Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Die Toten von Marburg

TaschenbuchKartoniert, Paperback
Deutsch
Alea Libris Verlagerschienen am22.03.2024
Der Tod geht um in Annaburg!Ausgerechnet in der Hauptstadt des Goldenen Reiches töten immer öfter Frauen wehrlose Männer. Handelt es sich dabei wirklich um tragische Einzelfälle oder steckt eine Verschwörung dahinter?Während Spezialgardistin Magret alles tut, um die Männer Annaburgs zu beschützen, bahnt sich in ihrem Rücken eine Katastrophe an, die ihr Leben für immer verändern soll. Von mir bekommt Die Toten von Marburg eine absolute Leseempfehlung, die atmosphärisch dichte Geschichte hat mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt, mit dem Ende hatte ich in dieser Form absolut nicht gerechnet. Manuela Hahn, Das Bücherhausmehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR15,90
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR4,99

Produkt

KlappentextDer Tod geht um in Annaburg!Ausgerechnet in der Hauptstadt des Goldenen Reiches töten immer öfter Frauen wehrlose Männer. Handelt es sich dabei wirklich um tragische Einzelfälle oder steckt eine Verschwörung dahinter?Während Spezialgardistin Magret alles tut, um die Männer Annaburgs zu beschützen, bahnt sich in ihrem Rücken eine Katastrophe an, die ihr Leben für immer verändern soll. Von mir bekommt Die Toten von Marburg eine absolute Leseempfehlung, die atmosphärisch dichte Geschichte hat mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt, mit dem Ende hatte ich in dieser Form absolut nicht gerechnet. Manuela Hahn, Das Bücherhaus
Details
ISBN/GTIN978-3-98827-012-2
ProduktartTaschenbuch
EinbandartKartoniert, Paperback
FormatPaperback (Deutsch)
ErscheinungslandDeutschland
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum22.03.2024
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.55827631
Rubriken

Inhalt/Kritik

Leseprobe
PrologDie Erkenntnis, welche Person hinter all den Morden steckt, legt sich nicht sanft auf mich, sondern trifft mich mit der Wucht eines Steinmagieschlags. Ich muss meine eigene Magie nicht befragen, um festzustellen, dass all das auf einmal fürchterlich Sinn ergibt. Es war die ganze Zeit da, direkt vor unseren Nasen. Vor unseren Augen und Ohren, doch wir sahen nicht hin und wir hörten nicht zu.Mir ist schwindelig. Meine Gedanken kreisen. Wie viele könnten noch leben, wenn wir unseren verdammten Job besser gemacht hätten?Wenn, falls, hätte.Dann, wie ein Lichtstrahl, der finstere Gewitterwolken durchbricht, ein Gedanke: Einen von ihnen kann ich retten! Und mehr muss ich auch gar nicht retten! Nur den nächsten Mann und damit sie alle.Ich renne los.Kapitel 1EinsDie Person, die an mir vorbei ins Badezimmer wankt, bietet keinen erfreulichen Anblick. Ihr Haar ist fettig und verknotet. Unter ihren Augen sind tiefe Ränder. Ihre Kleidung ist ungepflegt, ihr Geruch streng. Ihr Blick ist leer und lässt nicht erkennen, ob sie mich überhaupt wahrgenommen hat. Ihre Schritte wirken unsicher, sind es aber nicht. Nur unendlich müde. Ich reibe mir die Augen in dem Versuch, das Unbehagen, das die Schwester meiner Mitbewohnerin Frenja in mir auslöst, abzuschütteln. Ich weiß, dass Antje nichts dafür kann. Sie wurde Opfer einer der grausamsten Taten, zu der je ein Mensch im Goldenen Reich fähig war. Dennoch.Meine Magie, so unförmig und ungenau sie auch sein mag, reagiert hochempfindlich auf alles, was nicht in Ordnung ist. Sei es eine plumpe Lüge, eine kleine Unehrlichkeit, wie der ungeliebten Nachbarin einen guten Tag zu wünschen oder eben das Unwohlsein anderer Personen. Wenn etwas nicht im Einklang ist, fühlt sich mein ganzer Körper falsch an. Dann schieben sich schwarze Wolken vor mein Gemüt, mein Magen fängt an zu grummeln. Je falscher die Situation, desto größer meine Übelkeit.Nein, das ist so auch nicht richtig. Ein kleiner Schwindel versetzt zwar meine Magie in Alarmbereitschaft, wirkt sich aber noch nicht groß auf mein Gemüt aus. Ich fühle die Lüge, registriere sie und das war`s. Komme ich aber beispielsweise in einen Raum, in dem kurz zuvor ein Unglück stattgefunden hat, könnte ich mich an Ort und Stelle übergeben. Genau die Wirkung hat Frenjas Schwester auf mich. Nichts an oder in ihr ist mehr in Ordnung: Körper, Seele und Geist. Ihr Herz. Nichts ist mehr so, wie es sein sollte. So leid sie mir auch tut, wünschte ich, sie würde nicht so oft bei uns schlafen.Ich höre Frenja, bevor ich sie sehe. Der schmale Flur, der die Zimmer miteinander verbindet, knarrt an einigen Stellen. Es erstaunt mich immer wieder, dass bislang jede Besucherin in unserer Wohnung beim Entlangschreiten des Flurs ein eigenes Klangmuster erstellt hat.»Guten Morgen, Fran.«»Guten Morgen, Magret.« Frenjas Stimme klingt angespannt. Wie immer, wenn Antje da ist oder wir über sie reden. Kein Wunder.Ohne ein weiteres Wort greift Frenja zu der frisch gefüllten Teetasse, die ich ihr rüberschiebe. Nimmt einen Schluck und seufzt.»Sie hat es wieder getan.«»Traumbringer?«, frage ich, obwohl ich bereits die Antwort kenne.Nicken.»Und du hast sie ihr wieder bezahlt.«Unsere dem Inhalt nach vorwurfsvollen Worte klingen emotionslos. Kein Wunder: Wir haben sie schon so oft gesagt, uns gestritten, versöhnt, zusammen geweint und die Welt verflucht. Sämtliche Gefühle, die mit der Situation aufkommen, sind aufgebraucht. Es ist immer dasselbe: Frenja wird spät abends von ihrer weinenden Schwester gerufen. Und kommt dann mit schuldbewusstem Blick und Antje im Arm zurück. Der Traumbringer ragt ein Stück aus ihrer Jackentasche heraus, ganz so, als wolle Frenja sagen: »Hier, Magret, siehst du? Immerhin machen wir es nicht heimlich!«Ich stehe mit stummem Blick da und kann trotz all der Disziplin, die mir Heidrun und meine Ausbilderinnen der Garden beigebracht haben, nicht verhindern, dass ich erst den Kopf schüttele und dann schicksalsergeben die Augen schließe.Ich verstehe sie ja. Hätte ich erlebt, was Antje über sich ergehen lassen musste... Dennoch: Das ist doch kein Leben! Ständiger Taumel zwischen bitterschwarzem Abgrund und der seelenlosen Apathie, die mit dem regelmäßigen Konsum der Traumbringer einhergeht. Was Antje braucht, ist eine Seelenärztin. Zwar war sie auch einmal da, aber es war ihr zu schmerzhaft, all das Erlebte aufzuarbeiten. Also flüchtet sie lieber.»Das ist feige!«, habe ich zu Frenja gesagt und sie hat eine Woche lang nicht mehr mit mir geredet. Weil sie wusste, dass ich recht hatte.Wir trinken schweigend unseren Tee. Aus dem Badezimmer kommen platschende Geräusche. Da Antje keine Magie hat, um sich Wasser aus der Leitung zu ziehen, erledige ich das immer für sie. Sobald ich höre, dass sie sich regt, fülle ich einen großen Eimer für sie und erwärme den Inhalt. Ein Dienst, den Frenja und ich auch einander erweisen, wenn die eine ihre monatlichen magiefreien Tage hat.Meine Freundin und Mitbewohnerin stellt mit einem dumpfen Laut ihre Tasse ab.»Ich muss los. Die Goldene will heute mit uns den Ablauf des Besuchs nächste Woche durchgehen. Morgen soll dann der Probelauf stattfinden.« Sie gähnt. »Als ob wir das nötig hätten. Aber du kennst sie ja!«Das stimmt so nicht und das weiß Frenja. Zwar sind wir beide Goldene Gardistinnen, doch als Spezialermittlerin bekomme ich die mächtigste Hexe im Goldenen Reich oft nur aus der Ferne zu Gesicht. Frenja hingehen gehört zur persönlichen Leibgarde der Goldenen. Wäre ihre Schwester nicht, würde sie wahrscheinlich im Goldenen Schloss leben, das hoch über den Dächern Annaburgs thront.»Nein, ich kenne sie nicht«, sage ich daher und bemühe mich um einen frotzelnden Ton, um die düstere Stimmung zu vertreiben. »Im Gegensatz zu euch sind wir ja schließlich ständig unterwegs. Du weißt schon, um so unwichtige Sachen wie komplizierte Verbrechen oder Morde aufzuklären, anstatt den ganzen Tag im Schloss rumzuhängen.«Frenja grinst.»Wenn du mit Rumhängen meinst, dass wir die wichtigste Person im ganzen Goldenen Reich beschützen, während ihr irgendwelche entlaufenen Ehemänner wieder einsammelt und alten Männern über die Straße helft... «Antje betritt die Küche und unterbricht damit unser freundinnenschaftliches Gestichel. Zwar bin ich froh, dass sie sich mal wieder gewaschen hat, aber ohne frische Kleidung haftet trotzdem der Geruch an ihr. Von Nahem sieht Antje noch erbärmlicher aus. Ich biete ihr einen Tee und Rührei an, doch sie schüttelt nur den Kopf.»Kann ich mich wieder in dein Bett legen und heute hierbleiben?«, fragt sie mit flehendem Blick auf ihre Schwester.Frenja schaut mich an, ich schüttele den Kopf. Auch die Diskussion haben wir schon mehrfach lebhaft geführt. Ich dulde keine Traumbringersüchtige in meiner Wohnung, wenn nicht eine von uns da ist, um sie zu beaufsichtigen.»Zieh dich an, Kleine«, sagt Frenja sanft. »Ich bringe dich auf dem Weg zur Arbeit nach Hause.«Antje nickt, die Enttäuschung ist ihr anzusehen. Verständlich, denn ihr eigenes Zuhause ist nicht viel mehr als ein Loch, das vor Schmutz nur so starrt. Frenja verbringt einen Großteil ihrer Wochenenden damit, alles zu putzen und für sie einzukaufen, nur um eine Woche später die Wohnung wieder dreckig vorzufinden und die verdorbenen Lebensmittel wegzuwerfen.»Ich werde sie niemals im Stich lassen!«, sagt Frenja. Darauf erwidere ich: »Aber genau das tust du, wenn du ihr Verhalten auch noch unterstützt! Du nimmst ihr damit jegliche Verantwortung für ihr Leben ab - wie soll sie da jemals wieder auf die Beine kommen?«»Du verstehst das nicht, du hast ja keine Geschwister! Soll ich sie etwa sterben lassen?«, brüllt Frenja und presst die Lippen zu einem schmalen Spalt zusammen. Das ist ihr äußerster Ausdruck dessen, was sie »Schwäche zeigen« nennt. Jede von uns versteht die andere und kann dennoch nicht aus ihrer Haut. Wir sehen uns jeweils selbst im Recht.Als Frenja und Antje weg sind, versuche ich, die friedliche Stimmung wieder aufleben zu lassen, die ich nach dem Aufstehen verspürt hatte. Vergebens, denn überall hängen Antjes Gefühle des nicht Richtig-Seins in der Luft, dick und klebrig. Den Tee habe ich nur Frenja zuliebe hinuntergewürgt. Sie kennt meine Magie und mich genau. Sie weiß, was sie mir antut, wenn sie ihre Schwester herbringt. Weil sie es trotzdem tut, hat sie permanent ein schlechtes Gewissen, das mein Unwohlsein noch weiter steigert. Eine Scheißsituation, anders kann eine es nicht nennen.Göttin, wenn sich Antje doch bitte endlich helfen lassen würde! Nun, daran kann ich nichts ändern. Also tue ich das Nächstbeste und mache mich auf den Weg zur Arbeit.Ich genieße den Weg zum Goldenen Schloss. Zum Glück kann ich mir etwas mehr Zeit lassen als Frenja. Unterwegs zum Gardegebäude bleibe ich immer wieder stehen, um anderen Frauen, die auf dem Weg zu Arbeit sind, einen Gruß zuzurufen oder mich unter den schnatternden, zum Markt gehenden Männern nach einem hübschen Burschen umzusehen. Unsere Wohnung liegt in einer der zahlreichen engen Gassen in Annaburgs Oberstadt. Quasi mittendrin im Geschehen.Ich fahre ein Stück auf dem magisch betriebenen Gehweg mit, springe aber eine Station früher ab, als ich müsste. Ich mag es, wenn die Stadt langsam erwacht. Später, wenn ich heimkehre, sind die Hausmänner erschöpft von ihrem Tagwerk. So früh am Morgen schenkt mir der ein oder andere ein Lächeln.»Guten Morgen, Magret!«, grüßt mich die Wirtin der Medusa. Ich grüße zurück und notiere mir in Gedanken, bald mal wieder bei ihr einzukehren. Ich könnte dort mit den Mädels in der Mittagspause eine Fleischtasche essen. Das mittlerweile in ganz Annaburg berühmte Gericht verdanken wir einem Fall, an dem ich letztes Jahr beteiligt war: Tief in den sauerländischen Wäldern war eine Frau ermordet worden; alles deutete darauf hin, dass sie auch ein Mann umgebracht haben konnte! Also reiste ich mit einem handverlesenen Team dorthin. Gemeinsam hatten wir den Fall lösen können, auch wenn er uns einiges abverlangt hat. Noch immer schaudere ich, wenn ich an die grausamen Hintergründe denke, die zu dem Mord in der Tränenburg geführt hatten...Im Zuge der Ermittlung hatten wir in Widdersbach in einem Gasthof namens Bastens gewohnt, wo wir das köstliche, mit Fleisch, Salat und Soße gefüllte Fladenbrot für uns entdeckten. Zwar ist es unmöglich, es in Würde zu essen, doch die Wirtin ließ sich von unserer Begeisterung anstecken. Sie verdient dermaßen gut an der Neuentdeckung, dass ich ein Leben lang bei ihr einen Stein im Brett habe. Bei einer Frau ihres Gewerbes ein unschätzbarer Vorteil. Denn vor ihren schnuckeligen Kellnern nimmt kaum eine ein Blatt vor den alkoholgelockerten Mund. Auf die Weise wurden mir schon die interessantesten Informationen zugespielt.Das Gardegebäude liegt direkt neben dem Goldenen Schloss. Ich grüße die beiden wachhabenden Gardistinnen mit einem Nicken. Wie üblich lasse ich die Sicherheitsprozedur über mich ergehen: Ein Tropfen meines Bluts wird in ein Schälchen mit Salzwasser gegeben, daraus formt sich mein persönliches Magiemuster. Mit Hilfe der passenden Musterkarte wird zweifelsfrei durch simples Vergleichen nachgewiesen, dass ich die bin, die ich vorgebe zu sein. Zwar ist Gestaltenwandlungsmagie nicht sonderlich weit verbreitet, doch das macht die wenigen, die dazu in der Lage sind, nur umso gefährlicher. Nachdem meine Identität bestätigt ist, öffnet die linke der beiden, ein braunhaariges Biest namens Mascha, das mich bei unserer letzten Pokerrunde so dermaßen ausgenommen hat, dass es peinlich war, die magische Sperre.Als ich das Gebäude der Goldenen Garde betrete, bessert sich sofort meine Stimmung. Hier ist alles so, wie es sein sollte. Die Gerüche, die Gefühle, die umherschwirren, sogar die Luft selbst fühlt sich richtig an. Ehrlich und gut. Etwas abgestanden, doch vertraut.Meine Abteilung, die Spezialabteilung der Goldenen Garde, der Heidrun von Borgentreich vorsteht, hat eine Etage für sich allein. »Die schöne Heidrun«, wie viele sie hinter ihrem Rücken nennen, ist nur selten im Haus. Als Zweite der Goldenen Garde - Erste ist formell die Goldene Frau höchstpersönlich - ist sie nicht nur für den persönlichen Schutz unserer Staatsobersten zuständig, sondern zudem für die innere Sicherheit im ganzen Reich. Verbrecherinnenbanden fallen ebenso in ihre Verantwortung wie Rebellinnen, die mit ihren unsäglichen Ansichten über die Gleichstellung zwischen Frau und Mann immer wieder für Unruhe sorgen. Nun sollte eine ja glauben, dass Heidrun ständig unterwegs ist, doch die Goldene Frau legt großen Wert darauf, sie in ihrer Nähe zu wissen. In der Rangordnung rangiert an zweiter Stelle offiziell die Silberne Frau und danach die Bronzene. Dann erst Heidrun. Inoffiziell ist jeder mit einem Funken Verstand klar, dass die Bronzene Frau im Grunde nur dafür da ist, offizielle Arbeiten zu übernehmen, für die die Ranghöheren keine Zeit oder Lust haben. Heidrun dagegen ist eine, die sich noch selbst die Hände schmutzig macht.Sie ist einen Hauch zu direkt, zu ungeschliffen für die Feinheiten der Politik. Keine zweifelt daran, dass sie es locker mit der Silbernen Frau aufnehmen könnte, denn Heidruns Magie ist sagenhaft! Sie ist so golden wie ihr Haar und absolut tödlich. Ich kenne keine, die es je geschafft hat, ihrer Honigmagie zu entkommen! Hätte Heidrun nicht schon vor langer Zeit einen blutmagischen Eid geschworen, der Goldenen und Silbernen Frau niemals ein Leid zuzufügen, wäre sie bereits von verschwiegenen Attentäterinnen umgebracht worden.So aber hat die Goldenen Frau sie zu ihrem Werkzeug gemacht. Zu Recht ist Heidrun die gefürchtetste Kämpferin des Goldenen Reiches. Selbst Frenja erkennt das an. Was gut ist, da Heidrun nicht nur mein Vorbild und meine Mentorin, sondern mittlerweile auch meine Freundin ist. Der Nachhall des Falles in der Tränenburg hatte uns zusammengeschweißt in unserer Empörung und Wut.Gemeinsam schmiedeten wir einen Plan, um uns an jenen zu rächen, die uns so viel genommen hatten. Der Plan gelang. Endlich ließen wir unserem Hass freien Lauf und triumphierten. Solcherlei Ereignisse erleben zwei nicht zusammen, ohne dass sich Bande schmieden. Meine damalige Hochachtung vor Heidrun war einem weniger förmlichen Respekt gewichen. Und an jenen langen Abenden sprachen wir auch über unser Leben. Über Absurditäten, die uns in unserem Arbeitsleben über den Weg gelaufen waren. Niemals über meine gescheiterte Ehe oder Heidruns Liebschaften. Nie über den Leistungsdruck oder die Konkurrenz. Sondern nur über leichte Themen, über die ich mich nicht mit Frenja unterhalte. Sie war bereits damals schon zu eingefahren, verfolgte stur ihr oftmals schwarz-weißes Denken und konnte Oberflächlichkeiten nichts abgewinnen. Verstand nicht, dass ich nicht nur über Tiefgründiges und Wichtiges reden wollte. Dass sich in Plaudereien etwas Ernsthaftes verstecken konnte, nur eben weniger offensichtlich. Oft habe ich den Eindruck, dass Frenja durch das Schicksal ihrer Schwester jeglicher Spaß abhandengekommen ist. Geblieben ist ein grimmiger Humor, der nicht viel mit ihrer früheren Lebensfreude gemein hat. Ich kann es ihr nicht verübeln. Und ich kann mir nicht verübeln, dass ich bei Heidrun als Freundin davor Zuflucht suche.Ich steige die Treppe hinauf und stoße fast mit Diana zusammen. Die Spezialgardistin hat rote Flecken im Gesicht und ist sichtlich außer Puste.»Gut, dass du da bist, Magret!« Schwer atmend bleibt sie stehen, eine Hand in die Seite gestützt. »Ich habe dich schon überall gesucht. War schon ganz oben. Egal. Du sollst nach unten kommen, Notfallbesprechung mit Heidrun. Sofort.«Wenn mich Heidrun mit Dringlichkeitsvermerk zu sich zitiert, kann das nur eines bedeuten: Es ist etwas Schreckliches geschehen.Kapitel ZweiDer Raum hat ein hohes Gewölbe. Seine Wände bestehen aus jenem uralten Stein, aus dem auch die Stadtmauer besteht. Es ist ein merkwürdiger Luftdruck hier unten, ebenso ein leichter Hall, der die gemurmelten Worte der anwesenden Frauen verzerrt.Es sind fünf hochrangige Frauen, die an dem schweren Holztisch Platz genommen haben. Ich kenne jede von ihnen und bin bei jeder Einzelnen froh, sie auf meiner Seite zu wissen. Da wäre Johanna Johannasdother, die erst vor wenigen Monaten die Erste der Stadtgarde zum offenen Kampf herausgefordert, sie besiegt und dann, wie es das Recht der Stärkeren besagt, ihren Platz eingenommen hat. Irene Tamarasra ist Zivilistin, steht uns aber so oft zu Diensten, dass ich sie als eine der unseren ansehe. Sie ist Lügenleserin und ihre Dienste sind ebenso begehrt wie teuer. Nicht jede arbeitet gern mit ihr zusammen, doch die Nützlichkeit ihrer Magie zweifelt keine an. Pauline von Beckum ist die amtierende Bronzene Frau. Sie verblasst leicht gegen die Goldene Frau, die als sehr intelligent geltende Silberne und gegen die strahlende Erscheinung Heidruns.Dennoch hat sie es nicht dem netten Lächeln ihres Ehemannes zu verdanken, dass sie fast an der Spitze steht. Ich weiß wenig über sie - und das macht mich nervös. Ich fühle mich in ihrer Gegenwart stets etwas befangen. Sie verfügt über Pelzmagie, das ist mir bekannt. Was ich nicht weiß, ist, was sich damit alles anstellen lässt. Doch hat sie es nicht ohne Grund so weit nach oben geschafft. Die vierte im Bunde ist Kerstin von Augsburg, eine Frau, die ich noch nie persönlich getroffen habe, deren Ruf ihr aber vorauseilt. Als Spezialgardistin der Goldenen Garde ist es meine Pflicht, die Stärksten und somit potentiell Gefährlichsten im Auge zu behalten. Jede, die nicht wie Heidrun durch einen blutmagischen Eid in ihrer Loyalität gebunden ist, kann jederzeit jede Frau in einer beliebigen Position herausfordern. Gewinnt sie den Zweikampf, nimmt sie den Platz der Besiegten ein; unterliegt sie, verliert sie ihre Ehre und im Normalfall ihr Leben. Doch darum geht es nicht, wenn ich mir jeden Monat mühsam neue Gesichter einpräge.Viele Frauen neigen dazu, auf dumme Gedanken zu kommen, wenn sich das Ende ihrer magischen Zeit nähert. Wann das passiert, ist bei jeder anders: Die einen verlieren bereits mit Ende dreißig die Fähigkeit, jeden Monat unter Blut und Schmerz ihre Magie zu erneuern und Kinder austragen zu können. Andere wiederum werden erst mit fünfzig zu Großmüttern.Spürt eine Frau, dass sie bald das Ende ihrer Magiezeit erreicht, geschieht es nicht selten, dass sie ihr gesamtes Leben und Wirken infrage stellt. Dabei ereignen sich leider öfters unschöne Szenen: Etwa kommt es vor, dass sich eine auf den letzten Drücker ungeliebter Kolleginnen oder potentieller Nachfolgerinnen entledigen will oder, dass sie schnell zu Reichtum kommen möchte. Im schlimmsten Fall will sie ihr Umfeld mit in den Abgrund reißen. Das letzte Mal, dass eine mit gefährlicher Magie einen solchen Aussetzer hatte, ist zum Glück schon einige Jahre her. Dennoch bleiben Frauen mit mächtiger Magie unsere stärkste Waffe und gleichzeitig unsere größte Bedrohung.Kerstin von Augsburg ist 25 Jahre alt und hat es dank ihrer Schattenmagie zur gefragtesten Kopfgeldjägerin des Reiches gemacht. Ihr Ruf ist legendär - angeblich hat es keine, auf die Kerstin angesetzt worden ist, geschafft, ihr zu entkommen. Nur das mit dem lebendig abliefern ihrer menschlichen Beute klappt nicht immer. Kerstins Dienste sind hoch begehrt und entsprechend teuer. Sie hat es gewiss nicht nötig, uns einen Gefallen zu tun. Nein, wenn die Schattenhexe hier ist, hat eine im Goldenen Schloss tief in die Tasche gegriffen.»Magret, komm, setz dich!« Heidrun deutet auf den freien Stuhl neben sich. Ich folge ihrer Aufforderung, nicke aber vorher jeder der Frauen kurz zu. »Für alle, die sie nicht kennen, das hier ist Magret Beatesdother, meine Stellvertreterin in der Spezialabteilung der Goldenen Garde.«Kerstin schaut mir mit erhobenem Kinn in die Augen. »Bist du die, die sie »Dritte« nennen?«Ich verkneife mir ein Schmunzeln. Den Rang einer Dritten gibt es nicht. Dennoch schmeichelt es mir, wann immer ich mit dem fiktiven Titel bedacht werde. Ich sehe ihn als Form der Anerkennung und des Respektes, den meine Frauen mir entgegenbringen. »Ja, die bin ich. Und du bist Kerstin von Augsburg.«Sie nickt bestätigend.»Gut. Nun, da wir das geklärt haben, komme ich zur Sache.« Typisch Heidrun: Sie hat keinen Funken Geduld und möchte am liebsten immer sofort losstürmen. »Wir haben derzeit vier große Probleme, die uns das Leben schwer machen. Mit wir«, sie lächelt schief, »meine ich die Goldene. Und damit uns alle.«Die Bronzene Frau ist nicht die einzige, deren Mundwinkel sich zu einem Lächeln verziehen. Die Goldene Frau ist das Goldene Reich und das Goldene Reich sind wir. So einfach ist das. Sollte das eine anders sehen, hat sie in unserer Mitte nichts verloren.»Es wird Zeit, dass wir die vier Probleme angehen. Aus dem Grund haben wir dieses Treffen einberufen.