunst beherrschten viele), sondern auch zur Vernichtung jeglicher Konkurrenz mit dem staatlichen Kartenmonopol. Aus den Kopierstiften wurde Tinte gemacht, und mit der Tinte trug man durch die vorgeschnittene Papierschablone die Muster auf die Karte auf - Damen, Buben, Zehner aller Farben... Die Spielkartenfarben unterschieden sich nicht nach rot und schwarz, und der Spieler braucht diesen Unterschied auch nicht. Beim Pik-Buben zum Beispiel saß der Spieß an zwei entgegengesetzten Ecken der Karte. Verteilung und Form der Muster blieben über Jahrhunderte gleich - die eigenhändige Herstellung von Spielkarten gehört zur »Ritter«erziehung des jungen Ganoven.

Das nagelneue Kartenspiel lag auf dem Kissen, und einer der Spieler schlug seine schmutzige Hand mit den feinen weißen, unabgearbeiteten Fingern darauf. Der Nagel des kleinen Fingers war von übernatürlicher Länge - ein Ganoven-Schick, genauso wie die »Stifte«, Gold-, d.h. Bronzekronen, die auf völlig gesunde Zähne gesetzt werden. Es gab sogar Meister, selbsternannte Zahnprothesenmacher, die mit der Herstellung solcher ständig gefragten Kronen nicht wenig dazuverdienten. Was die Nägel betrifft, so hätte sich ihr farbiges Lackieren zweifellos in der Verbrecherwelt eingebürgert, wenn man im Gefängnis Lack hätte herbeischaffen können. Der gepflegte gelbe Nagel glänzte wie ein Edelstein. Mit der linken Hand fuhr sich der Herr des Nagels durch das verklebte und schmutzige helle Haar. Er hatte einen makellosen »Fassonschnitt«. Die niedrige, vollkommen faltenlose Stirn, die gelben Büschel der Augenbrauen, das aufgeworfene Mündchen - all das verlieh seiner Physiognomie eine für das Äußere eines Diebes wichtige Eigenschaft: Unauffälligkeit. Das Gesicht war so, daß man es sich nicht merken konnte. Man schaute es an und vergaß es, verlor alle Züge, und beim nächsten Mal erkannte man es nicht wieder. Das war Sewotschka, eine berühmte Koryphäe für Terz, Stoß und Bura, die drei klassischen Kartenspiele, ein begeisterter Exeget Tausender Regeln des Kartenspiels, deren strenge Beachtung in einer echten Schlacht zwingend ist. Von Sewotschka hieß es, daß er »vorzüglich Kommers mache« - das heißt, Können und Geschicklichkeit eines Falschspielers zeige. Und er war auch ein Falschspieler, selbstverständlich; ehrliches Ganovenspiel ist ja Spiel auf Betrug: paß auf und überführ deinen Partner, das ist dein Recht, sieh zu, selbst zu betrügen, sieh zu, dich gegen einen zweifelhaften Gewinn zu verwahren.

Es spielten immer zwei, Mann gegen Mann. Keiner der Meister erniedrigte sich durch die Teilnahme an Gruppenspielen wie Siebzehn und Vier. Gegen starke »Kommerzianten« anzutreten fürchteten sie nicht - auch im Schach sucht ein echter Kämpfer stets den stärkeren Gegner.

Sewotschkas Partner war Naumow selbst, der Brigadier der Pferdetreiber. Er war älter als sein Partner (wie alt war übrigens Sewotschka, zwanzig? dreißig? vierzig?), ein schwarzhaariger Bursche mit einem solchen Dulderausdruck in den tiefliegenden Augen, daß ich ihn, hätte ich nicht gewußt, daß Naumow ein Eisenbahndieb aus dem Kubangebiet ist, für einen Wallfahrer gehalten hätte - einen Mönch oder ein Mitglied der Sekte »Gott weiß es«, einer gewissen Sekte, die nun schon einige Jahrzehnte in unseren Lagern anzutreffen ist. Dieser Eindruck verstärkte sich beim Anblick der Schnur mit Zinnkreuzchen, die um Naumows Hals hing - sein Hemdkragen stand offen. Dieses Kreuzchen war keineswegs ein lästerlicher Scherz, eine Grille oder Improvisation. Zu jener Zeit trugen alle Ganoven Aluminiumkreuzchen um den Hals - das war ein Erkennungszeichen des Ordens, wie eine Tätowierung.