« Heidruns zusammengezogene Augenbrauen künden davon, dass sie nicht geneigt ist, groß drumherum zu reden.»Unser erstes Problem sind die Großmoldawier, die sich langsam von unserem Gegenschlag im vergangenen Jahr erholen. Darum kümmere ich mich. So viel sei verraten: Wir werden ihnen keine Gelegenheit geben, uns noch einmal derart zu überraschen.« Heidrun wirft mir einen Blick zu, in dem grimmiger Hass lodert. In meinen Augen sieht sie denselben Hass, allerdings ist meiner kühler und kontrollierter als der ihre. »Dann wären da noch die verfluchten Rebellinnen, die ebenfalls derzeit vor allem im Osten ihr Unwesen treiben. Das ist unser zweites Problem und ich gedenke beide mit einem Schlag zu lösen. Die Bronzene Frau höchstselbst wird sich dazu alsbald nach Debrecen begeben, wo sie auf die Ostgarde tritt. Gemeinsam mit Frau Helmich werden sie den Kerlen zeigen, wo ihr Platz unter der Sonne der Göttin ist. Nämlich im Boden darunter.«Heidrun lächelt grausam und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Die Ostgarde gilt als die stärkste und kampferprobteste. Ihre Erste, Frau Helmich, ist nicht weniger als ein taktisches Genie. Gemeinsam mit der Bronzenen dürften die beiden Frauen eine Einheit bilden, die dem verhassten patriarchalen Nachbarstaat sowie den Rebellinnen blutig Einhalt gebieten wird.»Die Bronzene wird dazu einige Goldene Gardistinnen mitnehmen, als Unterstützung, ebenso einige Frauen der Stadtgarde. Magret, Johanna, ihr stellt mir eine Liste auf, welche und wie viele ihr entbehren könnt. Ich hoffe sehr, dass wir bis zum Winter hin einiges an Boden gut gemacht und den Großteil ihrer widerlichen kleinen Nester im Osten ausgemerzt haben werden.«»Meinen Sie die der Großmoldawier oder die der Rebellinnen?«, fragt Kerstin.Heidrun zuckt mit den Schultern. »Alle, was sonst?«Das hätte ich der Schattenhexe auch sagen können.»Wir haben es im Osten mit gleich zwei feindinlichen Streitkräften zu tun. Darum werden wir mehrere Truppen aufstellen, um beide Gruppen einzukreisen, zu stellen und zu eliminieren. Jede Einheit wird dabei aus Goldenen Gardistinnen, Stadtgardistinnen und Ostgardistinnen bestehen.«Clever. So vereint sie all unsere Stärken in sich: die Ortskenntnisse und Erfahrungen der Ostgarde; die Disziplin der Stadtgarde, deren Frauen mehrmals täglich im Einsatz sind; und das Fachwissen der Goldenen Garde, die in Sachen Bildung und Kampfkraft die Elite unter den Gardistinnen darstellt. Wenn es eine schafft, auf so eine geniale Idee zu kommen, dann ist es Heidrun. Ich selbst stelle meine Ermittlerinnenteams unter ähnlichen Aspekten zusammen, wäre aber nie darauf gekommen, das Prinzip übergreifend auf unterschiedliche Einheiten anzuwenden. Ich seufze innerlich. Werde ich je eine so gute Anführerin werden wie Heidrun?»Magret, Johanna, ich erwarte noch heute die Listen auf meinem Tisch!« Und wieder typisch Heidrun: Wenn, dann sofort!»Unser drittes Problem ist ein Mann, von dem ihr alle schon gehört habt: Matthias Schulte.«Die eben noch leicht angespannte Neugier der Frauen schlägt um in bodenlose Wut. Meine Kehle wird eng. Ich hatte nicht mit einem solchen Hammer gerechnet, daher hatte ich meine Magie wie immer in einem gewissen Umkreis locker um mich herum schweben lassen. Nun ziehe ich sie mit aller Kraft zurück. Doch zu spät. Ich kann nicht verhindern, dass ich würge. Sehe Heidruns halb vorwurfsvollen, halb besorgten Blick wie durch einen Nebelschleier. Verdammt, eine Goldene Gardistin sollte sich besser im Griff haben! Aber es hat einen Grund: Matthias Schulte steht wie kein anderer für alles, was schrecklich und falsch ist; allein die Erwähnung seines Namens führt dazu, dass sich alles für jede Anwesende verkehrt anfühlt.Mit Mühe und Not schaffe ich es, meine Magie wieder in mir einzuschließen. In meinem Magen rumort es. Ich sollte bald einen gewissen Ort aufsuchen. Im Moment bin ich dankbar, mich nicht vor den anderen übergeben zu haben. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich war sorglos, dabei hätte ich wissen müssen, dass es hier um etwas Wichtiges geht. Aber anstatt auf meine Magie zu achten, gebe ich mir hier vor einigen der mächtigsten Hexen des Reiches eine solche Blöße.Ich fange mich wieder. Ich scheine Glück gehabt zu haben: Keine außer Heidrun sieht mich an. Einige sind blass geworden, der Blick Johannas huscht unruhig hin und her. Es scheint, als wolle sie etwas sagen, sie bleibt jedoch stumm.Kerstin steht auf und reckt das Kinn.»Was soll ich tun?«»Bring mir seinen Kopf!«Heidrun schleudert der Frau einen schweren Beutel entgegen, in dem sich der Größe nach eine riesige Summe befindet.»Nochmal so viel, wenn du mir seinen Kopf bringst. Versage, und ich hole mir deinen!«Die Schattenhexe nickt.»Soll ich einen Blutschwur leisten?«Heidrun schüttelt den Kopf.»Nein. Dein Wort reicht mir. Von dem Geld kannst du jahrelang leben. Es ist mir egal, wie lange es dauert, Matthias Schulte zu finden und zu töten. Aber tu es.«Ohne ein weiteres Wort nimmt Kerstin den Beutel, dreht sich um und verlässt den Raum. Wir alle blicken ihr nach.»Möge sie das schaffen, woran unsere Garden bisher gescheitert sind«, sagt die Bronzene Frau und spricht uns damit allen aus der Seele. Matthias Schulte, der Dämon, das widerliche Gezücht, ist wahrlich die schlimmste Geißel unseres Reiches. Wenn er nur endlich gefunden und getötet werden würde! Vielleicht kommen dann auch Frenja und Antje zur Ruhe und finden ihren Frieden?»Nun denn.« Heidrun atmet tief ein und aus. »Das Thema nimmt uns alle mit. Ich kenne keine Frau, die sich nicht den Tod des Ungeheuers wünscht. Hoffen wir, dass Kerstin das Glück gesonnen ist. Kommen wir nun aber zu unserem vierten Problem. Und da, Magret, kommst du ins Spiel.«Kapitel DreiIch bin so wütend, dass mir die Luft wegbleibt. Ich steige die Treppe so schnell hinauf, dass ich fast renne. Meine Hände zittern, meine Magie wirft sich von innen gegen die Hülle meines Körpers, die sie am Ausbrechen hindert. Am liebsten würde ich sie loslassen, sie auf diese ganze verdammte Stadt jagen, so dass sie alle und jede umschließt.Ich muss mich abreagieren.Ich hatte schon so lange keinen Wutanfall mehr, dass ich einen Moment stehen bleibe und innehalte - was genau soll ich tun?Die Emotionen in mir verlangen, dass ich weiter die Stufen hinauf stürme. Ich kann jetzt nicht stillhalten!Oben an der Treppe steht Diana. Zweifellos um mich abzufangen und aus mir herauszuquetschen, was es bei dem Treffen gegeben hat. Ich bin nicht in Stimmung dafür.»Jetzt nicht«, fahre ich sie an. Schon bin ich an ihr vorbei und raus aus dem Gardegebäude. Mir ist danach, weiter einen Berg hinaufzustürmen. Je höher, desto besser, doch da sich der Sitz der Goldenen Garde direkt neben dem Schloss befindet, geht es von hier aus nur noch bergab. Wie passend.Ich stürme grußlos an den Wächterinnen vorbei, drehe mich unentschlossen einmal im Kreis und entscheide mich dann, ein Stück nach unten zu gehen, passiere das Gefangenengebäude der Stadtgarde und marschiere über die Karin-Ruthdother-Treppe. Normalerweise genieße ich die grandiose Aussicht, die sich mir hier auf Annaburg bietet. Heute bin ich blind vor Wut.Ich überspringe jeweils zwei Stufen und bleibe vor einer bestimmten Wand stehen. Hier verbirgt sich, vor weiblichen Augen verborgen, für Männer ohnehin unpassierbar, eine geheime Tür. Unwirsch jage ich meine Magie in das versteckte Schloss, öffne die ob des seltenen Gebrauchs leicht quietschende Öffnung und schiebe mich hindurch. Sofort überkommt mich Ruhe.Der Ort, den ich soeben betreten habe, wirkt wie eine andere Welt. Sorgsam verriegle ich die Tür hinter mir. Schließe meine Augen und atme bewusst ein und aus. Bäume. Stille. Friede.Während meiner Zeit bei der Stadtwache weihte mich eine Freundin in das Geheimnis dieses wundersamen Ortes ein: ein schmaler Streifen Land direkt unterhalb des Schlosses, der vor Urzeiten wohl als Garten genutzt worden war. Jetzt stehen hier Laubbäume, die ob ihres großen Abstandes zueinander Teil eines lichtdurchfluteten Paradieses wurden. Grün, wohin das Auge schaut: kleine Wiesenflächen, Blumen zwischen den Baumwurzeln, Sträucher und Gebüsch. Ich erkenne nur die Ahnung eines Weges und die Tatsache, dass das Gras nicht übermäßig hoch wuchert, gibt Hinweise darauf, dass der Ort nicht vollkommen aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden ist. Irgendeine kümmert sich um das hier. Freilich bin ich hier bei meinen viel zu seltenen Erholungsgängen noch nie einer anderen begegnet.Die Luft schmeckt hier anders. Leben existiert in den winzigsten Formen. Obwohl oberhalb des Geheimgartens das Herz des Goldenen Reiches schlägt und unterhalb das Leben der Hauptstadt pulsiert, ist hier kaum etwas zu hören. Anders als beim Platz der Stummen Frau sind hierfür keine Menschen für verantwortlich. Dem Ort liegt eine ganz eigene Magie inne. Hier ist alles so, wie es sein sollte; alles hat und kennt seinen Platz. Ich bin ein Eindringling und werde dennoch willkommen geheißen, so lange ich die Gesetze beachte.Ich beruhige mich langsam. Mein Atmen entschleunigt sich, meine Magie schlägt nicht mehr wild umher, legt sich sanft nieder. Fast hätte ich ihre Schritte nicht gehört. Ich unterdrücke ein Seufzen. Das war ja wieder klar. Kann eine denn nirgendwo ihre Ruhe haben?»Lass mich raten: du fragst dich gerade, ob du denn nirgendwo mal deine Ruhe haben kannst.« Diana gluckst. Sie kennt mich zu gut. Dennoch sorge ich dafür, dass meine Miene ausdruckslos ist, bevor ich mich zu ihr umdrehe.»Und wenn, wäre es dir doch sowieso egal, habe ich recht?«»Hast du.« Diana ist nicht nur eine meiner besten Frauen in der Spezialabteilung und eine erstklassige Ermittlerin, sie ist auch seit vielen Jahren meine Freundin. Folglich hat sie keine Hemmungen mir jederzeit und zu allem die Meinung zu sagen.Diana legt den Kopf in den Nacken und atmet tief durch. Sie kennt jede und alle. Jede Wette, dass sie inzwischen erfahren hat, was unten besprochen worden ist.»Ich hatte ganz vergessen, wie wunderschön es hier ist.«Ich schaue mich um, nehme jedes Detail in mich auf. »Ging mir genauso.«»Hör mal, Magret, es ist doch so: Du kannst jederzeit deine Ruhe haben. Keine zwingt dich zu irgendwas. Geh zu Heidrun von Borgentreich und sag ihr, du möchtest wieder eine einfache Goldene Gardistin sein.« Heißer Schreck durchfährt mich: Ist das etwa ihr Ernst? Ich soll meine Position aufgeben, für die ich so hart gearbeitet habe? Außerdem liebe ich es, mit meinen Frauen die komplizierten Fälle zu bearbeiten. Ein Team zusammenzustellen, gemeinsam Taktiken durchzugehen und so quasi bereits vom Büro aus die ersten Schlingen um den Hals der Täterin zu ziehen. Das soll ich aufgeben und wieder bloße Befehlsempfängerin werden? Nie im Leben!Diana lacht.»Wenn du dein Gesicht sehen könntest! Nein, sag jetzt nichts, ich sehe dir an der Nasenspitze an, was dir gerade durch den Kopf geht. Das Problem ist nur, dass eine höhere Position auch eine höhere Verantwortung mit sich bringt. Seltsam, ich dachte eigentlich, das wüsstest du.«Sie geht und lässt mich beschämt zurück.Zurück im Gardegebäude gehe ich schnurstracks zu Heidrun. Besser, ich bringe es hinter mich.»Na, hast du dich inzwischen beruhigt?«Heidrun klingt spöttisch, doch ich kenne sie gut genug, um einen Hauch Besorgnis herauszuhören. Diana hat recht mit dem, was sie gesagt hat: Heidrun musste zum Wohle aller abwägen. Dass ich dabei zunächst übergangen worden bin, war logische Konsequenz und nichts, worüber ich beleidigt schmollen sollte wie ein kleiner Junge.»Ja.«Wir schauen uns an. Ich sehe Verständnis in Heidruns Augen und sie hoffentlich in meinen. Es ist nicht nötig, dass wir uns gegenseitig umständlich um Entschuldigung bitten. Ein warmes Gefühl durchflutet mich: Dass diese heldinnenhafte und ehrenvolle Frau meine Freundin geworden ist, verblüfft mich immer wieder aufs Neue.»Also, ich fasse nochmal zusammen.« Ich räuspere mich. »Es ist also in Annaburg« - in meiner Stadt, verdammt nochmal! - »zu mehreren Vorfällen gekommen, bei denen dem Anschein nach Frauen ihre Ehemänner getötet haben.« Und zwar genau vor meiner Nase, ohne dass ich davon etwas mitbekommen hätte! »Die Stadtgarde hielt es unter Absprache mit dir für sinnvoll, die Informationen nicht an die Öffentlichkeit« - oder mich - »durchdringen zu lassen.«Heidrun nickt.»Bei den ersten beiden Morden haben wir uns auch noch nichts dabei gedacht. Eine Frau, die im Zuge eines Streits ihren Gatten umbringt, ist nun wirklich nichts Besonderes.« Sie zuckt mit den Schultern. »Beide Frauen haben angegeben, von ihren Männern so lange provoziert worden zu sein, bis die Situation eskaliert ist. Du kennst solche Typen, unerträgliche Klatschkerle, die ihre Frauen, wenn sie nach einem harten Tag von der Arbeit nach Hause kommen, nur mit Forderungen und Vorwürfen überschütten. Da würde jede irgendwann zu viel bekommen. Die Frauen haben jede drei Nächte in der Zelle verbracht, den Müttern der Männer Geld gegeben und gut ist.«»Das Übliche also.«»Eben. So etwas geschieht einfach, da kann eine nichts machen. Wie hätten wir da schon wissen sollen, dass offenbar mehr dahintersteckt?«»Bis es wieder zu einem Mord kam.«»Ja. Und dieses Mal leugnete die Frau vehement, ihren Mann getötet zu haben. Was mir persönlich ja sowas von egal gewesen wäre, wenn sie nicht Irene Tamarasra eingeschaltet hätte.«Diesen Fakt hatte Heidrun zuvor nicht erwähnt.Kein Wunder, ich war wutentbrannt aus dem Raum gestürzt, kaum dass sie mir gestanden hatte, eine ganze Mordserie vor mir geheim gehalten zu haben. Vor mir, ihrer Stellvertreterin!»Die Frau, Ricarda von Frankenberg heißt sie, ist unverschämt reich.« Heidrun schnaubt. »Nicht einmal ich könnte mir einfach so die Dienste einer Lügenleserin leisten.«Die absurde Übertreibung bringt mich zum Lachen.»Liebe Heidrun, ich glaube, wenn sich eine eine Lügenleserin leisten kann, dann bist du das. Ich wette, du müsstest nicht einmal für ihre Dienste bezahlen!«»Möglich.« Die blonde Frau grinst. »Auf jeden Fall hat von Frankenberg die Tamarasra engagiert. Und rate mal!«»Sie war`s nicht?«»Bingo. Ich konnte die Goldene Frau davon überzeugen, dass wir nochmal wegen der anderen Morde ermitteln. Irgendetwas ist da nicht richtig.«»Steht uns Frau Tamarasra dabei zur Verfügung?«Heidrun verzieht das Gesicht.»Bislang nicht. Um es kurz zu machen, die Goldene hat mir die Wahl gelassen: Kerstin oder Irene. Beide können wir uns nicht leisten.«Von ihren Gattinnen im Streit getötete Männer oder frisch erweckte Frauen, die aufs grausamste verstümmelt werden - Heidrun hat ohne jeden Zweifel die richtige Wahl getroffen. Dennoch hatte ich gehofft, mit der Lügenleserin zu arbeiten. Wenn doch nur meine Magie stärker oder genauer wäre! Ich kann erkennen, wenn etwas nicht richtig ist. Ist meine Gegenüber jedoch von der Lüge überzeugt, die sie von sich gibt, fühlt es sich für sie richtig an, sie auszusprechen, ist meine Magie machtlos. Und es gibt zahlreiche weitere Möglichkeiten, meine Magie auszutricksen. Ohne meine Bereitschaft zu unermüdlichem Einsatz, meine Intelligenz und meine Fähigkeiten, andere anzuführen und gemäß ihren Talenten einzusetzen, hätte ich es nie so weit nach oben geschafft, nicht allein aufgrund meiner Magie. Das hat mir Heidrun damals sehr deutlich gesagt.»Wieso hat Frau Tamarasra dann trotzdem an der Besprechung teilgenommen?«, möchte ich wissen. »Wenn wir sie doch nicht bezahlen können?«»Dazu wollte ich jetzt kommen. Eine der beiden anderen Frauen, die gestanden haben, Sabine Hildegardsdother, ist offenbar eine Freundin von ihr. Frau Tamarasra verbürgt sich als Lügenleserin dafür, dass ihre Freundin unschuldig ist. Wieso sie gelogen hat, weiß sie nicht. Es ist an dir, das herauszufinden.«»Na schön. Aber wieso war sie dann von Anfang an dabei?« Es geht eine Zivilistin nichts an, was wir intern besprechen.Heidruns Lächeln hat etwas Berechnendes.»Sagen wir mal so: Frau Tamarasra ist dafür bekannt, gern zu tratschen.«»Ihr wollt also, dass die Offensive gegen die Großmoldawier und die Rebellinnen durchsickert?« Langsam geht mir ein Licht auf. »Und die Jagd auf Matthias Schulte?«»Ganz genau. Das wird die Leute genug beschäftigen und ihren Blick in eine andere Richtung lenken, so dass du in Ruhe in Sachen Morde ermitteln kannst. Frau Johannasdother wird dich über den Stand ihrer Ermittlungen in Kenntnis setzen.«Na großartig: Eine Goldene Gardistin nimmt der Stadtgarde einen Fall weg. Das wird das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen den Abteilungen nicht fördern. Ich habe bei der Stadtgarde meine Ausbildung gemacht, habe die Gardeakademie besucht und habe meine Nachtwachen absolviert. Bis ich Heidrun von Borgentreich auffiel. Ihr Angebot, mich persönlich zur Goldenen Gardistin auszubilden, sucht ihresgleichen in der Geschichte unseres Reiches. Nie zuvor ist einer die seEhre zuteilgeworden. Daher kann ich noch immer beide Seiten gut verstehen. Habe mich selbst früher schwarzgeärgert, wenn uns die Frauen der Goldenen Garde Fälle weggeschnappt hatten, nur weil die Goldene Frau ihnen mehr Bedeutung zugemessen hat. Als ob die Stadtgarde nicht auch vernünftig ermitteln könnte!Doch der Fall hier zählt mehr als der Stolz einer Frau oder Garde. Mittlerweile weiß ich, dass die Goldene Garde für derlei Aufgaben besser geeignet ist. Zusammen mit in mir schwelendem Unmut und dem Gefühl, von der Ersten der Stadtgarde verraten worden zu sein, ist das sicher nicht die beste Basis für eine Übergabe. Nun, da werde ich wohl durchmüssen.»Magret!« Heidrun sieht mich eindringlich an. »Wenn es eine Verbindung zwischen den Morden gibt. Wenn die beiden Frauen tatsächlich unschuldig sind, wie es die Lügenleserin schwört, und die dritte vielleicht auch. Wenn also alle drei Männer von anderen als ihren Gattinnen getötet wurden und wenn der Tod der Männer irgendwie zusammenhängt, dann muss ich das wissen! Es ist mir egal, wie du es anstellst, aber finde heraus, was dahintersteckt!« Sie schnauft. »Ich möchte nicht wissen, was hier los ist, wenn herauskommt, dass da draußen irgend so eine Irre herumläuft und unsere Männer umbringt.« »Zwei Frauen, die im Streit ihre Männer getötet haben plus eine, die es abstreitet und in einer Zelle der Stadtgarde sitzt... Heidrun, das ist doch nun wirklich nichts Dramatisches! Wir bekommen das in den Griff, das verspreche ich dir.«»Ach ja? Das ist gut. Denn wenn nicht... Noch konnte ich Frau Tamarasra dazu bringen, darüber Stillschweigen zu bewahren, dass eine Frau einen Mord gesteht, den sie nicht begangen hat und habe ihr gleichzeitig genug anderes Futter zum Herumerzählen gegeben. Aber wenn wir nicht schnell dahinterkommen, was hier vor sich geht, dann...«Sie atmet tief ein und aus, fährt sich mit beiden Händen durch ihr goldblondes Haar. Zerzaust und besorgt sieht sie nicht weniger schön aus. Neidisch auf Heidruns Äußeres zu sein habe ich schon vor langer Zeit aufgegeben. Das ist besser für mein Seelenheil.Doch irgendetwas stimmt da nicht. Meine Magie, obwohl sie noch immer an die Kette gelegt ist, zupft an mir herum.»Du verschweigst etwas«, sage ich geradeaus. »Komm schon! Wenn, dann muss ich alles wissen.«»Dir kann keine etwas vormachen. Sehr gut.« Heidrun lässt ihre Hände wieder sinken, schaut sich nach allen Seiten um, beugt sich dann vor und flüstert: »Das hier wird nicht aufhören. Wenn wir nichts unternehmen, wird es weitere Tote geben. Nenn es meinetwegen Instinkt, Magret, aber ich weiß es einfach. Vertrau mir!«Das tue ich.Kapitel VierDie Frau vor mir sieht nicht gerade begeistert aus. Das kann ich ihr nicht verübeln. Dennoch: Ich bin nicht so naiv, eine potentielle Mörderin bei sich zuhause aufzusuchen und ihr den Heimvorteil zu gewähren. Daher habe ich zwei meiner Frauen losgeschickt, Annabell Junisra ins Gardegebäude zu bringen. Nun sitzt sie mit gefesselter Magie und entsprechend schlechter Laune vor mir. Mit einem Wink schicke ich Sarah und Greta, die sie zum Verhör gebracht haben, hinaus. Ich möchte mir erst einmal selbst ein Bild von der Situation machen.Vor mir liegen Stift und Papier. Da ich leider über keinerlei Übertragungsmagie verfüge, muss ich entweder wie ein Mann die Notizen mit der Hand aufschreiben oder es per Bewegungsmagie machen. Wie immer entschiede ich mich für Letzteres. Ich umfasse den Stift mit meiner Magie, ohne dass die Frau vor mir etwas davon merkt.Ich lasse meine Augen offen, richte meine Aufmerksamkeit aber nach innen. Meine Magie strömt so fein aus, dass keine noch so gute Frau sie bemerken würden. Und erst recht nicht die grobschlächtige Person, die vor mir Platz genommen hat. Frau Junisra ist stämmig, an die ein Meter neunzig groß, hat wässrig-blaue Augen und rote Wangen. Von Beruf ist sie Brauerin, was bedeutet, dass sie den ganzen Tag lang unter Anwendung ihrer Magie Zutaten dazu bringt, sich miteinander zu verbinden. Und zwar so, dass sie auch dann noch zusammenhalten, wenn sie ihre Magie wieder herauszieht. Es ist unmöglich, Magie zu speichern, daher ist das Brauen von alkoholischen Getränken eine schwierige und hoch angesehene Kunst. Das herbsüße Aroma, das die Frau einhüllt, lässt mich den Feierabend und einen ordentlichen Met herbeisehnen.Ein kurzes Klopfen kündigt eine Besucherin an. Es ist Katharina, die mit großem Getue die Magiemusterkarte von Frau Junisra hereinträgt und auf den Tisch stellt. Das Schälchen mit dem vor Betreten des Gebäudes angefertigten Kristallmuster befindet sich bereits vor mir. Frau Junisra blinzelt nervös, während ich mich vorbeuge und mit gerunzelter Stirn vorspiele, die beiden Muster miteinander zu vergleichen. Reines Getue. Die Identität der Frau ist längst geprüft und bestätigt worden, ansonsten wäre sie gar nicht erst in der Wache. Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass es nie schadet, Zeuginnen mich solcherlei Schauspiel etwas aufzuscheuchen.»Hm«, brumme ich und winke Kathi zu mir heran. Deute auf irgendeinen Kristall und tippe dann auf die Magiemusterkarte.Frau Junisra schluckt. Sich als eine auszugeben, die sie nicht ist, zieht eine hohe Strafe nach sich. Meistens nehmen sich Gardistinnen in einer solchen Situation nicht die Zeit, nach Erklärungen zu fragen, sondern gehen davon aus, dass es sich um eine Kriminelle handelt. Dann gilt die Devise erst zuzuschlagen und später nachzusehen, ob es sich noch lohnt, Fragen zu stellen. Die Einstellung ist allgemein bekannt.Zwar ist mit dem Magiemuster alles in Ordnung, dennoch verdichtet sich die Spannung um mein Gegenüber. Das Netz meiner Magie zuckt in ihre Richtung: Sie fühlt sich unwohl und fehl am Platz. Gut.Kathi und ich ziehen noch ein paar Minuten unser Schauspiel durch, dann entlasse ich sie mit einem Nicken. Die Frau vor mir atmet sichtbar auf. Auch ohne meine Magie wäre ihre Erleichterung zu mir durchgedrungen.»Frau Junisra, es ist schön, Sie hier zu sehen«, sage ich glatt.Sie nickt.»Bin ja nicht freiwillig hier. Wäre aber auch so gekommen. Hätten nur fragen brauchen. Hätten nicht gleich Ihre Frauen auf mich hetzen müssen.«Ich bemühe mich um ein unverbindliches Lächeln. Die Frau ist viel zu eingeschüchtert, um tatsächlich empört zu sein.»Nun ja, jetzt sind Sie ja hier. Fangen wir mit den Formalien an.« Ich lasse den Stift »Vernehmungsprotokoll: Annabell Junisra, nachfolgend bezeichnet als AJ« schreiben. »Also, Frau Junisra. Ihre Magieart ist ...?«»Na ja, ich kann gut mit so Sachen.«»Mit allen Sachen?«»Nee, ja, wo wenn se heiß sind eben.«Ich brauche einige Sekunden, um ihre Antwort für mich ins Hochdeutsche zu übersetzen. »Ach so, ich verstehe. Wie stark ist Ihre Magie?«Ihre Augen, die zuvor nach oben links gewandert waren, bewegen sich nun nach rechts oben. Einige Frauen machen es mir wirklich einfach.»Schwach?«So wie sie es sagt, klingt es wie eine Frage. Sie ist von ihrer eigenen Lüge nicht überzeugt; meine Magie sträubt sich.Ich konzentriere mich, der Frau direkt auf einen Punkt unterhalb ihres rechten Auges zu starren. Die meisten Menschen macht das ausgesprochen nervös.»Versuchen Sie es noch einmal«, sage ich betont gelangweilt, »und dieses Mal bitte mit der Wahrheit.«»Ach na schön. Ich meine, stark, schwach, ist doch alle relativ, oder?« Sie spielt die Verlegene, grinst mich an. Himmelfraugöttin, kann sie nicht wenigstens die Zähne pflegen?»Ich geb´s ja zu, bin schon nicht schlecht«, nuschelt sie.Das hatte ich mir schon gedacht. Allein ihre von Grund auf selbstbewusste Körperhaltung deutet auf eine Frau hin, die entweder extrem schwach ist und das zu kompensieren sucht oder eine Person, die sich ihrer Stärke bewusst ist. Die Qualität ihrer Kleidung und die Adresse ihres Hauses weisen zudem auf ein mehr als gutes Einkommen hin. Da sie sich das kaum mit Hilfe ihrer Intelligenz verdient hat, bleibt nur eine starke Magie.Ach Göttin - wieso haben immer die dümmsten Frauen die dickste Magie?»Was sind Sie von Beruf?«»Brauerin.«»Und Sie sind wie alt?«»39.«Scheint alles der Wahrheit zu entsprechen. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass jegliche Raffinesse an die Frau verschwendet wäre. Also entscheide ich mich für den direkten Weg.»Haben Sie Ihren Mann ermordet?«Sie schaut mich aus wässrigen Augen verständnislos an. Entweder ist sie eine hervorragende Schauspielerin oder nicht das hellste Stück Leuchtdraht.»Ja, klar hab ich das, hab dem Maik die Henne abgedreht sozusagen.« Sie lacht, verstummt aber abrupt, als ich sie finster anschaue. Mann hin oder her, der Tote war ein Mensch. »Ich meine, ja, ich habe ihn umgebracht«, sagt sie schnell. »War aber keine Absicht. Ist halt so passiert. Was konnte er auch seine Klappe nicht halten?« Sie verschränkt die Arme vor ihrem massigen Busen und schiebt die Unterlippe vor. »Habe ich aber auch schon vorm Goldenen Gericht gesagt. Habe meine drei Tage abgesessen und meiner ollen Schwiegermutter die Strafe gezahlt. Hat alles seine Ordnung, sozusagen. Nur, dass der Maik halt nich mehr da ist.« Sie schnieft. Ich hüte mich, ihren Redefluss zu unterbrechen. »Ist n bisschen einsam jetzt«, sagt sie und fährt sich mit dem Handrücken unter der Nase her. Dabei erzeugt sie ein matschiges Geräusch. »Ne Frau braucht n warmes Ehebett, wennse abends nach Hause kommt. Sie verstehen das, oder?«Ich nicke, bleibe aber weiterhin stumm. Soweit es meine Magie anbelangt, sagt die Brauerin bislang entweder die Wahrheit oder das, was sie dafür hält.»War ja auch nich immer schlecht mit uns, wissense? Am Anfang war das mal ein ganz schmucker Kerl, der Maik. Aber na ja, Sie wissen ja, wie es so läuft, wenn de verheiratet bist.«Das wusste ich, in der Tat. Mein Georg war auch ein ganz anderer gewesen, als er mir das Ja-Wort gegeben hatte.Die Frau zuckt mit den Schultern.»Is halt nich mehr zu ändern. Vielleicht auch ganz gut so. War am Ende immer unzufrieden, der Maik, nur noch am Nörgeln: »Annabell tu dies, wieso habe ich nicht das, ich möchte auch mal dieses!« Ha! Ich frage Sie, Sie so als Frau: Seit wann reicht es denn nicht mehr, einem Mann ein warmes und trockenes Heim zu geben, hä? Hat doch immer alles gehabt. Und auf einmal war`s ihm nicht mehr genug.«Sie verstummt und senkt den Kopf. Die lange Rede scheint nicht typisch für sie zu sein. So geht es den meisten, die mir hier gegenübersitzen: Entweder sie sind so eingeschüchtert, dass sie komplett verstummen, oder sie geraten in einen Rederausch, der ihnen anschließend peinlich ist. Ich beschließe, es bei der Frau auf die mitfühlende Tour zu versuchen.»Was Sie sagen, Frau Junisra, ist genau das, was mir meine Freundinnen über ihre Ehen erzählen«, sage ich. Meine Magie jault angesichts meiner dreisten Lüge laut auf, doch ich ignoriere es. »Es ist doch immer dasselbe. Kein Wunder, dass das Goldene Gericht bei der Angelegenheit mit Ihrem Gatten keinen Anlass sah, Sie über Gebühr zu bestrafen.«Eifriges Nicken.»Immerhin war er Ihr Mann und es stand Ihnen somit zu, ihn zu bestrafen, wie Sie es für richtig hielten.«Die Frau windet sich. Ringt mit den Händen, als könne sie so die richtigen Worte finden.»Aber ich wollte das ja gar nicht!«, platzte es aus ihr heraus. »Ich meine, klar, ein Mann muss schon wissen, wo sein Platz ist und so. Und wennse mich fragen, so ein paar umme Ohren ham auch noch keinem Kerl geschadet. Da hab ich auch keine Sperenzchen geduldet!«Ich nicke als Zeichen der Zustimmung, was mir meine Magie mit einem erneuten Gefühl der Übelkeit dankt. Ich habe Georg während unserer Beziehung nie geschlagen. Wie die meisten in meinem Bekanntenkreis halte auch ich magische Gewalt gegenüber Schwächeren für das wirkliche allerletzte Mittel, dessen Einsatz die Frau mehr beschämt, als ihr zur Ehre gereicht. Andererseits muss ich fairerweise zugeben, dass Georg mir nie auf jene zermürbende Art zugesetzt hat, wie es bei anderen Ehemännern der Fall ist.»Aber deswegen wollte ich den ja noch lange nich umbringen.«Wahrheit.»Hab ihn ja geliebt, den Idioten!«Wahrheit.»Wollte nich, dass es so weit kommt. Und wie ich den da liegen sah...«Ihre Stimme bricht. Ich schaue taktvoll auf den Zettel vor mir, während sie sich mit der rechten Hand über die Augen wischt.»Was ist passiert?«, frage ich sanft.»Hab ich doch gesagt.«Nicht einmal ein Mann würde das glauben.»Frau Junisra, wieso haben Sie gelogen?«Ich kann förmlich schmecken, wie sie innerlich erstarrt. Meine direkten Worte haben sie getroffen, doch ich werde nicht dafür bezahlt, auf ihre Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Wenn ich weiter den Schmusekurs fahre, sitzen wir noch in zwei Stunden hier. Zeit, die ich nicht habe. Da draußen warten schließlich noch weitere Frauen darauf, von mir befragt zu werden.»Also, Frau Junisra, jetzt mal Klartext: Wieso lügen Sie? Wieso behaupten Sie, dass Sie Ihren Mann ermordet haben, obwohl Sie es nicht waren?« Nach einem Blick in ihre stumpfen, weit aufgerissenen Augen füge ich hinzu: »Bitte erklären Sie es mir, damit ich es verstehen kann. Sie haben Ihren Maik doch geliebt, das kann ich spüren.« Sie hebt die Augenbrauen, ihr Blick nimmt einen nachdenklichen Ausdruck an. Soll sie ruhig über Art und Stärke meiner Magie spekulieren. »Aber wieso um der Göttin Willen gestehen Sie einen Mord, den Sie nicht begangen haben?«Es dauert keine drei Sekunden, dann hält sie meinem Blick nicht mehr stand.Sie dreht den Kopf weg, knetet ihre Finger, hustet. Ich lasse ihr Zeit. Als sie zu mir aufschaut, weiß ich, dass sie nun die Wahrheit sagen wird.»Gut, Sie ham ja recht, ich war es nich! Nur: Welche dann?« Sie lacht auf. »Und wenn ich das Ihren Kolleginnen gesagt hätte, wissense, was dann passiert wäre? Ins finsterste Loch hätten die mich doch geschmissen, hätten mir doch kein Wort geglaubt! Und eine Lügenleserin kann ich mir nich leisten. Nich, dass die Geschäfte nich gut laufen würden.« Ihr Blick verdüstert sich. »Aber wir ham auch gerne gut gelebt, der Maik und ich. Eine will ihren Mann ja auch mal verwöhnen, nich wahr? Na ja, also hab ich halt gesagt, dass ich das gewesen bin. Versteht doch jede, oder? Weil so einen Streit, das kennt doch jede. Wie das so ist mit den Männern schon mal. Und so.« Sie lässt ihre Hände auf die Knie platschen. »So, nu isses raus. Ich wollte nich ins Gefängnis. Hätte ich die Wahrheit gesagt, ma ehrlich, dann wäre ich jetzt noch da. So bin ich sauber raus. Hab meine Strafe abgesessen, hab das Geld bezahlt und gut is. Bringt mir meinen Maik nich wieder, aber meine Freiheit.«Jetzt, da sie komplett aufrichtig war, wirkt sie, als sei eine Last von ihr gefallen. Ein Effekt, den ich bereits öfter bei Zeuginnen beobachtet habe.»Ich fasse also zusammen: Aus Angst, keine würde Ihnen glauben, haben Sie eine Rechtswidrigkeit gestanden, die Sie nicht begangen haben.«»Jawoll, so war es.«Die aufrichtige Erleichterung der Frau durchströmt mich süß und warm. Ich muss aufpassen, dennoch bei der Sache zu bleiben!»Aber...« Jetzt heißt es, Takt und Mitgefühl zu zeigen. Verflixt, das kann ich nicht wirklich. Aber gut, ich bin ja schließlich auch kein Mann, dem solche emotionalen Sachen quasi in die Wiege gelegt worden sind. Ich bin eine Frau, die sich eben nicht von Gefühlen, sondern rationalem und logischem Denken leiten lässt. Dennoch versuche ich, etwas Behutsamkeit in meine nächsten Worte zu legen. »Wollen Sie denn gar nicht wissen, welche Ihren Mann getötet hat?«Die Frau öffnet den Mund, schließt ihn wieder und öffnet ihn abermals. Bei der Göttin, ist ihr der Gedanke tatsächlich neu?»Na ja«, sagt sie, als sie sich wieder gefangen hat, »drüber nachgedacht hab ich schon. Wird wohl eine meiner Konkurrentinnen gewesen sein. Die mir eins reinwürgen wollte. Was willste da machen?« Schulterzucken. »S´is, wie es is. Bringt mir ja meinen Maik auch nich wieder, wenn ich da jetzt irgendwie n Fass aufmache.« Sie lacht, offenbar hoch erfreut über ihr Wortspiel.»Aber glauben Sie denn nicht«, sage ich mit so viel Geduld, wie ich noch aufbringe, »dass Ihre Falschaussage vielleicht dazu geführt haben könnte, dass die Mörderin erneut zugeschlagen und eine weitere Frau zur Witwe gemacht hat?«»Hä? Wieso sollte denn dem Maik seine Mörderin noch einer sonst ihren Mann umme Ecke bringen?«Ihre Verwunderung ist entweder gut geschauspielert oder echt. Ich tendiere zu Letzterem.»Gut, Frau Junisra, dann können Sie jetzt nach Hause gehen.«»Alles klar.« Die Frau steht auf, streckt sich und zwinkert mir dann zu. »Und eins könnense mir glauben: Auf meinen nächsten Kerl werde ich besser aufpassen!«Kapitel FunfIm hinteren Verhörraum erwartet mich eine weitere Frau zur Befragung. Sabine Hildegardsdother hat gestanden, ihren Mann Wolf im Affekt getötet zu haben. Sie ist die Freundin der Lügenleserin Irene Tamarasra, die laut dieser nicht die Wahrheit gesagt haben soll. Ich bin gespannt, was mich bei ihr erwartet.Ich beschließe kurzerhand, mir erst einmal einen Tee zu machen. Soll die Frau ruhig etwas warten. Ihrem Mann wurde schließlich der Rest seines Lebens genommen.Meine Frauen begrüßen mich je nach Charakter und dem Grad ihrer aktuellen Beschäftigung mit einem knappen Nicken bis hin zu einem fröhlichen Hallo. Diana, auf deren Tisch sich ein riesiger Stapel Zettel angesammelt hat, schenkt mir ein sarkastisches Lächeln, hochgezogene Augenbraue inklusive. Ich würde ihr die Zunge herausstrecken, wenn das nicht meine Autorität untergraben würde.Ich stelle mich in die Mitte des Raumes und klatsche zweimal in die Hände.»Zuhören, Mädels! Kommt mal alle her!«Ohne Zögern folgen die Gardistinnen meiner Anweisung. Gut so!»Das Wichtigste zuerst: Nicole, sei so nett und besorg mir einen Tee.«Die Angesprochene verzieht das Gesicht, hat sich aber fast sofort wieder unter Kontrolle.»Eine bestimmte Sorte, Dritte?«»Ja. Die Sorte »Überrasch mich!««Da ich den Satz jedes Mal sage, ernte ich dafür keine Lacher. Macht nichts. Viel wichtiger ist, dass ich die richtige Reihenfolge einhalte: Nicole und Fancy, beides hochkompetente Gardistinnen, von denen ich immer dachte, ich könne ihnen mein Leben und das meiner Gardeschwestern anvertrauen, hatten sich im vergangenen Monat einen groben Patzer erlaubt. Sie waren sich vor den Augen Annaburger Bürgerinnen gegenseitig an die Kehle gegangen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Was ausgerechnet die beiden dazu gebracht hat, gemeinsam ein Feierabendbier trinken zu gehen, ist mir noch immer ein Rätsel.Auf jeden Fall ging die Sache nicht gut aus und ich musste sie für eine Weile vom Dienst suspendieren. Doch damit nicht genug: Heidrun gab mir strikte Anweisung, dass beide fortan und auf unbestimmte Zeit »die Ärschin vom Dienst« sind. Sprich: Anfängerinnenarbeiten. Dazu gehört, mir einen Tee zu machen, wozu ich selbstverständlich selbst in der Lage bin. Gestern musste Fancy losziehen, heute ist Nicole dran. Göttin, was gäbe ich dafür, wieder alles beim Alten zu haben! Aber Strafe muss eben sein.Mit hochroten Wangen und einer dampfenden Tasse in der Hand kommt Fancy zurück. Dankbar, wenn auch etwas beschämt, nehme ich das Getränk entgegen, nehme einen Schluck. Schwarzer Tee mit einem Hauch Sahne. Wundervoll!»So, Mädels, aufgepasst! Ich habe zwei Ankündigungen zu machen. Wie einige von euch ja bereits mitbekommen haben, haben wir einen neuen großen Fall auf dem Tisch. Ich komme eben aus der ersten Befragung; die zweite folgt gleich im Anschluss.« Ein Blick auf die durchs Fenster scheinende Sonne verrät mir, dass es mit der letzten Vernehmung eng wird, sofern ich heute noch so etwas wie einen Feierabend haben möchte. Es ist nicht immer einfach, mit gutem Beispiel voranzugehen. »Katharina, du bist auf jeden Fall schon mal mit dabei. Flitz` mal eben los und hol mir eine gewisse Mordverdächtige. Die sitzt gerade in einer gemütlichen Zelle bei der Stadtgarde rum. Sag denen bitte, sie sollen keinen Heckmeck machen. Ja, ich weiß, es ist schon spät. Ja, ich möchte auch gern irgendwann Feierabend machen. Wenn sie trotzdem meckern, sag ihnen, die Anweisung kommt von Heidrun persönlich und dass Frau Johannasdother mir ihre volle Unterstützung zugesagt hat. Alles klar?«Kathi nickt und geht. Auf die Frau ist stets Verlass und ihr Tiefensinn ein ungemein nützliches Werkzeug bei Untersuchungen von Toten. Zwar ist sie keine Leichenärztin, hat aber viel anatomisches Wissen.»Also weiter im Text. Ich werde für besagten Fall wie immer ein festes Team zusammenstellen. Da es sich um Verbrechen handelt, die hier in Annaburg geschehen sind, können dabei alle vor Ort bleiben. Dennoch erwarte ich vollen Einsatz! Ihr könnt erst nach Hause gehen, wenn ich es sage. Nicht die Sonne, sondern der Fall bestimmt, wann das sein wird. Lange, harte Arbeit auf unbestimmte Zeit. Also, gibt es Freiwillige?«Jede hebt eine Hand und Stolz erfüllt mich: So sind meine Frauen!»Also gut, das Übliche also. Dann machen wir erst mit der zweiten Sache weiter: Heidrun von Borgentreich und Frau Helmich, die Oberste der Ostgarde, planen gemeinsam gegen die Großmoldawier und gleichzeitig gegen die Rebellinnen im Osten vorzugehen. Das wird eine groß angelegte Operation, zu dem auch die Stadtgarde und wir unseren Teil beitragen sollen. Heidrun will dafür die Besten der Besten. Das sind wir, keine Frage.« Amüsiert beobachte ich, wie sich meine Worte auf die Körperhaltung der Frauen auswirkt: Fast jede hat das Kinn ein wenig angehoben und die Schultern nach hinten gestreckt. Ich setze noch eins drauf: »Die Bronzene Frau persönlich wird die Mission anführen.« Ein Raunen geht durch den Raum. Wäre ich nicht bereits Heidruns Stellvertreterin, hätte ich diese Gelegenheit, ohne zu zögern, genutzt und mich ebenfalls gemeldet. Ein Kommando unter der Bronzene Frau und mit der legendären Frau Helmich - so eine Karrierechance bekommen die meisten nur einmal im Leben!Meine Frauen stecken die Köpfe zusammen, wägen sichtlich ab.»Wir haben Frühjahr und ich wünsche der Mission nur das Beste. Dennoch kann es sein, dass ihr den Winter an der Ostfront verbringen müsst.«So, damit habe ich ein paar Frauen die Entscheidung abgenommen.»Außerdem müsst ihr euch darauf einstellen, dass es vor allem anfangs zu Kompetenzgeragel kommt: Geographisch betrachtet gehört das Gebiet der Ostgarde. Sie kennen die Wälder und Wege in- und auswendig. Solltet ihr tatsächlich vom Wintereinbruch überholt werden, dann glaubt mir, dankt ihr der Göttin, wenn euch Ostgardistinnen zur Seite stehen!« An Rebekkas und Olgas Gesichtsausdruck erkenne ich, dass sie damit raus sind. Ich habe nichts anderes erwartet, beide hassen die Kälte. »Zu guter Letzt werden auch Kolleginnen der Stadtgarde mit den Auserwählten reisen.« Wie ich vermutet habe, zeigt sich auf Corinnas` Gesicht Begeisterung. Als Einzige von uns unterhält sie regen privaten Kontakt mit den Stadtgardistinnen. Auch Corinna scheint interessiert zu sein.»Also, welche meldet sich freiwillig?«Corinna, Mascha, Gülen und Lora. Nach einigem Zögern Fancy. Ich unterdrücke ein Schmunzeln. Wenn sie glaubt, so ihrer Strafe entkommen zu können, hat sie sich gewaltig geschnitten. Aber das wird sie schon noch selbst früh genug herausfinden.Ich rechne durch. Fünf Frauen. Mehr als mir lieb ist und gerade genug, um Heidrun und die Bronzene zufrieden zu stellen. Ich seufze. Ich kann nicht länger so tun, als würde ich das vor Aufregung glühende Gesicht Friedas nicht sehen. Sie reckt ihre Hand vor lauter Eifer so weit nach oben, dass eine meinen könnte, sie wolle sich bis zur Zimmerdecke strecken.»Corinna, Fancy, Mascha, Lora, Gülen, ihr habt meine Erlaubnis. Meldet euch baldmöglichst bei Heidrun. Fragt mich bitte nicht, wo sie ist, aber irgendwo werdet ihr sie schon finden.«Die Frauen grinsen. Heidrun mag die Zweite der Goldenen Garde sein und diese damit anführen, faktisch ist sie aber mehr unterwegs als jede Fußsoldatin. Dank Heidruns Delegationstalent ist das meistens kein Problem. Außerdem schafft sie es immer, da zu sein, wann und wo sie gebraucht wird.»Frieda? Komm mit mir in die Küche!«Die Frau folgt mir mit hängendem Kopf. Zu Recht befürchtet sie Komplikationen hinsichtlich der Erfüllung ihres Wunsches.In der kleinen Küche angekommen, bedeute ich ihr, die Tür zu schließen. Sofort stellt sich ein Gefühl der Enge bei mir ein. Erst im vergangenen Jahr war ich in einer ähnlichen Küche in eine äußerst unangenehme Situation geraten. Da ich einen komplizierten Mordfall trotz anstehender magieloser Woche nicht abgeben wollte, fand ich mich plötzlich schutzlos einer skrupellosen Mörderin ausgeliefert. Wäre Frieda nicht gewesen, hätte es mich sicher erwischt.Frieda. Noch vor einem Jahr habe ich sie »das Küken« genannt. Obwohl sie erst seit kurzer Zeit bei uns gewesen war, hatte ich beschlossen, sie zu dem Mordfall heranzuziehen. Sie hatte die Feuertaufe mit Bravour bestanden. Hatte die tödliche Seite ihrer Erinnerungsmagie offenbart und eine mächtige Frau getötet, um mir das Leben zu retten. Sie war, weiß die Göttin, schon lange kein Küken mehr. Sie hatte es verdient, mit auf die Mission der Bronzenen geschickt zu werden. Dennoch lässt mich etwas zögern.»Frieda«, sage ich sanft. »Du hast deine Ausbildung noch nicht abgeschlossen.«»Aber ich liege weit vorn, das haben Sie... das hast du selbst gesagt! Ich bin verdammt schlau!«»Ja. Trotzdem hast du dich immer noch nicht dran gewöhnt, mich zu duzen«, denke ich, spreche es aber nicht laut aus.»Ja, das bist du, Frieda, aber dir fehlt es einfach noch an Erfahrung. In den Osten zu reisen und es mit Rebellinnen und den Großmoldawiern gleichzeitig aufzunehmen... Nicht einmal jede Goldene Gardistin würde das wagen!«»Ich aber schon!«Ich seufze. Mut ersetzt keine magischen Fähigkeiten, ist kein Ersatz für jene Instinkte, die sich eine Gardistin erst im Laufe vieler Jahre antrainieren muss. Frieda hatte das Glück, gleich zu Beginn ihrer Ausbildung bei einer großen Ermittlung dabei zu sein. Daher fühlt sie sich nun über andere im zweiten Lehrjahr erhaben. Zu Recht, aber auch zu Unrecht. Ich kann sie so nicht in den Osten schicken!»Was dir noch fehlt, kannst du nicht in Büchern lesen oder dir durch logisches Denken und Intelligenz erschließen«, sage ich so behutsam wie möglich. Dennoch schlagen einzelne Stiche in das Netz meiner Magie ein. Meine Worte fühlen sich für Frieda schlecht an; folglich beginnt sie, sich schlecht zu fühlen.»Du bist eine phantastische Auszubildende. Wir alle sind mehr als zufrieden mit dir. Du wirst es eines Tages weit bringen, davon bin ich überzeugt. Doch erst mal brauchst du mehr Erfahrung.«In Friedas Augen glitzern Tränen.»Heißt das, du erlaubst mir nicht zu gehen, Dritte?«»So ist es. Glaub mir, es tut mir leid.«»Aber so eine Chance bekomme ich doch bestimmt nie wieder!«Genau, was ich mir eben schon gedacht habe. Es zerreißt mir das Herz, sie so unglücklich zu sehen. Und nicht nur, weil meine Magie mir gerade auf den Magen schlägt.»Es werden neue Chancen kommen. Andere Chancen. Im Leben kommt es auch mal darauf an, Geduld zu haben. Deine Zeit wird kommen. Und dann wirst du dafür bereit sein.«Ich gebe ihr einen freundinlichen Schulterklopfer. Es ist alles gesagt.Friedas Enttäuschung und Empörung bricht über mich herein, als ich sie in der Küche zurücklasse.»Wie hat sie es aufgenommen?«, will Diana beiläufig wissen, als ich an ihr vorüber flitze. Ich presse meine Hand auf den Magen und deute Richtung Flur. »Toilette!«»Oh Frau - gelegentlich bist du wirklich nicht zu beneiden!«Kapitel SechsIch beschließe, das nächste Verhör nicht allein zu bestreiten. Die beiden Gardistinnen, die Sabine Hildegardsdother hergebracht haben, haben mich bereits vorgewarnt. Das hier wird nicht so einfach werden, wie bei Frau Junisra. Nur welche soll ich mitnehmen? Keine der fünf Frauen, die sich für die Ostmission gemeldet haben; die haben jetzt anderes im Kopf. Das ehemalige Küken fällt ebenfalls weg. Katharina ist unterwegs, die Gefangene der Stadtgarde herzubringen. Olga hängt noch an einem komplizierten Betrugsfall. Diana möchte ich nicht auswählen. Ich befürchte, ich bevorzuge sie schon viel zu sehr.Einer plötzlichen Eingebung folgend gebe ich Svetlana ein Zeichen. Ihrem Gesichtsausdruck nach ist sie ebenso überrascht wie ich. Nur, dass ich mir das hoffentlich nicht anmerken lasse. Svetlana ist seit fünf Jahren bei uns. Sie arbeitet solide und zuverlässig, sticht aber durch nichts heraus. Schon einige Male habe ich darüber nachgedacht, sie mir etwas genauer anzuschauen. Welche weiß, ob in ihr nicht ungeahnte Talente schlummern?Ihre Magie - sie kann alles beeinflussen, das aus Stoff gefertigt ist - ist auf jeden Fall interessant und nützlich. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, wie sie sich im Kampf macht. Da sie aber erstens die Ausbildung zur Goldenen Gardistin vollendet hat und zweitens noch am Leben ist, gehe ich davon aus, dass sie so einiges drauf hat. Ihre Berichte sind stets tadellos geführt. Keine Frau, die es nötig hat, ihre Vorgesetzte durch übertrieben detaillierte Kampfszenen mit Verbrecherinnen zu beeindrucken!Kurz erwäge ich, sie für das Verhör zu instruieren, entscheide mich dann dagegen. Mal schauen, wie sie sich ohne Anweisungen schlägt.Bereits als ich die Tür zum zweiten Vernehmungsraum öffne, wird mir klar, dass das hier ein harter Brocken wird. Sabine Hildegardsdother sitzt mit vor der Brust verschränkten Armen da. Und die sind durchtrainiert! Auch ihr Gesicht und Schulterpartie machen deutlich, dass diese Frau kein Gramm Fett zu viel besitzt. Ihre markanten Wangenknochen betonen die Augen, aus denen mir deprimierend viel Intelligenz entgegenblickt. Der muskulöse Körper, die straffen Brüste, das selbstbewusst gereckte Kinn, und die funkelnden Augen zeigen mir: Sabine Hildegardsdother ist eindeutig ein Männerschwarm! Ihre ganze Art strahlt aus: »Hier bin ich und das ist gut so. Und was zu den sieben Finsterhexen bist du für eine?«Sie ist in eine Aura reinen Sich-Wohlfühlens gehüllt, was meine Magie ärgerlicherweise so sanft schnurren lässt wie ein Kätzchen, das unterm Kinn gekrault wird. Doch so schnell lasse ich mich nicht unterkriegen. Noch während ich mich ihr gegenüber an den Tisch setze, binde ich hastig unzählige weitere Knoten in das Netz meiner Magie. Dichter und dichter webe ich die feinen Maschen. Bei dieser Frau darf mir nicht die kleinste Kleinigkeit entgehen!Ich rücke meinen Stuhl zurecht. Svetlana tut es mir nach. Ich lasse meine Magie als Knäuel zu Boden gleiten und sich dann millimeterweise entfalten. Ehe es sich die Dame versieht, wird sie komplett von meiner Magie eingehüllt sein. Nicht mal das Zucken ihres kleinen Zehs wird mir entgehen!»Guten Tag, Frau Hildegardsdother«, eröffne ich das Gespräch. Das Theater mit der Identitätsüberprüfung kann ich mir bei ihr sparen. »Ich bin Spezialgardistin Magret Beatesdother, das hier ist Svetlana Irinanewa. Bitte nennen Sie uns Ihren Namen, Magieart und -stärke, Alter und Beruf.«Sie legt los, noch ehe ich mit meiner Magie zum Stift gegriffen habe.»Sabine Hildegardsdother, Herzmagie, Stärke ungewiss, 42«, sagt sie betont gelangweilt.Habe ich hier bereits eine erste Schwäche entdeckt?»Und Ihr Beruf?«Sie lacht spöttisch.»Mit Herzmagie? Was denken Sie?«»Also sind Sie Ärztin.«»Sie sagen es.«Svetlana räuspert sich. »Wenn ich dazu etwas anmerken darf, Frau Beatesdother?«»Ja, bitte?«»Frau Hildegardsdother ist eine der führenden Herzärztinnen im Stadtkrankenhaus. Menschen kommen aus dem ganzen Reich hierher, um sich von ihr behandeln zu lassen. Vor drei Jahren erst hat sie meinen eigenen Onkel geheilt; vor fünf Jahren versorgte sie eine Verletzung, die sich Richterin Mariolanka in Novosibirsk zugezogen hatte. Auch Karola von Wannweil und Gerda Thiasra hat sie bereits geholfen.«Große Namen. Ich gebe zu, ich bin beeindruckt. Nur, wie klug war es, das hier so offen zu erwähnen? Wäre die Information von der Dame selbst gekommen, ich hätte sie für pure Angeberei gehalten. Was hat meine Gardeschwester zu dieser Lobeshymne bewegt, die das Selbstvertrauen von Frau Hildegardsdother mit Sicherheit nur noch weiter gesteigert hat? Wohl kaum pure Gedankenlosigkeit. Säße an Svetlanas Stelle Diana, Katharina oder auch Olga hier, wüsste ich, wie ich ihr Verhalten zu verstehen hätte. Die Reue kommt zu spät: Ich bin selbst schuld, dass ich mich so lange nicht darum gekümmert habe, ein gutes Zusammenspiel mit der Gardistin neben mir aufzubauen.Ein sanftes Ziehen durchbricht meine Gedanken. Irgendetwas ziept an meinem rechten Ärmel. Ich schaue hin, doch da ist nichts. Dann wieder. Ich schaue zu Svetlana und sehe den Hauch eines Nickens. Sie hat den Stoff an meinem Ärmel benutzt, um mir eine Botschaft zukommen zu lassen. Deren Inhalt ist klar: Vertrau mir!Unwillkürlich schäme ich mich. Svetlana ist seit vielen Jahren Teil meines Teams. Sie ist Goldene Gardistin und gehört somit zur absoluten Elite dieses Reiches. Auch wenn ich ihr Verhalten noch nicht zu durchschauen vermag, hat sie sicherlich gute Gründe für das, was sie gesagt hat. Vielleicht kennt sie die Ärztin flüchtig oder über Bekannte? Und kennt daher ihren Hang zu übertriebenem Eigenlob? Auch, dass sich Svetlana zuvor, als die Frau die Art ihrer Magie erwähnt hat, instinktiv ans Herz gefasst hat, kann pure Berechnung gewesen sein. Ich zwinge mich, meine Vorbehalte beiseitezuschieben und abzuwarten.Tatsächlich schenkt die Ärztin meiner Gardeschwester ein dünnes Lächeln.»Ich kann mir unmöglich die Namen all derer merken, die ich schon retten durfte.«Meine Göttin, dass die Frau nicht an dem Wort »durfte« erstickt ist, gleicht einem Wunder! Ganz ohne Zweifel ist Sabine Hildegardsdother das Gegenteil einer bescheidenen Person. Doch das macht sie noch lange nicht zu einer Lügnerin, wie Irene Tamarasra behauptet.»Das kann ich mir gut vorstellen. So viele Leben wie sie jeden Tag retten!«Die Ärztin nickt. »So habe ich übrigens auch Wolfi kennengelernt, wissen Sie das? Indem ich ihm das Leben rettete. Er kam damals zu mir ins Krankenhaus und musste dringend behandelt werden. Ohne mich wäre er schon seit vielen Jahren tot.«»Es muss schön sein, einem so wertvollen Beruf nachzugehen«, sagt Svetlana zu der huldvoll nickenden Frau.Alles klar, Svetlana hat sich eindeutig dafür entschieden, der Frau zu schmeicheln. Womit für mich der Part der bösen Gardistin bleibt. Den übernehme ich nur allzu gern.»Frau Hildegardsdother, erzählen Sie uns so detailliert wie möglich von dem Abend, an dem Sie Ihren Mann tot aufgefunden haben.«Die Frau runzelt die Stirn.»Sie meinen den Abend, an dem ich meinen Mann im Streit getötet habe!«Ich zucke mit den Schultern, erwidere nichts. Wenn ich sie richtig einschätze, wird sie das enorm nerven. Und tatsächlich: Es dauert keine zwei Sekunden, bis sie tief Luft holt.»Wissen Sie, ab und zu verdient er sich etwas bei einer Bestatterin dazu, indem er hilft... half, Tote zurecht zu machen. Für die Trauerfeier, Sie wissen schon, damit der Anblick für die Verwandten nicht ganz so schrecklich ist. Ein klassischer, kleiner Männerjob eben. Nichts Weltbewegendes, aber immerhin leistete er einen Beitrag. Und bis vor Kurzem habe ich ihn auch gelassen. War er dafür dankbar?« Sie schnauft. »Kein Stück! Er hat stattdessen den Haushalt vernachlässigt. Also habe ich ihm gesagt, wenn sich das nicht schleunigst ändert, ist Schluss damit. Sowieso hat er sich da viel zu wichtig mitgenommen.«Sie schweigt kurz.»Ich habe meinen Mann im Affekt getötet«, fährt sie mit mühsam kontrollierter Stimme fort. »Dafür bin ich vom Goldenen Gericht fachfraulich verurteilt worden. Ich habe meine Strafe abgesessen und bezahlt. Nun muss ich damit leben, keinen Mann mehr zu haben, der sich um meinen Haushalt kümmert. Ich habe keine Zeit, mir einen neuen zu suchen, werde aber wohl nicht drumherum kommen. Nicht, dass Wolfi sonderlich nützlich gewesen wäre.«Ihr Redeschwall macht es mir nicht leicht, die wahren und falschen Teile voneinander zu unterscheiden. Alles vermischt sich.»Wie haben Sie Ihren Mann getötet?«Frau Hildegardsdother lacht.»Wie, wie, wie, was fragen Sie das so blöd? Waren Sie noch nie in einen Kampf verwickelt? Denn falls ja, wüssten Sie, dass eine das im Eifer des Gefechts kaum in allen Einzelheiten mitbekommt.«Ich schnaube.»Sie wollen doch jetzt nicht ernsthaft einen kleinen Familienstreit mit einem Mann einer Kampfsituation zwischen Frauen gleichsetzen!?«Mein offenkundiger Spott trifft bei ihr einen Nerv. Gut so.Sie beugt sich vor und kneift die Augen zusammen.»Das habe ich natürlich nicht gemeint. Wie Sie ja schon so treffend sagten, geht es immerhin nur um einen Mann. Was ich damit sagen wollte ist, dass ich es nicht so genau weiß. Und jetzt hören Sie auf, mir jedes Wort im Mund herumzudrehen, sonst können Sie sich diese Unterhaltung hier in die Haare schmieren. Ich bin nämlich aus vollkommen freien Stücken hier und Sie können mich nicht zwingen, mit Ihnen zu reden!«Meine Mundwinkel zucken. Die Dame ist dermaßen von dem überzeugt, was sie da von sich gegeben hat, dass es fast schon rührend ist. Ich kann sie hier so lange festhalten, wie ich möchte, und jedes bisschen Information, wenn ich wollte, aus ihr herausprügeln. Ich bin keine Fußsoldatin, sondern verdammt nochmal eine Goldene Gardistin. Also was denkt sich diese aufgeblasene Schnepfe?Ich hole tief Luft und setze gerade an, etwas Passendes zu erwidern, als es mich wieder am Ärmel zupft. Offenbar sieht Svetlana hier eine Chance. Ich lasse sie gewähren und bin gespannt.»Frau Hildegardsdother, bitte sehen Sie es uns nach, dass wir da so genau nachfragen müssen. Wir gehen dabei streng nach Protokoll vor, das werden Sie doch sicher verstehen.«Die Dame nickt, wenn auch mit sichtlichem Widerwillen. Als Ärztin ist sie für Logik zugänglich und genau das macht sie angreifbar.»Wenn wir zum Beispiel wüssten, dass Sie im Grunde nur die Blutbahnen Ihres Mannes ein wenig verengt haben und es dadurch zu diesem, nun, Missgeschick kam... Oder dass er Sie in einem trotzigen Anfall, wie er Männern ja leider oft zu eigen ist, angegangen hat und Sie ihm nur ein wenig Einhalt gebieten wollten...« Erneut lässt Svetlana eine kleine Pause. »Dann... wäre es nämlich möglich, dass Ihre Verurteilung zu einer Geldstrafe sowie Ihr Aufenthalt im Gefängnis tatsächlich unrechtmäßig gewesen ist.«Frau Hildegardsdother hat sich während Svetlanas Rede aufrechter hingesetzt.»Und das würde was bedeuten?«»Sie würden in dem Fall den gezahlten Geldbetrag zurückerhalten. Außerdem würden Sie für den Ihnen aus der Haft entstandenen Schaden entschädigt werden.«Ich muss stark an mich halten, um nicht laut loszuprusten. So einen Quatsch habe ich noch nie gehört! Frau Hildegardsdother dagegen scheint unter akutem Realitätsverlust zu leiden, denn sie kauft Svetlana jedes Wort ab.Sie nickt.»Immerhin konnte ich während dieser drei Tage keine Menschenleben retten!«»Ganz genau! Also wenn Sie bitte so freundinlich wären, uns noch einmal ganz genau zu schildern, was sich an dem Abend zugetragen hat?«»Na schön.« Die Ärztin lehnt sich mit noch immer verschränkten Armen zurück. Mit uns zu reden ist für sie fast unter ihrer Würde. Aber eben nur fast. Die Mischung aus Spott, unverhohlener Bewunderung, Logik und die Aussicht auf Geld haben ihren Panzer gebrochen. Ich nehme mir fest vor, Svetlana später für ihre gute Arbeit zu loben!»Ich kam nach Haus und fand Wolfi wieder einmal faul auf dem Sofa liegend vor«, beginnt die Witwe ihre Geschichte. Nun habe ich keinerlei Mühe mehr herauszufinden, wann sie lügt und wann nicht. Entsprechend lasse ich den Stift einen Vermerk hinter ihre Aussagen schreiben.»Er stand nicht mal auf, um mir hallo zu sagen.« Lüge.»Geschweige denn, dass das Essen fertig gewesen wäre.« Lüge. »Dabei hatte ich einen langen, harten Tag in der Klinik hinter mir.«Wahrheit.»Soll ich mir da etwa selbst noch etwas zu Essen kochen?«Auch dieser Ausdruck der Empörung ist aufrichtig. Offenbar war die Zubereitung der Mahlzeiten öfter ein Streitpunkt zwischen den beiden Eheleuten. Nur nicht an jenem schicksalhaften Abend.»Wir fingen an zu streiten.«Lüge.»Wie wir es in letzter Zeit fast jeden Tag taten.«Wahrheit.»Ich weiß eigentlich gar nicht, wie es passiert ist.«Wahrheit.»Aber plötzlich sah ich ihn tot auf dem Boden liegen.«Wahrheit.»Ich habe ihn wohl im Affekt umgebracht.«Lüge.»Ich wollte das gar nicht!«Lüge. Oh, interessant! Heißt das, sie wollte ihn umbringen? Oder bloß weh tun?»Nie im Leben hätte ich meinem Wolfi weh getan!«Da ist sie, die bisher größte Lüge des Tages! Diese Aussage ist so faustdick gelogen, dass mir tatsächlich einen Moment lang übel ist.»Er war mein Ein und Alles.«Lüge.»Jetzt ist er nicht mehr da und ich bin allein. Das ist kein schönes Gefühl, das kann ich Ihnen sagen! Jede braucht doch einen warmen, weichen Mann in ihrem Bett, einen Begleiter, der Haus und Küche in Ordnung hält!«Wahrheit, hinzu volle Zustimmung von meiner Seite. Auch ich habe schon als Mädchen davon geträumt, eines Tages einen Mann heimzuführen, der mir ein behagliches Zuhause einrichtet und mich mit einer liebevoll gekochten Mahlzeit erwartet, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme. Den ich beschützen und versorgen kann. Eine Weile sah es auch so aus, als hätte ich mit Georg meinen Traummann gefunden. Nun, diese Zeiten sind ein für alle Mal vorbei.»Ja, so war das.«Mit dieser Lüge beendet sie ihre Märchenstunde und schaut uns wie gewohnt mit einer Mischung aus Trotz und Arroganz an.»Ähhh...« Kaum zu glauben, dass dieser wenig geistreiche Beitrag aus meinem Mund kam. Doch mehr fällt mir beim besten Willen nicht ein. Wieso zur Göttin gesteht die Frau einen Mord, den sie nicht begangen hat? So naiv wie ihre Leidensgenossin Frau Junisra ist sie nicht. Aber was ist es dann, das sie dazu bringt?Ich beschließe, vorsichtshalber, noch einmal die direkte Probe zu machen.»Frau Hildegardsdother, haben Sie Ihren Mann Wolfi umgebracht?«»Ja.«Lüge. Verdammt.Kapitel Sieben7Lagebesprechung in der Küche. Mit dabei ist Svetlana. Außerdem habe ich Diana dazu gebeten, allein weil sie mir beim Denken hilft. Und hoffentlich einen frischen Blick von außen hat.»Ich bekomme es einfach nicht in meinen Kopf«, beginne ich. »Da ist eine Ärztin, hoch angesehen, und mit Sicherheit von Frauen wie Männern geschätzt und umgarnt. Toller Job, Karriere, Geld. Und vor allem eins: Macht. Die hat zu Hause einen Ehemann sitzen, mit dem es häufig Streit gibt. So weit, so gewöhnlich. Dann wird ihr Ehemann getötet, aber nicht von ihr. Welche aber hat es getan?«»Und angenommen, du hast recht«, Diana ignoriert mein Schnaufen nach dem Wort »angenommen«, »wieso um der Göttin Willen gibt sie die Tat zu?«»Der Mann könnte der Geliebte einer anderen Frau gewesen sein. Oder eine wollte der Hildegardsdother eins auswischen«, zählt Svetlana die gängigsten Motive auf. »Nur, wieso sollte sie die Mörderin dann schützen wollen?«Ich runzele die Stirn.»Und wenn sie nicht weiß, welche es gewesen ist?«Diana zuckt mit den Schultern. »Ein Grund mehr, unsere Ermittlungen zu unterstützen.«»Guter Einwand!«»Aber immer doch!«Trotz der ernsten Situation grinst sie wie ein Honigkuchenpferd. Ich kann nicht anders und grinse mit.Svetlana dagegen bleibt ernst, schüttelt den Kopf.»Das ergibt für mich alles keinen Sinn, Dritte. Zumal die Dame auch nicht den Eindruck macht, dass ihr der Tod ihres Gatten sonderlich nahe geht. Ich werde jetzt etwas sagen, das ich vermutlich lieber nicht sagen sollte, aber...« Sie schaut mich mit seltsamem Gesichtsausdruck an. Hat sie Angst?»Immer raus damit«, sage ich, um sie ihr zu nehmen. »Auch wenn du denkst, dass ich mit etwas falsch liege. Wir arbeiten nicht ohne Grund im Team.«»Aber du bist die Dritte und ...«»Deine Vorgesetzte, schon klar. Umso wichtiger, dass du immer ehrlich zu mir bist. Wenn du dich nicht traust, mir zu widersprechen, wenn du es für richtig hältst, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder habe ich als deine Anführerin versagt oder du bist feige. Keine der beiden Varianten ist für mich akzeptabel.«»Verstehe.« Sie schluckt. »Also, was ich sagen wollte ist... Wenn Frau Tamarasra, die Lügenleserin, nicht gewesen wäre... Also wenn sie nicht in ihrer Funktion als Lügenleserin geschworen hätte, dass Frau Hildegardsdother lügt, wenn sie sagt, dass sie ihren Mann umgebracht hat... Nichts für ungut mit deiner Magie, Magret, aber ich glaube, wenn das nicht gewesen wären, also dann würde ich sagen, der Fall ist gelöst und die Frau da drin ist unsere Täterin.«Svetlanas ganzer Körper drückt die Anspannung aus, die auf ihr liegt. Ich spüre ihr Unwohlsein mit jeder Faser meiner Magie. Sie hat Angst, wie ich reagieren werde. Angst hat eine nur vor einer Reaktion, die sie nicht kennt. Folglich gibt es kein effektiveres Gegenmittel, als der betroffenen Person Gewissheit zu verschaffen.»Ich bin dir nicht böse«, sage ich daher schlicht. Ich kann förmlich dabei zusehen, wie sich Svetlana entspannt, sich ihre Schultern ein Stück herabsenken, sich ihre ineinander verhakten Finger wieder voneinander lösen. »Mehr noch, ich bin dir höchst dankbar dafür, dass du mir deinen Eindruck mitgeteilt hast.«»Wirklich?« Man kann die Erleichterung sogar in ihrer Stimme hören.»Wirklich.«Diana nickt.»Ich kenne Magret und ihre Magie schon länger und weiß, was sie kann. Wäre dem nicht so, würde ich deine Einschätzung teilen. Es passt einfach alles zusammen, der ganze Ablauf und alles. Es wäre perfekt.«Ich stutze. Ja, es wäre perfekt - und zwar aus dem einfachen Grund, weil es das auch ist!? Fast schon zu sehr.»Ich muss los. Diana, Svetlana, haltet die Frau noch eine Weile hin. Ich bin in spätestens einer Stunde wieder da.«Die beiden wechseln einen Blick. »Wo willst du hin?«, fragt Diana.»Mich ganz dringend mit Fran unterhalten!«Ich finde Frenja im Schlossgarten. Sie ist nicht allein. Sie steht dort zusammen mit elf Frauen. Keine würdigt die wunderschönen, von kundiger Hand angelegten Blumenbeete eines Blickes. Sie ignorieren auch die majestätischen Bäume, deren miteinander verwobene Kronen dafür sorgen, dass der Boden wie von Sonnenflecken übersät scheint. Zusätzlich zu ihrer Uniform tragen die Frauen noch goldene Reifen um die Oberarme - das Kennzeichen der persönlichen Leibgarde der Goldenen Frau. Es handelt sich um dreißig zentimetergroße Ringe aus purem Gold. Als Teil der Aufnahmeprüfungen der Elitetruppe muss jede den Ring so weit schrumpfen, dass er passgenau am Arm sitzt. Welche die Aufgabe nicht schafft, ist raus. Ganz einfach.Ich kenne genug Frauen, die ausgerechnet an dem Test gescheitert sind. Im Grunde ist es auch unfair: Für eine Frau mit schwacher Metall- oder Goldmagie ist diese Aufgabe ebenso wenig Hindernis wie für eine mit Feuer oder Hitze. Oder zahlreiche Formen wilder Magie könne hierbei hilfreich sein. Aber meine Magie? Keine Chance! So lange die Tradition des Goldenen Reifens und die damit einhergehende Zeremonie aufrecht erhalten wird, werde ich nie Teil der Leibwächterinnen sein. Was mir nichts ausmacht, das wollte ich nie. Nur für einige andere Frauen in meinem Bekanntenkreis tut es mir leid.Was auf den ersten Blick unsinnig erscheint, hat dabei einen tieferen Sinn: Wann immer eine Frau ihre magiefreien Tage hat, kann sie den Reif nicht tragen. Während dieser Woche im Monat hat sie nichts in der Nähe der Goldenen Frau zu suchen. Ein Gemauschel wie bei uns, dass eine, auch während sie so schwach ist wie ein Mann, zur Arbeit kommt, gibt es bei den Leibgardistinnen nicht. Der Goldenen reicht es nicht aus, Frauen voller Intelligenz und Wissen um sich zu haben; welche nicht über ihre gesamte Kampfkraft verfügt, gehört ihrer Meinung nach nach Hause.Eine kluge Einstellung, zweifellos, die leider dazu führt, dass ausgerechnet die Elite unter den Eliten angreifbar ist: Jede Frau hier macht ein großes Geheimnis darum, wann sie verletzlich wie ein Mann ist. Da eine diesen Frauen ihren Zustand jedoch deutlich ansehen kann, bleibt ihnen nichts übrig, als ihre magiefreien Tage in einem sogenannten »Refugium« zu verbringen. Eine clevere Geschäftsfrau erkannte die Nöte der Gardistinnen, als der Goldene Armreif von der vorvorletzten Goldenen Frau eingeführt wurde. Sie bot an, vorübergehend Magiefreie während dieser einen Woche aufzunehmen und zu beschützen. Dieses Angebot wurde im Laufe der Jahrzehnte um zahlreiche Annehmlichkeiten erweitert, so dass die Aufenthalte in Refugien auch bei weniger bedrohten Frauen beliebter wurden. Ich kenne genug gleichgeschlechtliche Ehepaare, bei denen sich die Ehefrauen nur zwei Wochen im Monat sehen, weil jeweils eine während einer anderen Zeit in einem Refugium ist.Der Göttin sei Dank war Fran erst letzte Woche weg. Mir graut jedes Mal vor diesen Tagen, da sie für mich bedeuten, dass ich währenddessen für ihre Schwester Antje verantwortlich bin. Nur leider ist es diesen speziellen Gardistinnen ebenfalls untersagt, zu heiraten oder ein Kind zu bekommen. Sie leben und dienen allein der Goldenen Frau.Soweit zumindest die Theorie. Diese Bevormundung in Sachen Privatleben wäre nichts für mich, Frenja dagegen hat damit kein Problem. Ihre Liebschaften sind zahlreich wie flüchtig: Nie hat sie eine getroffen, bei der sie dauerhaft hätte bleiben wollen. Ihre anstrengende Arbeit sowie die Sorge um ihre kleine Schwester füllen ihr Leben komplett aus; hin und wieder etwas »Spaß für untenrum« scheint ihr vollauf zu genügen.Geduldig warte ich ab, bis die Wortführerin ihren Vortrag beendet hat. Dabei hat sie mehrfach auf diverse Stadtteile gezeigt und jeweils auf einzelne Gardistinnen gedeutet. Frenja sieht mich, nickt mir knapp zu, sagt etwas zu ihren Gardeschwestern und kommt dann zu mir.»Na, Magret, was gibt es?«»Ach, darf ich meine beste Freundin und Lieblingsmitbewohnerin nicht einfach mal so besuchen?«»Natürlich darfst du!« Sie fletscht die Zähne zu ihrem ganz speziellen Frenja-Grinsen. »Aber du tust es nie!«Da hat sie allerdings recht. Dennoch kann ich mir eine kleine Stichelei nicht verkneifen.»Und wenn ich nur kommen und gucken wollte, wie schön eure Armbändchen in der Sonne glitzern? Mal ehrlich, so hübsch putzt sich ja kaum ein Mann heraus und ihre schafft das jeden Tag...«Frenjas Magie trifft mich tückisch von hinten, direkt in die Kniekehlen. Den Trick muss ich mir merken!Während ich versuche, möglichst würdevoll aufzustehen, lacht Fran mich unverhohlen aus. Na herzlichen Dank auch!»Und deswegen, liebste Magret«, sagt sie so zuckersüß, dass ich an mich halten muss, »ist nicht jede dazu auserkoren, bei uns mitzumischen.«»Tja, wir lösen unsere Fälle eben lieber mit Magie UND Intelligenz!«Frenja prustet los.»Ja klar. War ja auch so intelligent, mich zu ärgern und dann nicht auf einen Angriff von hinten gefasst zu sein!«Ich hasse es, wenn sie recht hat.»Außerdem«, fährt sie fort, »musst du gerade etwas sagen! Wer von uns beiden trägt denn sogar dann Schmuck, wenn sie außer Dienst ist?«Reflexartig taste ich nach dem Armband, das ich seit zig Jahren ums Handgelenk trage. Meine Eltern hatten es mir einst geschenkt. Seitdem ist es für mich ein Glücksbringer und Mysterium zugleich. Es taucht regelmäßig in meinen Träumen auf. Die sind gekennzeichnet von einer auf mich zukommenden Gefahr. Einem Rätsel. Meinen Eltern und vor allem meinem Vater, den ein nicht zu fassender Kummer zerreißt. Ach ja, und nicht zuletzt das Ende der Welt. Sollte ich mein Traumtagebuch je einer Seelenärztin zu lesen geben, Frenja könnte mich den Rest meiner Lebtage in einer Irrenanstalt besuchen.»Tss«, mache ich. »Dabei handelt es sich um ein hochwertiges, äh, Schmuckstück, das mit seiner schlichten, stilvollen Eleganz die Stärke seiner Trägerin unterstreicht und ihrer stilvolle-«»»Stilvoll« hattest du schon!