In den zwanziger Jahren trugen die Ganoven Ingenieursmützen, noch früher Kapitänsmützen. In den vierziger Jahren trugen sie im Winter kubanki und krempelten die Schäfte der Filzstiefel um, und um den Hals trugen sie ein Kreuz. Das Kreuz war gewöhnlich glatt, doch wenn Künstler da waren, zwang man sie, beliebte Motive darauf einzuritzen: ein Herz, eine Spielkarte, ein Kreuz, eine nackte Frau... Naumows Kreuz war glatt. Es hing auf Naumows dunkler nackter Brust und störte beim Lesen der blauen Tätowierung - einem Vers von Jessenin, dem einzigen von der Verbrecherwelt anerkannten und kanonisierten Dichter:

Wie wenig Weg zurückgelegt;

Und wieviel Fehler schon begangen.

»Was setzt du?«, murmelte Sewotschka mit unendlicher Verachtung zischen den Zähnen: auch das galt als guter Ton bei Spielanfang.

»Die Klamotten hier. Diese Kluft...« Und Naumow klopfte sich auf die Schultern.

»Ich setze fünfhundert«, veranschlagte Sewotschka den Anzug.

Als Antwort ertönte ein wortreiches Geschimpfe, das den Gegner vom erheblich höheren Wert des Stücks überzeugen sollte. Die die Spieler umringenden Zuschauer erwarteten geduldig das Ende dieser traditionellen Ouvertüre. Sewotschka blieb nichts schuldig und schimpfte noch giftiger, um den Preis zu drücken. Schließlich wurde der Anzug mit tausend veranschlagt. Sewotschka seinerseits setzte ein paar getragene Pullover. Nachdem die Pullover veranschlagt und sofort auf die Decke geworfen waren, mischte Sewotschka die Karten.

Garkunow, ein ehemaliger Textilingenieur, und ich sägten für Naumows Baracke Holz. Das war Nachtarbeit - nach unserem Arbeitstag in der Mine mußten wir Holz für vierundzwanzig Stunden sägen und hacken. Gleich nach dem Abendessen verschwanden wir bei den Pferdetreibern - hier war es wärmer als in unserer Baracke. Nach der Arbeit goß uns Naumows Barackendienst kalte »Brühe« in unser Kochgeschirr - den Rest des einzigen, des Stammgerichts, das in der Kantine »ukrainische Mehlklößchen« hieß, und gab uns jedem ein Stück Brot. Wir setzten uns irgendwo in der Ecke auf den Boden und vertilgten das Verdiente schnell. Wir aßen in völliger Dunkelheit - die Barackenfunzeln beleuchteten das Kartenfeld, doch der Löffel, so die treffende Beobachtung erfahrener Gefängnisinsassen, findet immer zum Mund. Jetzt sahen wir dem Spiel von Sewotschka und Naumow zu.

Naumow hatte seine »Kluft« verspielt. Hose und Jackett lagen neben Sewotschka auf der Decke. Jetzt wurde um das Kissen gespielt. Sewotschkas Fingernagel zeichnete in der Luft komplizierte Muster. Die Karten waren mal in seiner Hand verschwunden, mal tauchten sie wieder auf. Naumow saß im Unterhemd - der Satin-Russenkittel war den Hosen gefolgt. Dienstfertige Hände legten ihm eine Wattejacke um die Schultern, doch er warf sie mit einer schroffen Bewegung zu Boden. Plötzlich wurde alles still. Sewotschka kratzte gemächlich mit dem Nagel...
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Kritik
"Wer Schalamows Geschichten gelesen hat, der vergisst - ob er will oder nicht - nie mehr."[Quelle: Daniel Kehlmann, Cicero, September 2007]"Ein Buch, vor dem ich am liebsten in die Knie gehen würde. Es ergreift einen zutiefst. Eine der intensivsten Leseerfahrungen der letzten Jahre."[Quelle: Iris Radisch, Literaturclub, 16. Oktober 2007]"Eine Werkausgabe bringt dem deutschen Publikum endlich den großen Gulag-Erzähler Warlam Schalamow nahe."[Quelle: Rainer Traub, Der Spiegel, September 2007]mehr

Autor

Warlam Schalamow, 1907 im nordrussischen Wologda als Sohn eines orthodoxen Geistlichen geboren, ging 1924 nach Moskau, um dort "sowjetisches Recht" zu studieren. 1929 wurde er wegen "konterrevolutionärer Agitation" zu Lagerhaft im Ural verurteilt. 1931 kehrte er nach Moskau zurück, wo er 1937 zum zweiten Mal verhaftet wird. Es folgte die Deportierung in die Kolyma-Region um den gleichnamigen Fluss im Nordosten Sibiriens. 1956 durfte er nach Moskau zurückkehren, wo er 1982 starb.