«»Und ihrer stilvollen Würde Ausdruck verleiht!«Wie immer zeigt sich Fran gegenüber meinen lyrischen Ausschmückungen nicht im Mindesten gerührt.»Jaja. Was auch immer die Verkäuferin deinen Eltern für eine Bärin aufgebunden hat. Wobei ich allerdings zugeben muss, dass das Teil wirklich nicht übel aussieht.«»Nicht übel«, pah! Selbst die knochentrockene Wissenschaftlerin, der ich das gute Stück neulich für eine Weile zur Untersuchung gegeben hatte, war von der Schönheit des Schmucks angetan. Leider hatte jedoch auch sie mir neben der Tatsache, dass ich mich während der fünf Tage ohne den Schmuck seltsam nackt gefühlt hatte, keine weiteren Kenntnisse bezüglich des Armbandes liefern können. Als ich es gestern endlich wieder anlegen konnte, hatte es sich angefühlt, als würde mich eine Freundin umarmen.Aber zurück zur Arbeit!»Was ich eigentlich von dir wollte, liebste Frenja-«»Aha, also wolltest du doch etwas von mir!« Sie hebt eine Augenbraue und schaut mich angriffslustig an.»Ist, dich zu fragen, ob du mir in Sachen Vergessensmagie weiterhelfen kannst.« Sofort verdüstert sich ihre Miene und ich kenne auch den Grund dafür. »Ich weiß, dass du dich viel damit beschäftigt hast, nachdem Antje angegriffen wurde.« Frenja hat im Laufe der vergangenen Jahre nach so ziemlich jedem Strohhalm gegriffen. Unter anderem hat sie versucht, die Erinnerungen ihrer Schwester an das schreckliche Erlebnis zu löschen, wenn eine Heilung ihres Leibes schon nicht möglich war.Frenja kneift die Augen zusammen.»Was willst du wissen?«»Ganz konkret: Kann eine einer Frau die Erinnerung daran nehmen, eine getötet zu haben? So dass sie bis kurz vor der Tat und dann ab danach wieder alles weiß, nur die Tötung an sich vergessen hat? So dass sie selbst denken würde, dass sie lügt, wenn sie die Tat gesteht?«Frenja schüttelt den Kopf.»Unmöglich! Glaub mir, ich habe mich im ganzen Goldenen Reich in Sachen punktuelle Erinnerungslöschung beraten lassen, habe jede Frau aufgesucht, deren Magie für so etwas auch nur annähernd in Frage kommt. Natürlich kann eine Vergessensmagie im Kopf einer anderen aufrechterhalten, so dass sie sich an eine bestimmte Sache nicht mehr erinnert. Doch sobald die Magie weg ist...« Sie zuckt mit den Schultern. »Wäre es möglich, Magie zu speichern, wäre das alles kein Problem.«»Ha, dann wäre vieles kein Problem!« Zum Beispiel müsste ich mich nicht jeden Monat mit diesen verflixten magiefreien Tagen herumschlagen!»Stimmt. So aber lautete die Antwort in Sachen eine etwas vergessen lassen immer gleich: Ganz oder gar nicht.«»Soll heißen?«»Eine kann das Gedächtnis einer anderen zerstören, das ist kein Problem. Die Gefahr ist da eher, dass eine, wenn sie mit ihrer Magie dabei auch nur einen Millimeter abrutscht, viel mehr zerstört, als sie vorhatte. Das Gehirn ist zu komplex, um ganz erforscht zu sein. Es gibt Frauen, die wissen, wo sich der Erinnerungsspeicher für allgemeine Dinge wie Gesetze des Goldenen Reiches oder die geografische Lage der Freien Hexenstaaten befindet. Weiter gibt es einen Teil des Gehirns, der frische Erinnerungen speichert. Und eine Art Arbeitsgedächtnis.«Ich nicke.»Ich weiß. Heidrun hat mir damals beigebracht, dass eine durch ständiges Wiederholen so gut wie alles dauerhaft in ihrem Gedächtnis abspeichern kann. Wiederholt eine etwas Neuerlerntes jedoch nicht oft genug, fällt es wieder aus dem Speicher raus sozusagen.«»Genau. Es gibt Frauen, die können einen Teil dieser Erinnerungsspeicher löschen. Sie können dich deinen eigenen Namen vergessen lassen; doch du weißt weiterhin, was du eben gegessen hast. Oder andersherum. Beim Arbeitsgedächtnis ist das wohl schwieriger, frag mich nicht warum. Fakt ist, wenn ich diese grundlegende Erinnerung aus Antjes Kopf rauslöschen lassen wollte, müsste eine ihre gesamte Persönlichkeit entfernen, weil das Teil des Ganzen ist. Dann wäre Antje nie mehr die, die sie einmal war.«»Das ist sie doch schon lange nicht mehr!«, will ich sagen, schweige aber. Fran verzieht dennoch das Gesicht. Ich bin ein offenes Buch für sie, ich hätte die Worte genauso gut laut aussprechen können. Doch sie hat sich im Griff und einen Wimpernschlag später ist die grelle Spannung ihres Schmerzes wieder aus der Luft verschwunden.»Auf jeden Fall, liebe Magret, ist das nicht möglich. Eine lediglich ein bestimmtes Ereignis vergessen zu lassen, ist leider absolut unmöglich.« Sie legt den Kopf schief und hebt die Augenbrauen.»Jetzt hast du mich neugierig gemacht. Hast du tatsächlich so einen Fall, bei dem eine Frau ihren Mann getötet hat, es auch gesteht, aber gleichzeitig denkt, sie wäre es nicht gewesen?«Ich grinse.»Versuch das mal einer nach drei Bechern Met zu erklären!«Kapitel Acht8Schade. Für einen Moment hatte ich gedacht, der Lösung auf die Spur gekommen zu sein. Ach Göttin - wieso kann es nicht mal einfach sein?»Weil Heidrun dir den Fall dann nicht gegeben hätte«, lautet die Antwort. Die Zeiten, in denen ich simple Morde an untreuen oder zickigen Ehemännern durch ihre Gattinnen gelöst habe, liegen weit hinter mir. Solcherlei Verbrechen fallen in den Verantwortungsbereich der Stadtgarden und sind dort gut aufgehoben. Meine Frauen und ich werden erst dann gerufen, wenn die Ermittlerinnen nicht weiterkommen. Darauf bin ich stolz.Nachdenklich gehe ich zurück zum Gebäude der Goldenen Garde. Viel lieber hätte ich einen Spaziergang gemacht, um den Kopf freizubekommen, doch das ist heute nicht drin: Sabine Hildegardsdother muss weiter befragt oder entlassen werden. Im Anschluss wartet noch Ricarda von Frankenberg auf mich, die inzwischen von Katharina hergebracht worden sein müsste.»Muss das sein?« Katharina verzieht das Gesicht.Ich kann es ihr nicht verübeln. »Ja, muss es, tut mir leid.«Kathi seufzt schicksalsergeben und steht auf. »Dann bringe ich die Sache am besten so schnell es geht hinter mich.«»Soll ich dir meine Schaufel ausleihen?« Das Gefrotzel kommt von Rebekka.Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.»Ja genau«, schaltet sich Olga ein »oder geht doch am Oberstadtspielplatz vorbei, vielleicht leiht dir eins von den Kindern Schäufelchen und Eimer!«Katharinas Mundwinkel zucken. Ihr steht eine wirklich unschöne Aufgabe bevor.»Bekka«, sage ich zuckersüß, »sei doch bitte so lieb und geh mit, ja? Drei Tote auszugraben ist für eine allein viel zu anstrengend.« Das ist lächerlich und Rebekka weiß das. Entsprechend schürzt sie die Lippen. »Außerdem sollte eine von euch Wache stehen. Ihr wisst doch, wie das ist: Spätestens, wenn ihr den Sarg herausholt, kommt eine Nachbarin und fragt, was ihr da vorhabt.«»Ja. Und ob wir das überhaupt dürfen.« Katharina rollt mit den Augen. »Da ist es wirklich besser, zu zweit zu sein. Komm schon Bekka, das wird lustig!«»Lustig?« Ich runzele die Stirn.Sofort rudert Kathi zurück. »So meinte ich das nicht, Dritte.«»Das will ich aber auch hoffen!« Ich weiß, dass sich viele Gardistinnen im Laufe ihrer Karriere einen schwarzen Humor aneignen, um mit schrecklichen Erlebnissen besser fertig zu werden. Doch ich ziehe eine klare Grenze, wenn es um Tote geht: Wir sind oft die Einzigen, die für sie sprechen und ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie selbst können es nicht mehr, nie wieder. Stirbt eine, so reißt sie eine Lücke in das Leben all der Menschen, die sie geliebt haben. Jede ist unersetzlich für ihre Eltern, Kinder, Partnerinnen. Auch wenn ihre Seelen längst zur Göttin aufgestiegen sind, schulden wir den Körpern dieser Toten Respekt.Kathi fühlt sich mies. Mein Anblaffen hat die Stimmung im ganzen Raum verdunkelt. Ich löse die Spannung mit Absicht nicht auf, sondern fasse im Gegenteil einen spontanen Entschluss.»Diana, übernimm du Frau Hildegardsdother. Nerv sie noch ein bisschen, stell unbequeme Fragen, mach übertrieben viele Notizen und dann lass sie gehen. Ich werde Katharina und Rebekka auf den Friedhof begleiten.«Kathi senkt den Blick. Die Maßregelung trifft sie hart. Gut so, sie muss es lernen!»Was ist mit Frau von Frankenberg?«, fragt Diana vorsichtig. »Kathi hat sie eben extra aus dem Gefängnis der Stadtgarde hergeholt und-«»Dann schick sie mit schönem Gruß zurück!«, sage ich giftig.Diana zuckt mit keiner Wimper, doch die anderen schauen betroffen zur Seite. Keine wagt es, mich anzusehen. Ich werde nur selten laut. Irgendetwas an diesem Fall hat bei mir einen Nerv getroffen. Ich fasse an mein Armband, um mich zu beruhigen. Fühle die einzelnen Steine nach, die darin eingearbeitet sind. Fokussiere mich dabei auf meine Atmung.Mit ruhigerer Stimme fahre ich fort: »Die Befragung wird auf morgen verschoben. Ich weiß, die Stadtgardistinnen werden nicht begeistert sein. Ist nicht zu ändern. Richte den Diensthabenden aus, dafür geht die nächste Runde Fleischtaschen auf mich. Wir holen Frau von Frankenberg dann morgen nochmal her. Oder besser, ich befrage sie einfach in ihrer Zelle. Genau, so machen wir`s. Und jetzt wieder alle an die Arbeit!«Ich liebe den Friedhof von Annaburg. Für die meisten Menschen bedeutet der Ort Abschied und Trauer, für andere Erinnerung und Liebe. Ich hingegen verbinde den Ort trotz all der Opfer von Verbrechen noch immer mit Frieden und Ruhe. Vielleicht liegt es daran, dass hier noch keine meiner Angehörigen zur letzten Ruhe gebettet wurde. Zahlreiche Bäume filtern Licht, Luft und Geräusche. Ohne Menschen wäre das hier wahrhaft ein Paradies!Was wir hier vorhaben, gefällt mir weniger, doch es muss sein. Den ersten Körper, den wir aus der Erde hervorholen, gehört dem Mann der Brauerin. Als wir sein Grab gefunden haben, halten wir einen Augenblick inne und heben unsere Hände in einer bittenden Geste zum Himmel empor. Die Göttin weiß, dass wir die Ruhe der Toten nicht ohne guten Grund stören.Rebekkas Magie eignet sich für derlei Arbeit am besten. Dennoch helfen Katharina und ich mit, erst vorsichtig den Blumenschmuck und dann die Erde vom Grab zu heben. Als der Sarg zum Vorschein kommt, treten Kathi und ich zurück und überlassen Bekka den Rest. Mit meiner auf Wahrnehmung basierenden Magie und Katharinas Tiefensinn ist hier wenig auszurichten. Das bisschen Telekinese, über das jede Frau ebenso verfügt wie die Gabe, unter Magie ein kleines Feuer zu machen und sämtliche Sprachen der Welt zu verstehen, reicht nicht aus, um den Sarg aus massivem Eichenholz zu bergen.Sanft zieht Rebekka den Sarg nach oben, lenkt ihn zur Seite und lässt ihn sacht zu Boden sinken. Wir halten inne. Keine ist scharf darauf, das zu tun, was als Nächstes getan werden muss. Ich unterdrücke ein Seufzen. Ich bin die Dritte, also ist es an mir.Ich entferne Stück für Stück die Nägel, die entlang der linken Seite befestigt sind. Nun könnte selbst ein Mann den Sargdeckel öffnen. Es ist Frühjahr und noch nicht allzu warm. Dennoch, Maik Annabellsmann ist bereits seit drei Wochen tot. Nützt ja nichts!Ich will gerade den Deckel nach oben schieben, als mich eine von hinten anbrüllt:»Ey, Sie da! Was mache Sie da?«Eine dumme Frage, denn die Antwort ist offensichtlich. Ich setze ein Lächeln auf und drehe mich um. Wenige Meter vor uns hat sich eine Dame aufgebaut, eine Hand in die knochigen Hüften gestemmt, die andere magiebereit erhoben, und mustert uns mit verkniffener Miene.»Also?«»Guten Tag!«, sage ich betont höflich. »Mein Name ist Magret Beathesdother. Das hier sind Katharina von Ostwig und Rebekka Tischlerin. Wie Sie an unseren Uniformen unschwer erkennen können, sind wir Goldene Gardistinnen. Wir führen hier im Zuge einer Ermittlung Untersuchungen durch. Ich möchte Sie daher bitten, Abstand zu nehmen und uns in Ruhe weiterarbeiten zu lassen!«»Goldene Gardistinnen, wie? Na das kann ja jede sage!«, erklärt sie, senkt aber immerhin die Hand.Katharina seufzt.»Ich wusste, dass irgendeine sich wieder aufregen wird«, raunt sie mir zu. Ich nicke.»Mein Mann war gerade dabei, die Fenster zu putze. Da sagte er: »Irmgard«, sagte er, »guck mal, was mache die denn da?« Die Frau macht eine Pause und schaut mich herausfordernd an. Ich unterdrücke ein Seufzen.»Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, führen wir eine Untersuchung durch. Mehr kann und darf ich Ihnen leider nicht sagen.«Meine Magie dankt mir die Notlüge mit einem schmerzhaften Stich.Die Frau biegt sich umständlich zur Seite und linst an uns vorbei auf den Grabstein.»Das ist ja dem Maik sein Grab!«»Ja. Wenn Sie uns nun bitte weiterarbeiten lassen würden?«»Ja, aber was wolle Sie denn von dem?«, fragt sie und zeigt mit dem Finger in Richtung Grab, ganz so, als stünde dort tatsächlich Herr Annabellsmann und es gälte, ihn zu beschützen.Ich spüre, wie erneut Ärger in mir aufsteigt. Wo ist meine übliche Gelassenheit, meine innere Ruhe hin?»Liebe Frau...?«»Hä?«Ich beschließe, das Beste aus der Situation zu machen. Welche weiß, vielleicht kann uns diese neugierige Person ja sogar weiterhelfen?»Wie heißen Sie bitte?«»Irmgard von Weidenhausen.«»Gut, Frau von Weidenhausen. Leider kann und darf ich Ihnen nicht sagen, weshalb wir hier eine Untersuchung durchführen. Kannten Sie den Toten?«»Ob ich der Annabell ihren Mann kannte? Aber natürlich kannte ich den! Hübsches Kerlche war das, also das kann ich Ihnen aber sage! Nur ins Gesicht konnte eine dem nicht gucke, wa, hat immer so eine Fresse gezoge!« Sie lacht. »Dabei hat der es doch gut gehabt bei der Annabell, würde ich meine. Geld hat die ja wohl genug!«»Sie meinen, er war in der Ehe nicht glücklich?«»Hä?« Einen Moment lang starrt mich die Frau verständnislos an. Dann schüttelt sie sich und lacht wieder. »Glücklich? Welche interessiert es, ob ein Mann glücklich ist? Seine Frau hat für ihn gesorgt, das sollte doch reiche, meine Sie nicht? Glücklich, wa, dass ich nicht lache!«Tja. Ich hatte Georg auch gut versorgt. Hatte ihm ein Dach über dem Kopf gegeben; er hatte es immer trocken und warm, hatte genug zu essen und zu trinken, Kleidung, den kleinen Gemüsegarten, von dem er so lange geträumt hatte, keine Sorgen. Er bekam hin und wieder ein kleines Geschenk... Was soll ich sagen? Trotzdem hat ihm das nicht gereicht. War ihm alles nichts wert ohne ein Kind. Da fällt mir etwas ein.»Haben die beiden eigentlich ein Kind?«Meine Frage war an Kathi gerichtet, dennoch fühlt sich Frau von Weidenhausen bemüßigt, zu antworten:»Natürlich nicht! Wann soll die Annabell denn dafür bitte schön Zeit gehabt habe? Als Brauerin hält sie den ganzen Lade auf Trab, wie soll das bitteschön gehe, wenn sie neun Monate lang keine Magie hat, wa?«Ich stimme ihr zu. Trotzdem ärgert es mich, dass ich den Status des Mannes nicht vorher überprüft habe. Frauen finden nach den neun Monaten ohne Magie schnell wieder in ihren Alltag; Männer verändern sich interessanterweise extrem, wenn sie Väter werden. Sie werden noch emotionaler und fürsorglicher. Nun, die Große Göttin wird sich schon etwas dabei gedacht haben!»Wollte Herr Annabellsmann denn Kinder, wissen Sie das?«Sie schaut mich fast mitleidig an. »Das wolle die Männer doch alle, wa?«Stimmt.»Gut, Frau von Weidenhausen, dann danke ich Ihnen sehr für Ihre Hilfe.«»Ach ja?«Sie kneift wieder die Augen zusammen und zeigt dann mit einem knochigen Finger auf das frisch geöffnete Grab.»Aber dass Sie mir ja die Sauerei wieder wegmache!«»Natürlich. Vielen Dank!«Sie wirft uns noch einige skeptische Blicke zu, dann dreht sie sich endlich um und geht zurück. Sie verschwindet in einem dem Friedhof direkt gegenüberliegenden Haus, dessen Gardinen sich am obersten Fenster verdächtig bewegen. Wetten, dass da Herr Irmgardsmann steht? Göttin, was würden wir nur ohne all die neugierigen Hausmänner tun? In Ruhe arbeiten vermutlich.»Los, Mädels, bevor hier die nächste auftaucht!«Ich hebe den Deckel an, trete einen Schritt zurück und atme flach durch den Mund. Der Anblick ist alles andere als schön, aber ich habe schon Schlimmeres gesehen. Viel Schlimmeres.»Kathi?«Sie nickt und tritt an den Sarg. Hält die Hände mit den Flächen nach unten über den Toten. Schließt die Augen und neigt den Kopf leicht zur Seite, ganz so als würde sie auf etwas horchen. Sie bewegt die Hände zu allen Seiten, tastet mit ihrem Tiefensinn den gesamten Körper ab. Schließlich lässt sie die Arme sinken, öffnet die Augen und nickt.»Ich denke, ich habe alles.«»Gut.« Erst nachdem ich den Sargdeckel wieder geschlossen habe, frage ich: »Was hast du herausgefunden?«»Der Tote ist eindeutig ermordet worden. Seine inneren Organe, die Gefäße, alles ist...« Sie schaudert. »Wie gekocht.«Das erklärt einiges, was das Aussehen der Leiche anbelangt. Ich unterdrücke ein Würgen.»Was meinst du«, frage ich, »müssen wir ihn noch einer Leichenärztin zeigen?«Kopfschütteln.»Nein, die Sache liegt klar auf der Hand. Stell dir vor, dein Mann würde ein Stück Hähnchenbrust in einen Topf kochenden Wassers werfen und nach zehn Minuten wieder herausholen. So sieht der Mann aus.«Rebekka hustet verdächtig.Ich hasse mich dafür, dass ich die nächste Frage stellen muss:»Heißt das, nun, dass er innen drin noch roh ist, oder ist er ganz durch?«»Nein, der ist«, Kathi räuspert sich, »ganz durch.«Rebekka entfernt sich mit raschen Schritten. Kurz darauf hören wir unschöne Geräusche. Ich kann es ihr nicht verübeln.»Kathi, ist bei dir alles in Ordnung?«Sie nickt.»Hab schon Schlimmeres gesehen.«»Alles klar. Dann komm, pack mal mit an!«Eine bleiche Rebekka kommt und befördert den Sarg vorsichtig, wenn auch etwas wackelig, zurück in die Grube. Schweigend schütten wir das Grab zu, setzen die Blumen wieder darauf. Als wir fertig sind, deutet nichts darauf, als ob sich eine an der letzten Ruhestätte von Herrn Annabellsmann, geborener Idassohn, zu schaffen gemacht hat.Bekkas Gesicht hat wieder seine gewohnte Farbe angenommen. Ich beschließe, sie nicht nach ihrem Befinden zu fragen, sondern über den Vorfall hinwegzusehen. Sie ringt sichtlich mit sich. Ich kann nur hoffen, dass der nächste Tote nicht so übel zugerichtet ist.Meine Hoffnungen werden nicht erfüllt. Wolf »Wolfi« Sabinesmann bietet einen fast friedlichen Anblick. Der Eindruck trügt, wie uns Kathi erklärt.»Ich habe nicht so viel Ahnung von Herzen, aber...« Kurz bricht ihre Stimme weg. »Nun ja, das hier sieht übel aus. Richtig übel. Als hätte es eine so lange zusammengequetscht, bis Adern und eine Klappe geplatzt sind.«Lecker. Leider muss ich das genauer wissen. »Kann so eine tödliche Verletzung auch einen äußerlichen Ursprung haben?«»Nein, das kam ganz eindeutig von innen. Drumherum ist alles intakt. Außer eben das Herz.« Sie schaudert. »Kein schöner Tod. Kein schneller Tod! Er muss gewusst haben, dass er sterben wird.«Rebekka schüttelt den Kopf.»Sie hat ihm regelrecht das Herz gebrochen.«»Nein. Sie hat es zermalmt.«Dem gibt es nichts hinzuzufügen. Schweigend machen wir uns wieder an die Arbeit. Als wir den dritten Sarg öffnen, hat unsere Stimmung den Tiefpunkt erreicht.Sebastian Ricardasmann, dessen Ehefrau die Tötung leugnet, ist erst vor Kurzem beigesetzt worden. Er wurde durch mehrere Schüsse Eismagie in Brust und Hals getötet. Laut Katharina gibt es an der Art der angewandten Magie nicht den geringsten Zweifel.»Bei Eismagie bilden sich so eine Art Verbrennungen«, erklärt sie, doch ich winke ab.»Wenn du sagst, das war eindeutig Eis, dann war es eindeutig Eis. Möchte eine von euch raten, welcher Art die Magie von Ricarda von Frankenberg ist?«Kapitel NeunDie Stadt rauscht an mir vorbei. Ich stehe auf dem magisch betriebenen Gehweg und hänge meinen Gedanken nach. Rebekka und Katharina habe ich direkt vom Friedhof aus nach Hause geschickt. Mir ist jedoch nicht danach, Feierabend zu machen. Ich möchte mein Zuhause nicht mit meinen düsteren Gedanken besudeln. Muss erst zur Ruhe kommen.Mein Ziel ist der Gasthof oberhalb des Marktplatzes. Vielleicht kann ich meine trübe Stimmung mit ein paar Bechern Met, serviert von einem der schnuckeligen Kellner dort, hinunterspülen.Was mir so nahe geht, ist nicht der Fall an sich, obwohl der es in sich zu haben scheint. Was mich stört, ist die Tatsache, dass mich etwas gewaltig stört. Und, dass das überhaupt keinen Sinn ergibt.Meine Magie ist schwammig. Dennoch weiß sie immer, was los ist. Ich spüre es, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Wenn eine mit Absicht lügt oder etwas verschweigt. Stimmungen wie Unwohlsein, Kummer oder ein schlechtes Gewissen: alles kein Problem. Doch hier? Spüre ich nur gewöhnliche Lügen. Das ist das Problem mit Toten: Sie können mir nichts mehr sagen.»Hier, bitte!«Der Kellner reißt mich aus meinen Gedanken. Ich beschließe jedoch, ihm zu verzeihen, da er einen erfreulich vollen Becher vor mir abstellt.»Danke!«Echt süß, der Kerl. Ich erlaube mir einen Blick auf seinen knackigen Hintern. Es gibt doch nichts Besseres, um eine Frau aufzubauen, als einen hübschen Mann anzuschauen!Ich nehme einen tiefen, genüsslichen Schluck. »Als hätte dir ein Engelchen auf die Seele gepinkelt«, würde meine Mutter jetzt sagen. Apropos: Ich hole mein Traumtagebuch hervor. Gestern Nacht war es wieder so weit. Bislang war ich noch nicht dazu gekommen, das Geträumte aufzuschreiben. Ein gewisser Frust macht sich in mir breit, als ich einen Stift hervorkrame. Um jemals zu erfahren, was es mit diesen Träumen bezüglich meines Armbandes auf sich hat, muss ich dieses Rätsel endlich lösen!Seit einiger Zeit bin ich zudem dazu übergegangen, mir bei jedem Traum zu notieren, an welchem Tag meines Magiezyklus ich mich befinde. Ach ja, morgen ist es ja wieder so weit. Es muss einen Zusammenhang mit irgendetwas geben. Ich werde nicht aufgeben, ehe ich ihn nicht gefunden habe!Anders als bei der Arbeit nehme ich hierfür den Stift tatsächlich in die Hand. Ich habe eine typische Frauenklaue. Macht aber nichts. Keine außer mir wird das hier je zu lesen bekommen.Ich setze den Stift an und schreibe.»Ich stehe auf einer Wiese. Der Himmel über mir ist blau und ohne Wolken. Vögel zwitschern und Schmetterlinge flattern umher. Bienen summen. Ich drehe mich um. Meine Eltern kommen auf mich zu. Mein Vater geht voran, was er im wahren Leben nie tun würde. Er lächelt und weint vor Freude. Er gibt mir das Armband. Ich lege es an und die Tränen aus seinen Augen werden zu Blut. Ich hebe den Kopf. Tiefviolette Wolken peitschen über den schwarzen Himmel. Ich senke den Kopf wieder. Meine Mutter ist an ihren Mann herangetreten, hat schützend einen Arm um ihn gelegt. Sie schaut mich an und schüttelt den Kopf. »Das ist das Ende«, sagen die beiden.Göttin, tut das gut! Nach dem vierten Becher Met habe ich endlich die düsteren Gedanken aus meinem Kopf vertrieben. Der Alkohol sorgt dafür, dass sich alles leicht und weich anfühlt. Lügende Frauen? Kein Problem. Tote Männer? Tragisch, aber leider nicht zu verhindern. Die Welt ist, wie sie ist. Noch ehe die Woche um ist, werde ich wissen, welche die Männer umgebracht haben und wieso sie deswegen lügen. Oder lügt die Lügenleserin? Ich kichere.»Welche lügenliest diejenigen, die lügenlesen?«, frage ich den süßen Kellner, aber der zuckt nur mit seinen zauberhaft breiten Schultern. »Schon gut, Kleiner«, sage ich gönnerhaft, was sonst nicht meine Art ist. Hui, ich fürchte, ich habe einen sitzen!Ich winke den Kellner heran.»Zahlen bitte. Äh, und sag mal, das hier war doch erst mein viertes, oder?«Er macht einen Schritt zurück und hebt die Hände, ganz so, als erwarte er Ärger.»Nein, keine Sorge, ich will es nur wissen!« Ich lächele ihm aufmunternd zu. »Eine Goldene Gardistin zecht keine Prelle.« Verflixt, wieso ist meine Zunge so schwer? »Ich meine, prellt keine Zische. Ach Frau, du weißt schon, was ich meine!«Er lächelt nervös, kommt aber wieder näher.»Das, äh, waren sechs, wenn Sie nichts dagegen haben...«»Sechs Met?« Bei der Großen Göttin, ich hatte mehr Durst, als mir klar war. Sechs Met, verflixt, dabei muss ich morgen früh topfit sein!Ich zahle und gebe dem Kellner dazu ein ordentliches Trinkgeld. Hoffentlich habe ich ihm nicht allzu auffällig auf den Hintern gestarrt! Denn auch wenn ich mich nicht so fühle, sprechen die Fakten für sich: Sechs Met bedeuten, dass ich hackenvoll bin.»Das heißt, betrunken«, korrigiere ich mich. Habe immerhin einen gewissen Stil zu wahren. Ist mir nur gerade egal. »Ich bin voll bis obenhin!«, verkünde ich. Der Kellner sieht mich seltsam an. Habe ich das laut gesagt? Ach egal. Und jetzt ab nach Hause!»Aua.«Alles fühlt sich ekelig und falsch an. Übelkeit steigt in mir auf. Na großartig, jetzt wird mir schon von mir selbst schlecht!»Frenja?«, rufe ich versuchsweise.Der Göttin sei Dank erhört sie meinen Ruf.»Frau, du siehst scheiße aus!«»Danke für diese wertvolle Information. Könntest du mal bitte?«Ich ignoriere Frans schadenfrohes Grinsen. Soll sie doch da am Fuß meines Bettes stehen und sich lustig machen - Hauptsache, sie hilft mir!»Frenja, komm schon!«, bettele ich und umklammere mein Handgelenk mit dem Armband. »Entweder du hilfst mir jetzt oder du kannst dir anhören, wie ich kotzen gehe!«Meine Freundin hebt pikiert die Augenbrauen.»Also wenn du dich so ordinär ausdrückst, muss es dir ja verdammt schlecht gehen. Na schön, ich helfe dir. Aber du solltest wirklich besser aufpassen!«»Jaja«, brumme ich. »Eine Gardistin, die zu viel trinkt, Klischee vom Feinsten, ich weiß!«»Ich habe dir einen Eimer warmes Wasser im Bad hingestellt! Also wasch dich, um der Göttin Willen!«»Gut«, sage ich resignierend.»Gut!«Eine Sekunde später spüre ich, wie Frenjas Magie sich über mich legt. Ihre Magie ist wild und stark, nichts, was ich normalerweise auf leeren Magen empfehlen würde. Das hier ist jedoch ein Notfall. Frans Magie drängt sich zwischen mich und meine eigene. Ich atme auf. Ich fühle nicht mehr, was in meinem Körper gerade alles falsch ist. Beziehungsweise spüre ich es nur noch mit meinem Körper, nicht aber per Magie. Schlagartig geht es mir besser. Jetzt muss ich zusehen, dass ich alles Nötige irgendwie hinbekomme, bevor Frenja zur Arbeit muss. Sobald sie ihre Magie in mir nicht mehr aufrechterhält, bin ich wieder meiner eigenen Magie ausgeliefert.Ich stehe auf und gehe mich waschen. Frenja hat das Wasser auf die perfekte Temperatur gebracht. Ich esse und trinke etwas, bringe meinen Kreislauf in Schwung. Als sich Fran schließlich mit einer Mischung aus Vorwürfen und Spott verabschiedet, bin ich halbwegs wieder hergestellt. Dennoch: Einen Sprint werde ich heute nicht hinlegen können. Mein Kopf ist wie verkleistert, das Denken sollte ich heute anderen überlassen. Verblüfft stelle ich fest, dass ich, wenn ich es nüchtern betrachte, arbeitsunfähig bin. Ich werde heute nicht in der Lage sein, mein Bestes zu geben. Einen Teil von mir haut diese Erkenntnis fast um. Ein anderer denkt: »Was soll`s?«Der Tag wird nicht besser. Kaum, dass ich das Gebäude der Goldenen Garde betreten habe, stürmt Frieda auf mich zu.»Dritte, ich muss dringend mit dir sprechen!«»Hat es mit einem Fall zu tun?«»Nein, aber-«»Geht es um Leben oder Tod?« Ich unterdrücke den Impuls, mir die Ohren zuzuhalten. Göttin, wieso muss das Küken so laut sprechen?»Ja! Ich meine nein, also schon ein bisschen, weil-«»Was denn jetzt«, unterbreche ich sie, »ja oder nein?«Frieda hält kurz inne, senkt dann den Kopf. »Nein.«»Dann verschone mich heute damit.«»Aber Magret, es geht um diese Sache mit der Ostgarde, also diese Mission, da wollte ich-«»Jetzt nicht!«Frieda zuckt unter meinem schroffen Ton zusammen. Die anderen Frauen starren mich an.»Was?«, blaffe ich. »Habt ihr nichts zu tun?«Sofort machen sich die Frauen wieder an die Arbeit. Nur Frieda steht wie versteinert da. Von mir aus soll sie doch, wenn sie meint!Ich flüchte mich in die Teeküche. Es dauert keine drei Sekunden, bis Diana hereinkommt und sorgsam die Tür hinter sich schließt.Dann baut sie sich vor mir auf, verschränkt die Arme.»Was ist los?«»Gar nichts.« Ich reibe mir das Gesicht. »Ich bin nur müde und ein bisschen verkatert, das ist alles.«»Muss ich mir Sorgen machen?« Ich zwinge mich, Dianas fragendem Blick standzuhalten.»Nein. Darf ich nicht auch mal schlechte Laune haben?«Diana runzelt die Stirn.»Ich kenne dich, wenn du schlechte Laune hast. Das hier ist etwas anderes.«Kampf? Flucht? Sich tot stellen?Was für eine Frage, ich bin Goldene Gardistin und kein kleiner Junge!»Ich habe gestern zu viel getrunken. Der Fall hat etwas an sich, das an meinen Nerven nagt. Dass ich nicht darauf komme, nervt mich zusätzlich.«»Das ist alles?«»Ja, Diana, das ist alles.«»Soso.«Meine Gardeschwester lässt mich nicht aus den Augen, als ich aufstehe und zwei Tassen aus dem Schrank hole.»Tee?«Eine war so freundinlich, eine halb mit Wasser gefüllte Karaffe stehen zu lassen, so dass ich mir kein neues aus der Leitung ziehen muss. Ich schenke uns ein und krame dann in der Schublade nach Teebeuteln.»Früchtetee, wie immer?«»Ja«, sagt Diana und schiebt mich im nächsten Moment sanft zur Seite. »Aber ich trinke meinen Tee lieber heiß, also lass mich mal!«»Hä?« Was soll das denn jetzt?»Das heißt »wie bitte?««»Wie bitte?«Sie schaut mich seltsam an.»Was ist denn heute los mit dir? Magret, du hast seit heute deine magiefreien Tage, schon vergessen?«Stimmt ja! Wie konnte ich das vergessen? Da ich hier viel an Organisatorischem zu regeln habe, habe ich es mir angewöhnt, auch ohne Magie zu arbeiten. Ist auch besser, als in einem leeren Zuhause herumzusitzen. Dennoch... Ich starre in die Tasse vor mir, die dank des Teebeutels langsam von farbigen Schlieren durchzogen wird. Es stimmt, ich habe seit Mitternacht meine magiefreie Woche. Das hatte ich vor lauter Verkatert-Sein ganz vergessen. Aber war da nicht... Ich könnte schwören, dass meine Magie... seltsam.»Magret?«»Hm?«»Ich habe gefragt, ob mit dir alles in Ordnung ist?« Diana schaut mich prüfend an.»Ja, bitte entschuldige, ich war nur in Gedanken.«Deshalb hatte Frenja heute Morgen das warme Wasser für mich vorbereitet! Und ich hatte gedacht, sie hatte mir einfach etwas Gutes tun wollen. Da haben mir meine alkoholdurchtränkten Sinne wohl einen Streich gespielt, als ich dachte, meine Magie würde auf mein Unwohlsein reagieren... Probehalber versuche ich, den Tee in meiner Tasse zu erhitzen. Nichts. War ja klar.Ich schüttele über mich selbst den Kopf.»Also Diana, was steht heute alles an?«Im Grunde genommen macht es keinen Sinn, dass ich das Verhör von Ricarda von Frankenberg führe. Ich habe genügend Top-Leute dafür und bin ohne Magie so hilfreich wie ein Mann. Na ja, fast. Ich bilde mir ein, auch so nützlich zu sein. Zu arbeiten, obwohl sie ohne Magie ist, würde ich keiner meiner Frauen durchgehen lassen. Das ist dumm. Mehr noch: Es ist unverantwortlich! Im vergangenen Jahr hat mich genau dieses Verhalten in Lebensgefahr gebracht. Theoretisch könnte ich Frau von Frankenberg auch erst nächste Woche verhören. Ist ja nicht so, als könnte sie weglaufen. Sie sitzt im Gefängnis der Stadtgarde und somit an einem der sichersten Orte der Welt. Ich könnte...Nein!Ich seufze und setze mich auf. Da ist nichts zu machen, das kann ich mir nicht schönreden. Ich muss die Befragung delegieren. Ich hasse es!Nein, ich hasse es nicht! Ich arbeite hier mit den Besten der Besten zusammen. Zu denken, keine wäre so gut wie ich, ist dumm. Zu glauben, ich könne alles allein schaffen und noch dazu ohne Magie: ebenfalls dumm. Wo ist das Vertrauen hin, dass ich sonst in meine Frauen habe? Ich bin derzeit irgendwie nicht ich selbst. Längst müsste ich ein Team für den Fall, so es denn ein Einzelner ist, zusammengestellt haben. Damit werde ich gleich anfangen. Doch vorher sollte ich mir noch anhören, was das Küken so Dringendes von mir wollte.Kapitel 1ZehnBitte Magret!« Frieda schaut mich flehend an. »Ich weiß, dass ich es schaffe!«»Ja. Auf besonders grausame Art getötet zu werden! Du bist einfach noch nicht soweit!«Die Auszubildende scheint anderer Meinung zu sein. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und hebt das Kinn.»Ich habe dir in der Tränenburg das Leben gerettet!«»Und das danke ich dir nicht, indem ich dich in den sicheren Tod schicke!«, sage ich betont harsch.»Aber ich-«»Nein, Frieda, und das ist mein letztes Wort! Ich sehe ein, dass du dich beweisen möchtest. Das brauchst du nicht, du bist hier schließlich unter deinesgleichen, dennoch verstehe ich deinen Wunsch.« Es ging mir damals nicht anders. »Deswegen habe ich beschlossen, dich mit in das Team für den neuen Fall zu holen.«Friedas Augen weiten sich.»Was für ein neuer Fall denn?«»Wir haben es vielleicht mit einer Mordserie zu tun. Aber nur vielleicht. Genauso gut kann es sein, dass die Morde nichts miteinander zu tun haben.«»Also läuft dort draußen entweder eine Mörderin herum oder sogar mehrere?«»Halt, nicht so hastig!«, dämpfe ich ihren neu entfachten Eifer. »»Mörderin« ist vielleicht etwas hoch gegriffen, ich habe mich unklar ausgedrückt. Es geht um Fälle häuslicher Gewalt, die für die Ehemänner tödlich endeten.«Der Eifer der Auszubildenden erlischt so schnell, wie er aufgeflammt ist.»Oh, ach so. Nichts Besonderes also.«»Nun ja, kommt ganz darauf an. Eine der Frauen hat eine Lügenleserin angeheuert, die vor Gericht geschworen hat, dass sie unschuldig ist. Die zweite sagt, sie hätte ihren Gatten getötet, lügt aber dermaßen schlecht, dass sie nicht mal einen Mann hinters Licht führen könnte.«»Ja, wie jetzt? Da gesteht eine einen Mord, den sie gar nicht begangen hat?« Sie schüttelt den Kopf. »Wieso? Welchen Sinn sollte das haben?«»Das kann ich dir auch nicht genau sagen. Ich vermute aber, dass sie nicht ganz so dumm ist, wie es den Anschein hat. Oder eher, hm, wie soll ich sagen? Gerissen ist. Sie hat ja keinen Mord gestanden, sondern lediglich, dass der Streit mit ihrem Mann eskaliert ist.« Traurig, tragisch, aber alltäglich. »Sie hat ihre drei Tage abgesessen und der Mutter ihres Gatten die Strafsumme gezahlt. Damit ist sie raus, während die dritte im Bunde, eine gewisse Frau von Frankenberg, ihre Unschuld beteuert und noch immer bei den Kolleginnen von der Stadtgarde in einer Zelle hockt.« Ich zucke mit den Schultern. »Wenn du mich fragst, wäre es das Gescheiteste, sie würde auch zu ihrer Tat stehen.«Friedas Gesicht hat einen nachdenklichen Ausdruck angenommen.»Du meinst, eine steht besser da, wenn sie die Tötung ihres Mannes zugibt, obwohl sie es nicht gewesen ist, als wenn sie weiter ihre Unschuld beteuert? Das ist doch bescheuert!«»Ja«, gebe ich zu. »Aber so ist es eben. Weswegen ich auch nicht weiß, wieso diese Sabine unbedingt eine Lügenleserin anheuern musste.« Vermutlich nur, weil sie mit ihr befreundinet ist. Mit dem Geld, dass sie ansonsten für die Dienste von Frau Tamarasra ausgegeben hätte, könnte eine locker eine dreiwöchige Urlaubsreise machen.»Vielleicht«, sagt Frieda zögerlich, »wird es nicht hart genug bestraft, wenn eine ihren Mann umbringt?«Ich lache freudlos.»Na ja, wie gesagt, Mord ist das ja nicht direkt. So etwas passiert einfach schonmal im Eifer des Gefechts. Wir Frauen können schließlich nichts dafür, dass wir so viel stärker als Männer und die so zerbrechlich sind. Wenn du jede Frau, der im Streit die Magie ausrutscht, lebenslang einkerkern möchtest, hätten wir bald die Straßen leer!«Das ist zwar etwas übertrieben, trifft aber den Punkt.Frieda nickt.»Du hast recht. So habe ich das noch gar nicht gesehen. Aber wo genau sieht Frau von Borgentreich jetzt eine Verbindung zwischen den Fällen?«Ich wiederhole im Geist, was Heidrun mir erzählt hat.»Zum einen ist es der Zeitraum, in dem die drei Vorfälle stattgefunden haben. An und für sich ist jeder einzelne keine große Sache. Aber zusammengenommen haben wir drei tote Ehemänner innerhalb von drei Wochen. Glaub mir, liebe Frieda: Du kommst in diesem Hyäninnenbecken nicht weit, wenn du anfängst, an Zufälle zu glauben. Zweitens die Aussage der Lügenleserin. Die ist unanfechtbar. Was meine Magie mir dazu gesagt hat, passt: Frau Hildegardsdother hat ihren Mann nicht getötet. Annabell Junisra auch nicht. Was mit der dritten Frau ist, Ricarda von Frankenberg, bleibt abzuwarten, doch auch da haben wir bereits von Tamarasra die Aussage, dass sie unschuldig ist.«»Und drittens?« Sie schaut mich erwartungsvoll an.»Wie, drittens?«»Na ja«, Frieda grinst verlegen. »Gibt es nicht immer ein drittens?«»Oh. Ach so. Ja.« Was ist nur mit mir los, verflixt? »Drittens, ja. Die Leichen. Ich war mit Bekka und Kathi auf dem Friedhof und habe mir die Männer angeschaut. Beziehungsweise Kathi mit ihrem Tiefensinn. Alle Toten weisen Verletzungen auf, wie sie für die Magiearten ihrer Frauen charakteristisch sind: Eis, Verschmelzung und Herzmagie.«Frieda ist im Laufe des Gesprächs wieder sichtbar munterer geworden. Ob ich es geschafft habe, sie für den Fall zu interessieren?Sie kratzt sich am Kinn, legte die Stirn in Falten.»Das sind eine Menge Ungereimtheiten. Ich meine, eine leugnet die Tat und hat recht, eine gesteht die Tat und lügt, die Magien sind alle drei unterschiedlich und doch sieht die schöne Heidrun eine Verbindung.«»Für dich immer noch Frau von Borgentreich!«, sage ich scharf.»Oh. Ach so. Entschuldige bitte.«Ich grinse.»Bei mir brauchst du nicht um Verzeihung zu bitten. Aber sollte Heidrun jemals hören, dass du sie so nennst, möchte ich nicht in deiner Haut stecken!«Mein Schädel brummt immer noch, als Maike von der Stadtwache zurückkommt. Wir waren darin übereingekommen, dass es das Praktischste ist, Frau von Frankenberg in ihrer Zelle zu befragen. Maike verfügt über eine extrem weiche Magie, mit der sie die Stimmung ihrer Gegenüber zu beeinflussen vermag. Im Guten wie im Schlechten. Bei einem Kampf steht Maike daher in der zweiten Reihe - und leistet von dort aus unschätzbare Dienste! Mir sind schon so einige Frauen vor die Magie gelaufen, weil sie ein plötzlicher Schlag depressiver Gefühle aus der Bahn geworfen hat. Auch das Gegenteil, totaler Übermut, kann für eine Frau tödlich enden. In Sachen Befragungen dürfte Maike daher einen guten Job machen.Der Bericht, den sie mir erstattet, fällt allerdings spärlich aus.»Sie sagt, dass sie es nicht war«, fasst Maike noch einmal zusammen. »Und glaub mir, Dritte, ich habe wirklich alles versucht!«»Was ist dein Eindruck?«»Nun, ich bin natürlich keine Lügenleserin, aber... Ich glaube ihr: Ihre Magie ist ja gefesselt, also hatte sie meiner nichts entgegenzusetzen.« Der Gedanke, Maike vollkommen ausgeliefert zu sein, lässt mich schaudern. Sie könnte eine ohne Probleme in den Selbstmord treiben, ließe eine ihr nur genug Zeit dafür. »Meines Erachtens sagt sie die Wahrheit.«»Gut. Danke.«Erwartungsvoll schaut mich die Gardistin an.»Kann ich dann jetzt Feierabend machen? Normalerweise würde ich nicht fragen, Dritte, aber Timo hat heute Geburtstag und letzte Woche hast du gesagt...?«Ach ja. Das hatte ich ja ganz vergessen.»Jaja, schwirr ab!«»Danke! Bis morgen!«»Bis morgen!«Ich starre Maike hinterher und dann auf die Tür, die wie immer zum Flur hin offensteht. Was ist nur in der letzten Zeit los mit mir? Ständig vergesse ich Wichtiges, sogar, dass meine magiefreien Tage beginnen! Welche Frau vergisst denn bitte schön so etwas? Vielleicht sollte ich auch einmal ein Refugium aufsuchen. Heidrun schwärmt immer so von ihrem. Wobei ich mir das von meinem Gehalt sicher nicht leisten kann. Die Miete für die Wohnung, Georgs Unterhalt und dann meine Eltern... Seit meine Mutter Großmutter wurde, reicht mein Gehalt nur knapp für alle. Extras sind nicht mehr drin. Leider. Versonnen spiele ich an meinem Armband herum. Schade, dass es nicht wertvoll ist. Doch jede Fachfrau, der ich es bislang gezeigt habe, hat mir versichert, dass es sich um einfache und häufig im Boden vorkommende Steine handelt.Trotzdem: Irgendetwas stimmt nicht und ich muss endlich herausfinden, was! Die Träume. Mein merkwürdiges Unwohlsein. So etwas hatte ich schon einmal. Ich hatte mein Armband bereits einige Male an Fachfrauen gegeben, von denen ich mir erhofft hatte, sie könnten mir weiterhelfen. Erfolglos. Dafür hielten mich einige für verrückt. Zweimal war ich anschließend krank. Freilich hatte ich damals keinen Zusammenhang gesehen. Wieso auch? Keine wird krank, nur weil sie einer anderen ein Schmuckstück geliehen hat. Einmal? Zufall! Zweimal? Passiert. Aber dreimal? Ich wäre eine vollkommen blinde Närrin, hinter meinen Anfällen von Schwindel und Übelkeit und dem Armband keine Verbindung zu sehen. Bloß erkennen kann ich ihn nicht.Ich denke, es ist Zeit, etwas zu trinken.Im Gasthof angekommen setze ich mich an den Tresen, ordere einen Met und grübele noch eine Weile vor mich hin. Als der Becher leer ist beschließe ich, es für heute gut sein zu lassen und mich angenehmeren Dingen hinzuwenden. Es ist ja sonst nicht meine Art, Kellner anzusprechen, aber der hier sieht zu schnuckelig aus.»Hallo«, sage ich, schiebe einige Taler über den Tresen und deute dann auf meinen leeren Becher. »Ich hätte gern das Gleiche nochmal bitte.«Er nickt mir zu als Zeichen, dass er verstanden hat, fährt aber weiter fort, mit einem Tuch die gespülten Becher trocken zu reiben. Es juckt mich in den Fingern, ihm die lästige Arbeit abzunehmen. Ein Zucken meiner Basismagie, mehr wäre es nicht.Na schön, oder doch. Aber hätte ich Luft- oder Feuermagie, dann ginge es Eins-fix-drei! Viel einfacher wäre es freilich, das dreckige Geschirr von Anfang an eine Frau reinigen zu lassen, anstatt erst groß mit Wasser und Seife herumzuhampeln. Das würde jede in Sekunden hinbekommen, so wie sich eine Frau unter Magie auch ohne Wasser sauber halten kann. Wie umständlich muss es sein, keine Magie zu haben! Urplötzlich schießen mir die Tränen in die Augen: Der Mann tut mir leid.Wie albern ich bin. Ich kichere. Nur, um mir sofort auf die Lippen zu beißen. Kichern, Himmelfraugöttin nochmal! Bin ich etwa schon wieder blau?Es macht keinen Sinn, die leeren Becher vor mir zu zählen: Sobald die Anzahl auf zwei angewachsen ist, räumt einer der gutaussehenden Keller sie ab. Verflixt. Ein Grund mehr, beim nächsten Mal wieder meinen Stammgasthof aufzusuchen. Der war heute jedoch so brechend voll, dass ich auf das Etablissement gegenüber ausgewichen bin. Durch eine knarrende Tür und über eine Treppe abwärts in den Keller - wenn das mal nicht zu meiner Stimmung passt, dann weiß ich auch nicht.Moment: Ich weiß, dass die Becher immer dann abgeräumt werden, wenn es zwei sind, dann bedeutet das, dass das schon mindestens zweimal geschehen ist. Folglich war das hier mein Fünfter. Oh.Oder mein Dritter! Ja, das klingt doch viel logischer. Der alberne Anflug von Gefühlsduselei ist nur meinen magiefreien Tagen geschuldet. Ha, vielleicht ist das ja der wahre Sinn hinter der ganzen Quälerei: Die Göttin will uns zeigen, wie es ist, ein Mann zu sein. Genau das ist es! Einmal im Monat werden wir schwach wie ein Mann, oft auch gefühlsduselig wie ein Mann... Das ist die Lösung!Ich schaue mich um. Keine hier, die ich kenne und der ich meinen absolut genialen Gedankenschluss mitteilen könnte. Schade. Dann muss ich eben weiter in meinen eigenen Gedanken schwelgen. Bäh!»Huhu, Sie da!«, rufe ich und zwinkere, als sich der Kellner zu mir umdreht. »Ich habe Du-hurst!«Als er das verlangte Getränk vor mir abstellt, lächelt er mich an.»Hier bitte schön.«»Danke!«»Hey«, kommt es protestierend von irgendwo rechts, »wir haben vorher bestellt!«»Ja. Die Dame hier hat mich aber weder »Schnucki« noch »Süßer« genannt noch mich einfach geduzt!«, kontert der Kellner und zwinkert mir zu. Ich spüre, wie sich ein breites Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitet. Der Kerl gefällt mir!»Wenn Sie keine Lust auf die da haben«, ich deute unauffällig auf die verschwommene Menge rechts von mir, »dann kannst du dich gern mit mir unterhalten. Kannst ja so tun vor deiner Chefin, als wäre ich eine dieser weinerlichen Frauen, die eigentlich nur herkommen, um eine zum Vollquatschen, äh, Vollreden zu haben.«Der Kellner legt den Kopf schief und mustert mich. Offenbar gefällt ihm, was er sieht, denn er nickt.»Danke für das Angebot.« Er zögert kurz, dann streckt er die rechte Hand aus. »Ich bin Lars.«»Magret. Beatesdother.« Ich zögere ebenfalls. Habe ich etwas verpasst? »Und du, äh, Sie sind, äh, ich meine du bist Herr Lars? Oder wie?«Er lächelt. Total süß!»Nein, mein Name ist...« Er schaut über seine Schulter, als befürchte er, seine Chefin könne jeden Augenblick dort auftauchen. Dann beugt er sich vor. Kommt näher an mich heran. Nicht so nah, dass es unschicklich wäre, aber doch genug, um die anderen Frauen am Tresen zum Johlen zu bringen.»Mein Name ist Lars Marburger«, flüstert er.»Von Marburg?«, flüstere ich zurück. Zeit, mit meinen Geografiekenntnissen zu glänzen! »Meinst du den Stadtteil von Annaburg oder die schöne Stadt am Neckar?«»Nein. »Marburg«, nicht »Marbach««, sagt der Kellner. Upsi.»Äh... kenn ich nich?« Oder? »Nee.«»Das gibt es auch eigentlich nicht mehr.«Er lächelt mysteriös. Dann kümmert er sich um die Bestellungen der anderen Frauen. In der Zwischenzeit grübele ich über seinen rätselhaften Worten. Marburg. Was es nicht gibt. Hä?»Hey, kennen Sie ein Marburg, dass es nich gibt?«, wende ich mich an die Frau links von mir. Die reagiert nicht, sondern starrt weiter in ihren Becher. Verflixt.Doch tief in meinem Inneren rührt sich etwas. Marburg. Diesen Namen habe ich schonmal irgendwo gehört. Bloß wo?Kapitel ElfPsst! Sei leise, sonst hört dich mein Hausvater!«»Selber psst!« Ich kichere. Schon wieder.Lars nimmt meine Hand und zieht mich eine schmale Treppe hinauf. Wir gelangen in einen dunklen Flur mit zwei Türen. Zielstrebig geht er zur hinteren Tür, zückt einen Schlüssel und öffnet sie.Dann zieht er mich hinter sich her.»Komm rein, schnell!«Fast wäre ich über meine eigenen Füße gestolpert. Der Schwarztee, den mir Lars spendiert hat, hat mich zwar etwas klarer, nicht aber nüchtern gemacht. Ich bin mir auch nicht sicher, wie ich hier gelandet bin. Ich weiß, dass wir uns immer wieder unterhalten und miteinander gelacht haben. Dass ich aus irgendeinem Grund noch da war, als der Kellner seine Schicht beendet hat. Vermutlich habe ich ihm dann - ganz ehrenfrauartig - angeboten, ihn nach Hause zu bringen. Annaburg ist zu so später Stunde keine sichere Umgebung für einen Mann. Tja und dann... bin ich irgendwie mit rauf gekommen.»Hier wohnst du also.«Ich schaue mich in der kleinen, aber schmucken Wohnung um. Sie besteht aus einem großen Raum mit Schlaf- und Kochstelle. Sowohl der Herd als auch das winzige Badezimmer sind eindeutig auf die Bedürfnisse eines magielosen Menschen ausgelegt. Eine mit mehreren Böden zum Regal umfunktionierte Nische vervollständigt die Wohnung. Klassisches Männerwohnheim eben. Vor Georg habe ich so manches Wohnheim von innen gesehen...Ich könnte mich noch weiter umschauen, beschließe aber, mich interessanteren Dingen zuzuwenden. Lars` Augen zum Beispiel. Die sind der absolute Wahnsinn. So etwas habe ich noch nie erlebt. Mir ist klar, dass ich ein kleines bisschen betrunken bin und alles vielleicht etwas schöner sehe. Doch so, wie diese Augen leuchten und mich in ihren Bann ziehen... Nein, das kann nicht allein dem Alkohol geschuldet sein. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, der Kerl hat Magie!Er dreht sich zu mir um. Als sich unsere Augen treffen, läuft mir erneut ein Schauer über den Rücken.»Grün oder Schwarz?«»Wie bitte?«»Du wolltest doch einen Tee?«, sagt Lars und lacht leise.Ach ja?»Genau. Ja. Grünen, bitte.«»Wird gemacht.«Er zwinkert mir zu und meine Knie werden weich. Himmelfraugöttin, wie soll das hier noch enden?Eine rhetorische Frage, denn ich weiß ganz genau, wo das hinführen wird. Seit Georg hatte ich hin und wieder ein kleines Abenteuer. Ehrlich gesagt hat mich aber nichts davon begeistert. Das hier fühlt sich anders an. Aufregender. So habe ich mich noch nie gefühlt. Nicht einmal mit Georg. Diese Augen!Plötzlich habe ich keine Lust mehr, drum herumzureden.»Hey du«, sage ich, »komme her!«Und das tut er.Wieso muss ausgerechnet ich immer die Männer erwischen, die nach dem Sex unbedingt noch reden wollen.»... und deshalb weigere ich mich, den Namen meiner Mutter zu tragen!«»Hm?«Er stupst mich in die Seite.»Hörst du mir überhaupt zu, Maggie?«»Ja, sicher doch!«»Ja gut, also was ich meine, ist-«»Ach, und Lars?«»Ja?«»Nenn mich nie wieder »Maggie«!«»In Ordnung! Aber der Punkt ist doch, wieso soll ich mir meinen Namen nicht selbst aussuchen dürfen? Immerhin bin ich ein erwachsener Mann!«Ich unterdrücke ein Seufzen. Was wir eben miteinander veranstaltet haben, werde ich so schnell nicht wieder vergessen. Vielleicht wäre es das Beste, sich zu verabschieden, bevor die schöne Erinnerung zunichtegemacht wird.Ach, welcher will ich denn hier etwas vormachen? Mich einfach so zu verdrücken ist nicht meine Art. Mein Vater hat mich besser erzogen.»Ja, da hast du nicht ganz unrecht«, sage ich daher. »Andererseits hat dir deine Mutter das Leben geschenkt. Ohne sie gäbe es dich nicht.«»Ohne meinen Vater aber auch nicht!« Er klingt wie eine kleiner, schmollender Junge.»Dann willst du dich nach deinem Vater benennen?«»Wieso nicht?« Er kratzt sich am Kinn. »Lars Matthissohn. Klingt doch gar nicht mal so schlecht.«»Keine in ganz Annaburg wird dich mit diesem Namen einstellen.«Er zuckt mit den Schultern. »Na und? Ich habe einen Job. Und der Chefin sind solche Sachen egal.«»Wenn du meinst...«Der Süße ist naiv, aber mutig. Egal. Ich grabe mich tiefer in die Bettdecke ein. Jetzt gerade bin ich so richtig schön schläfrig. Ich erwäge ernsthaft, die Nacht hier zu verbringen. Wenn Lars nur endlich aufhören würde zu reden...»Aber ich glaube, vorerst bleibe ich bei »Lars Marburger«.«Ach ja, da war ja was. Die Stadt, die es gar nicht gibt.»Oder was meinst du?«Ich gebe es endgültig auf, einschlafen zu wollen. Das wird nichts; der Mann hat eindeutig Redebedarf!Ich setze mich auf und schaue ihn an. Wie er so halb sitzt und halb liegt, die Augen glänzend, das Haar zerwuschelt, fallen mir mindestens drei Dinge ein, die ich lieber mit ihm tun würde, als mich zu unterhalten. Aber nun gut.»Was hat es denn jetzt mit diesem Marburg auf sich?«Offenbar habe ich genau die richtige Frage gestellt.Lars strahlt mich an.»Lass mich dir eine Geschichte erzählen.«»Na schön«, sage ich und unterdrücke ein Seufzen. Und welche weiß? Vielleicht kommt er ja davon wieder in Stimmung.»Zu der Zeit, in der das Hexentum erwachte, gab es anstelle des Goldenen Reiches viele einzelne Länder. So lebten Beatrix und Stephanie, die ersten Frauen, die die Kunde über die Magiefähigkeit aller Frauen verbreiteten, in einem großen Reich, das aus vielen kleinen Herrinnenschaftsgebieten bestand. Damals war es noch Gang und Gäbe, dass nicht Frauen, sondern Männer regierten.Als sich die Kunde, dass jede gebärfähige Frau der Magie fähig ist, im Geheimen verbreitete, kam sie auch einer bösen Frau namens Anna zu Ohren. Anna gierte schon von klein auf nach Macht und hatte es geschafft, sich einen reichen und mächtigen Mann zu angeln, der über ein kleines Gebiet im Norden des Reiches regierte. Sie gebar ihm einen Sohn, um damit ihren Anspruch auf das Erbe über besagten Sohn zu sichern. Danach ließ sie von einer Vertrauten die Magie in sich erwecken und übte sich fortan in dunklen Künsten. Sie war so böse, dass sie das zweite Kind, das sie unter dem Herzen trug, noch im Mutterleib tötete, da eine Schwangerschaft monatelang die Erneuerung ihrer Magie verhindert hätte.Sobald sie geübt in der Anwendung ihrer Magie war, benutzte sie sie, um sich ihres lästig gewordenen Ehemannes zu entledigen. Noch heute heißt es offiziell, Otto der Großmütige sei bei einem Reitunfall gestorben. Tatsächlich aber war es seine böse Frau, die das Pferd dazu brachte, ihn abzuwerfen.Kurze Zeit später ließ Anna ihren kleinen Sohn einfach bei Verwandten zurück und machte sich auf, sich einen neuen Ehemann zu suchen, der ihr zu noch mehr Reichtum und Macht verhelfen sollte. Dabei ging sie geschickt vor, galt bei jederfrau als charmant, freundinlich und gütig. Doch es gab auch solche, die ihre Durchtriebenheit durchschaut hatten. Einige taten sich zusammen und versuchten, die Mörderin selbst zu vergiften. Der Anschlag gelang auch und sie trank aus einem vergifteten Becher, den ihr der tapfere Johann von Bornich überreichte. Doch mit Hilfe ihrer Magie schaffte sie es, zu überleben und der Anschlag scheiterte.Im Verborgenen rächte sie sich derart grausam an den Verschwörern, dass sich Johann von Bornich selbst der damaligen Gerichtsbarkeit auslieferte und alles gestand.Indes schaffte es die böse Anna, einen Mann mit ihrer Magie zu verzaubern. So heiratete sie nur drei Jahre nach dem Mord an ihrem Mann einen mächtigen Grafen, der seinen Landsitz in einer prächtigen Stadt namens Marburg hatte. Dieses Mal jedoch ließ sie die Maske früher fallen: Ein halbes Jahr nach der Hochzeit ließ sie ihren Mann und seine Getreuen verhaften und in einen Turm sperren. Sie hatte es nämlich geschafft, sich binnen kürzester Zeit eine große Anhängerinnenschar aus Frauen aufzubauen, deren Magie sie erweckt hatte. Diese Gruppe Frauen ging mit äußerster Brutalität gegen alle Männer des Grafenhaushaltes vor und brachte die wichtigsten Regierungs- und Handelsposten der Stadt unter ihre Kontrolle.Weiter tat ein jede ihr Bestes, weitere weibliche Menschen für ihre Sache zu begeistern und die Magie in ihnen zu erwecken. Solche, die dafür zu alt waren, sowie Männer, lockten sie mit dem Geld, das Anna ihrem Mann und seinen Treuen Ratgebern gestohlen hatte, oder bezwangen sie ebenfalls mit Gewalt.Als das Ende jener Schreckenstage gekommen und Anna endgültig die Herrinnenschaft über Marburg erlangt hatte, erklärte sie sich in einer öffentlichen Rede zur Alleinherrscherin über die Stadt und die bisherige Ordnung für abgeschafft.Zweifellos brachte sie damit all jene auf ihre Seite, mit denen es das Leben zuvor nicht ganz so gut gemeint hatte. Weitere Menschen bestach sie dadurch, dass sie ihnen die Heilmagie ihrer Anhängerinnen zur Verfügung stellte. So erkaufte sich Anna ihre Macht mit Gewalt, Erpressung und unter Ausnutzung der Verzweiflung der Menschen. Ihre Gier nach Anerkennung und Macht war erst befriedigt, als all ihre Feindinnen tot und Marburg acht Jahre nach Beginn ihrer Terrorherrinnenschaft vollständig erweckt war. Als Krönung ihrer Skrupellosigkeit und Selbstsucht und Zeichen ihrer absoluten Herrinnenschaft brachte sie die Menschen überdies dazu, die Stadt nach ihr umzubenennen.«»Äh...« Mir steht tatsächlich der Mund offen. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ein Verdacht, der die ganze Zeit an mir genagt hat, bricht hervor und wird zur Gewissheit.»Moment Mal, du sprichts doch hier nicht etwa die ganze Zeit von der Großen Anna von Katzenelnbogen?«»Aber ja doch!« Er nickt bekräftigend.»Der großen Anna, die die Verbreitung des Hexentums maßgeblich vorangetrieben hat?«»Ganz genau.«»Die Anna, die dafür gesorgt hat, dass ihre Stadt als erste das Joch, die Unterdrückung und Tyrannei des verdammten, der Großen Göttin unwürdigen Patriarchats abgeschüttelt hat und uns alle in ein neues, glorreiches Zeitalter geführt hat? Die Anna, nach der unsere wunderschöne Stadt, die Hauptstadt des Goldenen Reiches, benannt wurde?«»Genau die meine ich!«»Aber... aber...« Alte Schwedin, und ich dachte, ich wäre blau! »Aber so ist das alles doch gar nicht gewesen!«»Ach nein?« Lars schürzt die Lippen. Mit einem Mal klingt er nicht nur wie ein zickiger, kleiner Junge, sondern sieht auch so aus. »Und welche sagt das?«»Äh, alle?«»Nun, wir alle wissen, dass die Geschichte von den Siegerinnen geschrieben wird. Doch ich kenne die Wahrheit. Wir alle tun das.«»Wer bitte schön sind »wir« und was, äh...« Jetzt habe ich den Faden verloren.»Wir nenne uns »die Marburger«, zum Zeichen, dass wir nicht länger gewillt sind, die Wahrheit zu verschweigen. Wir werden die schändliche Wahrheit aussprechen, wann immer wir können und auch auf die Gefahr hin, dass Menschen wie du uns keinen Glauben schenken! Denn nur so kann die Unterdrückung der Männer-«»Die bitte was?«Er schaut mich ungläubig an.»Die Unterdrückung der Männer! Jetzt sag nicht, du hast noch nicht bemerkt, wie sehr wir diskriminiert werden!?«»Diskriminiert?« Ich fasse es nicht! »Euch wird doch allen in den... Ich meine, ihr führt doch ein komplett bequemes Leben! Von Geburt an werdet ihr behütet und beschützt und das bis an euer Lebensende! Sei es von euren Müttern, Gattinnen oder Dorfoberen. Und selbst wenn ein Mann all das nicht hat, steht die Golden Frau persönlich für ihn ein!« Ich hebe einen Finger. »Ihr müsst nicht für euch selbst sorgen«, zweiter Finger, »müsst nie arbeiten gehen, wenn ihr nicht wollt«, dritter Finger, »dürft quasi den ganzen Tag mit euren Kindern verbringen, sofern ihr welche habt, während die Frauen hart arbeiten gehen«, vierter Finger, »müsst euch nie Sorgen machen, wie ihr eure Familie ernähren könnt«, Daumen, »riskiert nicht jeden Tag euer Leben auf der Straße im Kampf gegen Kriminalität, oder in den Mienen oder an der Front oder weiß-die-Göttin-wo. Ehrlich«, meine Stimme schnappt fast über, »wo bitteschön werdet ihr denn diskriminiert?«Lars` Miene hat sich mit jedem meiner Worte weiter verdüstert. Er rafft die Bettdecke an sich, wickelt sich darin ein - lächerlicherweise; als ob ich ihn nicht erst vor wenigen Minuten noch nackt gesehen hätte - und steigt aus dem Bett.»Also das hätte ich von dir jetzt nicht erwartet! Dass du als Gardistin so blind bist für das grausame Elend, dem wir Männer unter der Hexenregierung ausgeliefert sind. Dass wir-«»Du hast ja nicht mehr alle Latten am Zaun!« Wieso um der Göttin Willen muss immer ich die uneinsichtigen Kerle abbekommen? Ich drehe mich um und sehe zu, dass ich mich angezogen bekomme.An der Tür drehe ich mich noch einmal zu Lars um. Er sieht aus wie eine beleidigte Leberwurst. Seine Augen sind nach wie vor der Hammer, wie ich mit leichtem Bedauern feststelle. Wenn nur diese Klappe nicht wäre!Kapitel Zwöolf12Ich glaube, Frieda ist weg!«»Wie bitte?« Ich habe Olgas Aussage klar und deutlich verstanden, mein Verstand weigert sich jedoch, das Gesagte hinzunehmen. »Was soll das bedeuten?«»Sie hat beim Mann ihrer Hausmutter eine Nachricht hinterlassen mit der Anweisung, sie heute Morgen der Frühschicht zu übergeben.« Diana schüttelt den Kopf. »Ziemlich unverantwortlich, wenn du mich fragst. Der Arme hat gezittert wie Espenlaub.«»Oh je. Welche hatten denn vorne Dienst?«»Lydia und Anna.«»Nochmal oh je.« Sollte es mir je gelingen, eine Frau mit dem Charakter eines Regenbogens- oder Sonnenscheins für die Goldene Garde zu rekrutieren, Lydia und Anna würden sie sofort absorbieren. Nicht umsonst heißt es scherzhaft über sie, sie hätten zusätzlich zu ihren Magien auch noch die einer schwarzen Gewitterwolke. Aber egal!»Dann her mit der Nachricht!«Wortlos überreicht mir Diana einen mit einem Blutstropfen versiegelten Umschlag. Ich erspare mir die Mühe, eine meiner Frauen das Blut analysieren zu lassen. Als Absenderin steht Friedas Name auf dem Kuvert und meine Magie meldet keine Unstimmigkeiten. Oder, dass etwas in der Luft liegt. Oder eine unheilvolle Spannung, die aufgetreten ist, kaum dass Diana den Namen des ehemaligen Kükens ausgesprochen hat.Ich öffne den Umschlag, durchtrenne dabei den fest gewordenen Blutstropfen.Blut.Ich halte inne.Meine Magie kann mir gar keine Informationen darüber geliefert haben, ob mit dem Schreiben so weit alles in Ordnung ist, auch nicht, dass etwas in der Luft liegt. Denn ich habe meine verflixten magiefreien Tage, während denen mein Körper unter Schmerzen darum ringt, wieder Magie erzeugen zu können. Was ist nur in letzter Zeit los mit mir, dass ich das ständig vergesse? Vielleicht sollte ich wirklich mal eine Pause einlegen. Nur welche beschützt dann die Schwachen und Wehrlosen dieser Stadt vor skrupellosen Mörderinnen?Friedas Schrift ist klein und schnörkelig. Wäre ich eine Seelenärztin, würde mir das sicher etwas über ihre Persönlichkeit sagen. Der Tonfall der Nachricht spiegelt in etwa wider, wie sich die Auszubildende direkt nach meiner Entscheidung, sie nicht mitzunehmen, gefühlt hat: verwirrt, unglücklich, trotzig, wütend. Und darauf brennend, sich zu beweisen. Sie hat sich aus der Stadt geschlichen und will sich auf eigene Faust in den Osten durchschlagen. Ich schätze, sie geht davon aus, von der Ostgarde und der Bronzenen Frau mit offenen Armen empfangen zu werden. Stattdessen werden sie sie in Schimpf und Schande davonjagen. Was denkt sie sich nur dabei? Dass sie es besser weiß als eine Frau mit vielen Jahren Erfahrung? Dass sie ihre direkt Vorgesetzte übergehen, einen unmissverständlichen Befehl ignorieren kann? Dabei hatte ich so gehofft, sie mit dem neuen Fall genügend beschäftigt zu haben.»Ist es so, wie ich denke?«»Ja, liebe Diana, genauso ist es.«»Sie ist also auf und will sich der Sondereinheit anschließen.« Sie schüttelt den Kopf. »Oh Mädchen!«»Du sagst es.« Ich seufze, stehe auf. »Ich werde mit Frenja reden. Halte du so lange hier die Stellung. Da Frieda raus ist, brauchen wir noch eine neue für den Fall.«Diana reibt sich das Kinn. »An welche denkst du?«»Eine von denen, die noch nicht so lange dabei sind. Wir haben es bislang mit drei Opfern zu tun. Wie auch immer sich der Fall entwickeln wird, es wir eine Menge Fleißarbeit zu tun geben.«»Alles klar, Dritte.«Als ich nach oben gehe, fühle ich mich unsäglich müde. Meine Beine sind schwer, meine Arme schlapp. Dabei bin ich vor einer Stunde erst aufgestanden! Irgendetwas ist los mit mir. Eine Krankheit? Bloß nicht, die kann ich mir im Moment nicht leisten. Zu viel Wichtiges steht auf dem Spiel. Überhaupt bin ich eine Frau oder ein Weichei?Ich straffe meine Schultern und hebe das Kinn. Wenn sich die Stimmung auf unsere Körperhaltung auswirkt, wieso sollte es eine dann nicht genau andersherum machen und den Körper den Geist beeinflussen lassen?Frenja ist um diese Zeit für gewöhnlich in der Gardeküche zu finden. Dass sie zuhause schon einen Tee getrunken hat, hält sie nicht davon ab, kurz vor Dienstantritt noch einmal genau das Gleiche zu tun. Wie immer ist die Geräuschkulisse sagenhaft. Hier arbeiten die besten Leute ohne Magie von Annaburg, dennoch geht es zu wie auf einem Markt. Als Zeichen ihres guten Willens hat die Goldene Frau dafür gesorgt, dass neben Männern einige Fräulein hier arbeiten. Dass ein weiblicher Mensch keine Magie hat und somit auch kein neues Leben erschaffen kann, hindert ihn nicht daran, mit den feschen Männern zu flirten.Ich stelle mich neben Frenja, die mit einer Tasse in der Hand an der Anrichte lehnt, und beobachte die Menschen.»Wie hältst du dieses Theater eigentlich jeden Tag aus?«, frage ich nach einer Weile.»Du tust doch nur so, als wäre dir das hier langweilig«, gibt Fran gelassen zurück. »Tatsächlich bist du doch fasziniert!«Es macht keinen Spaß, wenn jede eine so gut kennt. Zuhause und hier oben Fran, unten Diana und Katharina und mittlerweile sogar Heidrun: Meine Kolleginnen kennen mich langsam zu gut!»Na ja, vielleicht ein bisschen«, gebe ich zu. Wie gleich zwei der hin- und her eilenden Burschen versuchen, Frenjas Blicke auf sich zu lenken, ist fast so amüsant wie das Wetteifern der beiden Fräulein um die Gunst eines gutaussehenden Jungchens, der ständig irgendetwas fallen lässt oder sich den Kopf an einer offenen Schranktür stößt. Nur mühsam kann ich mich von dem menschlichen Schauspiel losreißen. Ich reiche Frenja Friedas Brief.Sie liest ihn und schlürf dabei weiter ihren Tee. Nach einer Weile gibt sie mir den Zettel zurück.»Welche hätte das gedacht?« Sie schnalzt mit der Zunge. »Sieht aus, als wäre dein Küken flügge geworden.«»Vor ihrer Zeit!«»Ach Magret, komm schon! Kannst du es ihr wirklich verübeln? Wie warst du in ihrem Alter?«Nicht viel anders, doch werde ich die Teufelin tun und ihr das sagen! An ihrem Grinsen erkenne ich, dass ich das gar nicht muss. Ich wiederhole: Es macht keinen Spaß!»Und was soll ich jetzt tun?«Ich drehe mich um, lehne mich mit der Seite an die Theke und schaue sie an.»Mit der Bronzenen reden?«»Um was zu erreichen? Dass sie die Kleine wieder nach Hause schicken?« Frenja winkt ab. »Das werden sie sowieso tun, keine Sorge.«»Und wenn sie vorher bei der Ostgarde eintrifft?«Frenja schüttelt den Kopf.»Ich kenne dort keine, tut mir leid.«»Verflixt.« Wäre ja auch zu schön gewesen.»Schick doch eine Blase.«»Ja klar! Weil sich die Ostgarde mitten im Getümmel zwischen Rebellinnen und den vermaledeiten Großmoldawiern ja auch so einfach aufspüren lässt und gar nicht magisch getarnt ist und so weiter. Alles ganz einfach. Natürlich nur, falls es eine überhaupt schafft, mir da eine Kommunikationsblase erscheinen zu lassen. Ist ja auch ein Kinderspiel auf die Entfernung und ist ja nicht auch so, dass die Frauen mit der besten Kommunikationsmagie anderswo stationiert sind. Aber sonst ist das, wie gesagt, alles kein Problem!«Frenja lacht.»Mensch Magret, du hast ja immer noch so eine Laune! Weißt du was? Mach`s doch einfach wie ein Mann und greif zu Zettel und Stift!«Spricht`s, stellt ihre Tasse ab und lässt mich stehen. Dabei zwinkert sie einem der attraktiven Jungspunde zu, der prompt rot anläuft.»Das habe ich gesehen!«, rufe ich ihr hinterher. Sie winkt lässig, ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen. Na großartig.Zurück an meinem Tisch streife mein Armband ab und lege es vor mich auf die Platte. Auch wenn es mir nicht gefällt, ich kann derzeit nichts in Sachen Frieda ausrichten. Ich hasse so etwas! Ich spiele eine Weile mit den Steinen des Armbands. Meine Magie oder vielleicht sogar die Große Göttin selbst versuchen mir schon seit so langer Zeit, irgendetwas zu sagen. Das Armband hat eine Bedeutung. Nur welche?Vielleicht sollte ich die Sache nicht wie bisher persönlich angehen, sondern so, als ob es ein neuer Fall wäre. Ermitteln ist meine Stärke - wieso bin ich da nicht schon früher drauf gekommen? Ich streife das Armband wieder über und atme tief durch. Dann mal los!Magret Beatesdother, Magieart: erkennt, wenn etwas falsch ist oder sich etwas für eine falsch anfühlt. Magieausprägung: schwammig, ungenau. Magiestärke: stark, immerhin. Beruf: Stellvertretende der Zweiten der Goldenen Garde, leitende Ermittlerin der Spezialabteilung.Es fühlt sich seltsam an, mir selbst über mich und meine Belange Bericht zu erstatten, doch auf merkwürdige Art auch richtig. Daher beschließe ich, im Sinne von »Ganz oder gar nicht«, alles ebenso gewissenhaft aufzuschreiben, als würde ich eine Zeugin vernehmen. Wo ist mein verflixter Stift? Ich könnte schwören, dass ich jeden Monat mindestens drei Stifte kaufe, doch immer wenn ich einen brauche, ist keiner auffindbar. Ich greife mit meiner Magie aus, um mir einen Stift von Olgas Tisch zu holen. Stechende Übelkeit lässt mir kurz schwarz vor Augen werden.Als ich sie wieder öffne, steht Katharina über mir.»Magret! Magret, was ist mit dir?«»Hm?«»Komm schon, steh auf!«Kathi packt mich, sowohl mit Magie als auch mit ihren Händen, und zieht mich hoch. Ich muss hingefallen sein.Mit Katharinas Hilfe schaffe ich es, mich wieder auf den Stuhl zu setzen. Mein Kopf dröhnt und alles darin dreht sich.»Verflixt!«, keuche ich. »Kathi, deine Magie... Mir ist schlecht... schnell!«»Was zu den Sieben Finsterhexen ist denn-«Mit Mühe unterdrücke ich ein Würgen. »Bitte, mach einfach!«Kathi zögert keine Sekunde mehr und lässt ihren Tiefensinn in mich hineingleiten. Wäre doch nur Frenja hier! Sie könnte ihre Magie mich sofort von innen umhüllen lassen, sich sorgsam zwischen mein Innerstes und das, was die Übelkeit und den Schwindel verursacht hat, legen. Es wegdrängen.Immerhin kann Kathi das Üble mit ihrem Tiefensinn schnell fassen. Ich spüre, wie sie es festhält und zusammenschiebt.»Schieb raus«, presse ich hervor. »Schnell!«Ich sehe Kathi an, dass sie tausend Fragen hat. Doch ganz die Goldene Gardistin, die sie ist, tut sie, was getan werden muss. Mit einem Mal ist das schlechte Gefühl verschwunden. Der Druck in meinem Kopf sinkt und ist dann weg. Ich fühle mich wund und zerkratzt an und unendlich müde. Aber wieder wie ich.»Magret, was ist passiert?, fragt Kathi schließlich.»Ich weiß es nicht«, sage ich ehrlich. »Aber ich werde es herausfinden!«»Aha. Ein bisschen mehr Info wäre nicht schlecht.« Kathi beugt sich vor, hebt etwas auf und legt es auf den Boden. Etwas in mir erstarrt. Das kann nicht sein!Ich spüre, wie sich meine Kopfhaut zusammenzieht. Ganz so, als würde es meinen Gedanken um einige Sekunden hinterherhinken, beginnt mein Herz nun, schneller zu pochen. Meine Atmung wird flacher, hektischer. Das kann nicht sein!Ein erster Schweißtropfen löst sich an meiner Stirn, rinnt meine Schläfe hinunter. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich kann nicht aufhören, zu blinzeln. Mein Verstand weigert sich, zu glauben, was meine Augen gerade gesehen haben. Ich starre auf den Gegenstand, den Kathi so vollkommen unbekümmert auf meinen Tisch gelegt hat. Das Bild vor meinen Augen flackert. Bilderfetzen meiner Albträume wabern durch mein Gehirn. Es. Kann. Nicht. Sein.Und doch ist es so: Vor mir auf dem Tisch liegt Olgas Stift.Kapitel Dreizehn13Ich liege in meinem Bett und starre die Zimmerdecke an. Obwohl ich mich noch immer wie zerschlagen fühle, ist an Schlaf nicht zu denken. Ich habe Fran gesagt, dass ich mich etwas hinlegen muss. Das war nicht gelogen. Unter ihrem besorgten Blick habe ich mich in mein Zimmer geschleppt und so wie ich bin ins Bett fallen lassen. Sogar meine Stiefel habe ich noch an. Es ist unbequem, aber allein der Gedanke, sie auszuziehen, fühlt sich so unfassbar mühsam an, dass ich es schlichtweg nicht in Betracht ziehe.Das Armband habe ich abgestreift und einfach auf den Boden fallen lassen. Dort liegt es jetzt auf dem Boden. Vollkommen unscheinbar. Reglos. Lauernd?Meine Gedanken funktionieren nicht richtig. Ich weiß, dass ich es in der letzten Zeit mit der Arbeit übertrieben habe. Und dem Met. Eine kann nicht auf Dauer ihren Kummer ignorieren und versuchen, ihn mit Alkohol hinunterzuspülen und sich Tag für Tag weiter in die Arbeit stürzen. Dann auch noch, dass sie ewig so weitermachen, weiter funktionieren, ohne dass sich das irgendwann rächt. Selbst Frauen können nicht alles. Selbst Frauen brauchen mal eine Pause. Die habe ich mir nie gegönnt. Das habe ich nun davon.Doch da ist noch etwas anderes: Meine Vergesslichkeit und ein Teil meiner Erschöpfung lassen sich auf Stress und mangelnde Erholungsphasen zurückführen. Aber nicht die Halluzinationen. Nicht die vermeintlich falsche Wahrnehmung. Nicht das Unerklärliche. Nicht, wie der Stift von Olgas Schreibtisch aus auf den Boden kam.»Magret Beatesdother«, flüstere ich. »Magieart: erkennt, wenn etwas falsch ist oder sich etwas für eine falsch anfühlt. Magieausprägung: schwammig, ungenau. Magiestärke: stark. Beruf: Stellvertretende der Zweiten der Goldenen Garde, leitende Ermittlerin der Spezialabteilung. Problem: wurde offenkundig vergiftet.«Ich setze mich in die Küche und muss nicht lange warten, bis Frenja wieder da ist. Unter den gegebenen Umständen ist es nur fair, ihr von meinem Verdacht zu erzählen.»Du denkst also, eine war hier in unserer Wohnung und hat dich vergiftet?«Frenjas Gesichtsausdruck verkündet reine Mordlust. »Hier, in unserem Zuhause?«Ich nicke und nippe an dem Tee, den sie für mich erhitzt hat.»Anders kann ich es mir nicht erklären. Meine Übelkeitsanfälle, die immer schlimmer werden.«»Und wenn es doch nur der Stress ist?«»Fran, ich bin doch nicht dumm! Eine hat versucht mich zu vergiften! Es muss hier passiert sein - anderweitig esse ich jeden Tag woanders, das könnte keine vorhersehen. Nein, es muss hier passiert sein!«Frenja schüttelt den Kopf.»Antje war nicht hier, da bin ich mir sicher. Es sei denn...«Alarmiert schaue ich auf.»Jetzt sag nicht, du hast ihr einen Schlüssel gegeben!?«»Magret, ich... Ach, scheiß drauf! Ja, ich habe ihr einen Schlüssel gegeben. Für Notfälle. Was hätte ich denn tun sollen?«Ich bin fassungslos.»Frenja, wir hatten eine Abmachung! Keine Süchtige in unserer Wohnung, wenn wir nicht da sind! Hast du eine Ahnung, was du damit angerichtet haben könntest? Du weißt, mit was für Leuten sie höchstwahrscheinlich verkehrt!«»Sie ist meine Schwester, sie würde uns nie bestehlen oder sowas!«Wie kann eine nur so blind sein?»Deine Schwester ist eine Süchtige! Sie würde vielleicht nicht alles, aber doch sehr vieles tun, nur um genug Taler für den nächsten Traumbringer zusammenzubekommen! Und das weißt du auch! Denkst du allen Ernstes, sie begnügt sich mit denen, die du ihr bezahlst?«»Was soll das heißen?«, fragt Frenja nun mit deutlicher Schärfe in der Stimme.»Na, ich sage ja nicht, dass sie zum Beispiel etwas hier stehlen würde oder so. Aber was, wenn sie mit ein paar zwielichtigen Freudinnen hier war, um gemeinsam Traumbringer zu benutzen oder so? Dann kam ich überraschend früh nach Hause und-«»Moment Mal, was soll das hier werden?« Meine Freundin kneift die Augen zu Schlitzen zusammen. »Du fällst im wahrsten Sinne vom Stuhl, weil du vermutlich gestern Abend mal wieder zu tief ins Glas geschaut hast - und da kannst du verächtlich schnaufen, wie du willst, meine Liebe, ich weiß genau, wie oft du in der letzten Zeit abends noch was trinken gehst - und nur weil es dir peinlich ist, dass dich, die ach so tolle Magret Beatesdother, die sich ja immer im Griff hat, eine so gesehen hat, meinst du jetzt, du könntest meiner Schwester die Schuld in die Schuhe schieben!«»Das habe ich doch gar nicht gesagt!«»Oh, und ob du das hast! Kann ja nicht sein, dass sich die große Dritte der Spezialabteilung mal irrt oder die Kontrolle über sich verliert!«»Ich habe mit keinem Wort gesagt, dass Antje-«»Halt die Klappe, jetzt rede ich!«Verblüfft schließe ich den Mund. So hat Frenja noch nie mit mir gesprochen!»Ich schaue mir jetzt schon eine ganze Zeit lang an, wie es mit dir bergab geht!« Wie bitte? »Ich wollte nichts sagen, dachte, du fängst dich wieder. Offenbar habe ich mich geirrt. Du arbeitest in einem durch. Gönnst dir nie auch nur die kleinste Pause. Selbst wenn du deine magiefreien Tage hast, bist du im Büro.«»Ja und? Es ist wichtig, dass ich-«»Wann hast du das letzte Mal irgendeinen Ort aufgesucht, außer um dort zu arbeiten, zu ermitteln, zu schlafen, zu essen oder«, sie schnaubt, »zu saufen? Hm?«Ich will etwas sagen, doch mir will keine Antwort einfallen.»Siehst du? Pah! Du stellst dich deinen Problemen nicht, du schiebst sie von dir weg!«»Was für Probleme denn bitte schön?« Langsam werde ich richtig sauer. »Mein einziges Problem derzeit ist, dass mich eine in meinem eigenen Zuhause mit Magie beeinflusst oder vergiftet hat und dass das meiner lieben Mitbewohnerin, von der ich dachte, sie sei meine Freundin, vollkommen egal zu sein scheint!«Frenja lacht auf.»Dein Leben besteht doch nur noch aus Problemen! Und du willst mir erzählen, dass du sie nicht mal sehen kannst? Die Frau, die die kompliziertesten Mordfälle löst? Na, wo bleibt sie denn, deine angeblich ach so tolle Kombinationsgabe? Schau dich doch an!«»Was. Meinst. Du?«»Fangen wir doch mal damit an, dass du einsam bist. Georg hat dich verlassen, buhu!«, äfft sie mich nach. »Das ist Jahre her, Magret, Jahre! Und mit wie vielen Männern hast du dich seitdem getroffen?«Das sitzt.»Das geht dich einen feuchten Dreck an!«, fauche ich. »Wenigstens springe ich nicht von einem Bett ins nächste!«»Na, würdest du es mal tun, dann wärst du vielleicht mal etwas entspannter! Aber du kannst ja nicht einmal vor mir zugeben, wie einsam du dich fühlst, geschweige denn vor dir selbst. Lieber gehst du Tag und Nacht arbeiten, als dich auch nur mal ansatzweise mit der Suche nach einem neuen Ehemann zu beschäftigen. Was ist es, wovor du dich fürchtest, hm? Dass du keinen findest oder dass du einen finden könntest?«»Das ist allein meine Sache!«»Eben. Und dass du ständig nachts schreibst und im Schlaf weinst und dann von Albträumen geplagt aufwachst, das wirkt sich natürlich auch so überhaupt nicht auf deinen Gemütszustand aus, habe ich recht? Denkst du, dein blödes Traumtagebuch hilft dir da weiter? Geh endlich zu einer verdammten Seelenärztin und sieh ein, dass das Problem vielleicht nicht dieses billige Mitbringsel ist, sondern du selbst!«Ich öffne den Mund, doch kein Laut kommt heraus. Mit jedem Wort hat mich Frenja mehr und mehr getroffen. Es tut weh.»Ach, und dann wäre da ja noch Frieda, dein Küken.«»So nenne ich sie schon lange nicht mehr«, stoße ich hervor.»Vielleicht nicht laut, aber in Gedanken schon. Und dass sie einfach weg ist, auf und davon, gegen deinen ausdrücklichen Befehl. Das macht dir natürlich auch in keinster Weise zu schaffen, habe ich Recht? Nein, lieber gehst du dir nach Feierabend einen trinken, hockst allein am Tresen und redest dir ein, damit Kontakte zu pflegen oder ein bisschen abzuschalten.«»Das sagt genau die Richtige! Du bist doch diejenige, die die Sucht ihrer Schwester nicht nur unterstützt, sondern auch bezahlt! Und jetzt auf einmal soll ich diejenige sein, die ein Problem hat?«»Ja, genau!«»Du hast sie ja nicht mehr alle!«»Ich sage dir eins, Magret Beathesdother: Du bist feige und nichts weiter! Das ist auch in Ordnung, meinetwegen. Tut mir zwar weh, dich so zu sehen, aber du bist eine erwachsene Frau. Pamp` von mir aus deine Frauen an, wie du Lust und Laune hast. Geh noch halb besoffen zur Arbeit, ist mir alles scheißegal. Aber halt verdammt nochmal meine Schwester da raus!«Mit diesen Worten steht Frenja auf, versetzt ihrem Stuhl einen Schlag, der ihn zum Zerbersten bringt und stürmt aus der Küche.Es fühlt sich an wie das Ende einer Freundinnenschaft.Kapitel 14VierzehnDie Wohnung aufräumen. Mich nach einem guten Mann umschauen, und sei es nur, um wieder einmal auszugehen. Das wäre nett. Sehr nett sogar. Ich seufze. Mein Leben ist in der letzten Zeit immer weiter aus den Fugen geraten. Fran hat recht. Anstatt mich wie jede normale Frau während meiner magiefreien Tage auszuruhen und einfachen Tätigkeiten nachzugehen, sitze ich hier und ermittele in einem schwierigen Mordfall. Oder eher gesagt in mehreren.Damals als die Sache in der Tränenburg war, habe ich es durchgezogen. War, trotz dass ich schwach wie ein Mann war, dran geblieben. Das kann eine einmal machen. Zweimal. Nur war es zur Gewohnheit geworden. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mir zuletzt meine magiefreie Woche oder sonst wie freigenommen hatte. Gut, letzten November das eine Mal. Aber auch nur, um den runden Geburtstag meiner Tante gebührend zu feiern. Der Hin- und Rückweg waren dank der mittelmäßigen Transporthexe, die wir gemietet hatten, eine wahre Tortur gewesen; von Erholung konnte auch da also nicht die Rede sein.Was mir fehlt, ist etwas, um den Stress auf der Arbeit auszugleichen. Den schlimmen Geschichten entgegenzuwirken. Etwas, das mich all das wenigstens für eine kurze Zeit vergessen lässt. Ab und zu gehe ich mit meinen Mädels noch essen und trinken. Das sind schöne Abende, doch wenn ich jetzt daran denke, mischt sich ein bitterer Beigeschmack unter. Wann hat es begonnen, dass ich immer die Letzte war, die geblieben ist, nur um schnell noch einen Met zu trinken, der dann doch in zwei oder drei Bechern kam? Wann habe ich aufgehört, gemeinsam mit Diana ein Stück den Berg runterzugehen und mich dann erst unten von ihr zu verabschieden, bevor jede dann in eine andere Richtung nach Hause geht?Ich wusste immer, dass das, was wir tun, einen Tribut verlangt. Mein Privatleben, früher so ausgewogen und schön, ist irgendwie verschwunden. Weg. Nur wie ist es dazu gekommen?Mein Auszug zuhause hat dafür den Grundstein gelegt. Georgs Weigerung, länger mit mir zusammenzuleben. Natürlich hätte ich bleiben können. Ohne meine Einwilligung wäre es ihm nicht möglich gewesen, sich von mir scheiden zu lassen. Nur wozu wäre das gut gewesen? Dann lieber einen Schlussstrich ziehen; ich habe es nicht nötig, mich einem Mann aufzudrängen, der mich nicht mehr will.Meine Freundinnen, seine Freundinnen: Fronten wurden gezogen. Die wenigen Menschen, die mir aus meinem Privatleben geblieben waren, bedeuteten mir offensichtlich nicht genug, um den Kontakt weiter zu halten. Georg und die Arbeit, meine Kolleginnen: Mehr hatte ich nie gewollt oder gebraucht. Zumindest dachte ich das. Im Nachhinein erst wurde mir klar, dass wir öfters unterwegs gewesen waren, als ich gedacht hatte. Hier ein Grillabend bei seinem besten Freund, mit dessen Frau Anja ich mich blendend verstand, dort eine Geburtstagsfeier seines ehemaligen Schulfreundes, der den besten Kirschkuchen machte, den ich je gegessen hatte. Mit dabei immer auch ein Haufen anderer Leute. Wenn ich allein an die Fette Gertie denke...Alles weg. Ich bin allein.Nein, bin ich nicht! Schluss damit, solch ein Gewinsel ist weder einer Frau noch einer Goldenen Gardistin würdig!Nein, noch anders: Ich werde nicht dulden, dass ich in Selbstmitleid versinke. Dennoch ist es endlich Zeit, mich den Tatsachen zu stellen. Nur wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, kann ich die Probleme erkennen, die Ursachen herausfinden und dann bekämpfen.Ich fühle mich einsam. Statt mir Freundinnen oder einen neuen Mann zu suchen, stürze ich mich in die Arbeit. Wieso? Weil ich dort bereits so etwas wie Freundinnen habe. Weil ich meine Arbeit kenne und liebe.Nein. Weil ich sie kann. Bequemlichkeit und Angst.Irgendetwas in mir gibt nach. Bricht unter stechendem Schmerz auf. Quillt heraus und verursacht mir Übelkeit, die keinen magischen Ursprungs hat. So sicher wie die Große Göttin uns erschaffen hat, weiß ich, dass ich richtig liege. Bequemlichkeit und Angst haben mich angetrieben, all die Monate. Nicht Ehrgeiz oder der unabdingbare Wille, auch außerhalb meiner Magie mein Bestes zu geben. Menschen zu retten. Hilflose Männer und Kinder zu beschützen. Nein, es waren Bequemlichkeit und Angst.Die Erkenntnis, so bitter sie ist, bringt mich doch zum Lächeln. Jetzt bloß nicht nachlassen! Auch wenn es schmerzhaft ist, ich muss es zu Ende denken. Bequemlichkeit verstehe ich. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Ab und an rutscht eine in schlechte Gewohnheiten hinein. Wieder herauszukommen, dauert eine Zeit, erfordert jedoch im Grunde nichts weiter als Disziplin. Was aber ist mit meiner Angst?Wovor habe ich Angst?Dass ich einen Mann kennenlerne oder dass ich keinen kennenlerne? Dass ich mich neu verliebe, vielleicht sogar heirate, und dann wieder abgewiesen werde? Oder dass ich nie wieder einen Mann finde? Und was ist in Sachen Freundinnen: Wieso fürchte ich mich offenbar davor, welche zu finden?Ich brüte eine Weile über den Fragen. Ich spüre instinktiv, dass sie alle denselben Kern berühren. Es fühlt sich an, als würde eine mit spitzer Magie in einer entzündeten Wunde herumstochern. Immer mehr Gift quillt heraus und wenn ich es jetzt nicht richtig mache, bleibt es in mir drin zurück, in meiner Seele, und bohrt sich von dort aus weiter nach innen. Was immer es auch ist, was mir Angst macht, ich muss mich dem stellen!Meine Augen füllen sich mit Tränen. Keine meiner Frauen darf mich je in diesem Zustand sehen! Selbst Georg habe ich immer weggeschickt, wenn es mir schlecht ging. Es gibt Dinge, die muss eine Frau allein durchstehen. Zu weinen wie ein Mann, wie lächerlich! Und doch bahnen sich immer neue Tränen ihren Weg, rollen über meine Wangen und hinterlassen brennende Spuren. Tropfen auf den Boden, auf mich, doch es kümmert mich nicht. Wo ist es? Die Lösung ist zum Greifen nah, ich spüre es! Verflixt nochmal, wovor habe ich solche Angst, dass ich hier in meiner eigenen Küche sitze und schluchze wie ein kleiner Junge? Was?Und wieder ist es, als würde etwas in mir drin aufreißen. Nicht sanft, sondern mit einem Ruck, der alles Hässliche freigibt, was tief in mir verborgen lag. Ich richte mich auf, stehe auf, unfähig, weiter sitzen zu bleiben. Ich schüttele den Kopf, obwohl keine mich sehen kann, wische mir die Augen, die Nase, die Wangen. Auf einmal ist alles so klar! Ich habe Angst vor der Angst. Ich lache auf. Es ist so simpel! Ich habe keine Angst davor, neue Freundinnen zu finden oder sogar einen neuen Mann zu finden, sondern davor, dass ich dann die ganze Zeit Angst habe, sie könnten mich wieder verlassen. Ich habe Angst vor der Angst!Es fühlt sich an, als würde die Göttin selbst Balsam auf meine verletzte Seele streichen. All das Gift ist abgeflossen und der Heilungsprozess kann beginnen. Ich weiß noch nicht, wie genau ich meiner Angst entgegentreten werde. Doch es ist, wie wenn eine die Magieart ihrer Feindin kennt: Allein das Wissen um das Was und Wie bedeutet, dass eine Bescheid weiß. Dass sie den Kampf aufnehmen kann. Genau das werde ich tun!Endlich geht es wieder aufwärts. Wie zum Beweis, dass ich jetzt meine Probleme angehen werde, stehe ich auf. Womit soll ich anfangen? Leicht ratlos schaue ich mich um. Da, der Herd! Wie lange ist es her, dass ich Frenja und mir etwas Leckeres gekocht habe? Ja, kochen ist eigentlich Männersache. Aber es entspannt mich und es macht mir großen Spaß, neue Rezepte auszuprobieren. Fran hängt das Essen der Gardeküche sicher schon zum Hals raus. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich es satt, ständig irgendwelches fremd gekochte Zeug in mich hineinzustopfen. Quantität über Qualität, das war leider viel zu lange der Fall. Zeit hat eine nicht, Zeit nimmt eine sich. Genau das werde ich jetzt tun!Eine schnelle Inspektion der Schränke zeigt, dass Fran und ich auch den Einkauf sträflich vernachlässigt haben. Einerseits kein Wunder bei dem, was wir alles am Hals haben. Andererseits sind unsere Vorräte fast aufgebraucht und das darf es auch nicht sein. Vielleicht sollten wir es so machen wie meine Tante Ingrid, die einen jungen Witwer dafür bezahlt, regelmäßig für sich einkaufen zu gehen. Als alleinstehende Frauen würde es sich für uns nicht schicken, einen Haushälter einzustellen. Das könnten wir uns auch finanziell gar nicht leisten. Aber einen, der einmal die Woche zum Markt geht? Warum nicht?Wenn ich jetzt kochen möchte, muss ich die Dinge erstmal selbst in die Hand nehmen. Magieloses Kochen ist eine Qual, kann aber auch etwas Meditatives haben. Langeweile oder Muse, es kommt immer darauf an, wie eine die Zeit beurteilt, die sie am Herd verbringt, während die Zutaten vor sich hin köcheln.Ich entscheide mich für ein kaltes Gericht. Selbst wenn ich wollte, ist unser Herd gar nicht dafür ausgelegt, ohne Magie Feuer zu machen. Junggesellinnenküche eben. Immerhin leben wir in Annaburg, dem Zentrum des Goldenen Reiches. Wenn hier eine ihre magiefreien Tage außerhalb eines Refugiums verbringt, geht sie um die nächste Ecke und kauft sich etwas zu essen.Auf dem Markt erstehe ich frische Zutaten. Eier und Hähnchen lasse ich mir direkt an einem Zubereitungsstand kochen. Es würde mich ja zu Tode langweilen, den ganzen Tag nichts anderes zu machen, aber womit soll eine mit schwacher Feuer- oder Hitzemagie sonst ihren Lebensunterhalt verdienen?Wieder zuhause angekommen, wasche ich das Gemüse. Gut, dass Frenja daran gedacht hat, mir ausreichend Wasser aus der Leitung zu ziehen. Ein Schauer rinnt mir über den Rücken. So sehr ich Antje bemitleide, mir droht eines Tages ebenso die Magielosigkeit. Bin ich erst einmal Großmutter, werde ich jeden Tag meines Lebens auf Magie einer anderen Frau angewiesen sein. Oder ich muss selbst mein Wasser herschleppen, wie es Annaburgs Hausmänner seit jeher in der Frühe in Scharen tun. Nein, danke!Durch die hervorragende Arbeit der Pflanzenhexen wird eine Großstadt wie Annaburg jeden Tag mit frischen Obst- und Gemüsesorten versorgt. Geblendet von der riesigen Auswahl habe ich ordentlich zugegriffen. Mir schwebt ein leichter und doch sättigender Salat vor.Das Messer fühlt sich in meiner Hand ungewohnt an. Seltsam der Gedanke, dass das Werkzeug in anderen Ländern als Standardwaffe benutzt wird.Ich schneide verschiedene Sorten grünen Salat in schmale Streifen, die ich dann sorgfältig per Hand wasche. Ungewohnt, aber gut. Mit leisem Bedauern zerkleinere ich die Walnüsse. Wie gern ich sie mit Zwiebeln karamellisieren und dann mit Balsamico-Essig ablöschen würde... Der Schafskäse bildet, zu kleinen Würfeln geschnitten, ein schönes Gegenaroma, ein guter Schluck aus dem erstandenen Sahnekännchen und ein halber Löffel Honig fügen Süße hinzu. Die gekochten Eier und das Fleisch machen aus dem Salat eine richtige Mahlzeit. Schade, dass ich keine Birnen bekommen habe. Ich war immer dagegen, Pflanzen außerhalb ihrer Zeit wachsen zu lassen, aber vielleicht hat das doch Vorteile...So entscheide ich mich für zwei Äpfel, um eine fruchtige Note hineinzubringen. Soll ich sie reiben oder bloß in kleine Würfel schneiden? Reiben! Aber verflixt, das gibt es doch nicht, wir haben gar keine im Haus! Vage meine ich mich zu erinnern, dass wir mal eine hatten, die dann aber kaputt gegangen ist; offenbar hatten wir es versäumt, sie zu ersetzen. Wann braucht eine auch schon mal so etwas? Dann also doch Würfel. Aber erst schälen.Ich krame nach einem kleineren Messer und mache mich daran, den ersten Apfel von seiner äußeren Hülle zu befreien. Dabei stelle ich mich so dermaßen ungeschickt an, dass ich lachen muss. Allerdings nur, bis mir ein scharfer Schmerz in den Finger fährt.Ich lege Apfel und Messer ab und halte mir die linke Hand vors Gesicht. Verflixt noch eins, das Messer ist mir abgerutscht und tief in den Daumen gefahren. Aus der pochenden Wunde fließt Blut, tropft zu Boden. Der Gedanke, mir den blutenden Daumen in den Mund zu stecken, ist mir zuwider. Nur was soll ich sonst tun? Ich bin wie gelähmt. Seltsam. Werde ich im Kampf verletzt, stehe ich ja auch nicht dumm herum, sondern reagiere, verwandele mich in die tödliche Kämpferin, die ich als Goldene Gardistin bin, und kenne weder Schmerz noch Furcht. Hier und jetzt reicht ein winziger Schnitt, um mich aus der Fassung zu bringen. Unfassbar.Ich schaue mich nach etwas Hilfreichem um. Da, das Tuch dahinten! Ich lasse meine blutenden Daumen nicht aus den Augen, während ich die rechte Hand ausstrecke, um das Tuch zu mir heranzuziehen. Mir wird kurz schwarz vor Augen. Ich taumele. Aber wieso? Das bisschen Blut ist doch kein Verlust! Und wo bei der Großen Göttin bleibt das Tuch? Ich ziehe heftiger. Wieder wird mir schwarz vor Augen. Ich mache einen Schritt rückwärts und verstehe nicht, warum. Ich spüre Stoff zwischen meinen Fingerspitzen. Jetzt schnell die Wunde abbinden. Mit dem Tuch. Dass ich herangezogen habe. Mit Magie. Während meiner magiefreien Tage. Irgendetwas ist in meinem Kopf und dreht sich. Das Tuch fällt aus meiner Hand. Der Fußboden stößt gegen meine Knie, wie geht das, wenn ich doch stehe, oh, ach so, ich stehe ja gar nicht mehr. Und dann kippe ich-Ich mache die Augen auf.Frenja schaut mich an, grinst mich an, freudlos.»Da bist du ja wieder.«Ich sage nichts, schaue mich um. Stadtkrankenhaus, eindeutig. Was ist geschehen?Frans Lächeln verblasst und gibt den Blick frei auf dunkle Augenränder und graue Haut.»Ich hole eine Ärztin.«Sie steht auf, doch ich schaffe es, ihren Arm zu greifen. Mit meiner linken Hand, dessen Daumen nicht mehr wild pocht. Fassungslos starre ich auf meine Hand. Nur noch ein winziges Stechen erinnert an meine Verletzung.Ich bin kurz verwirrt, doch dann schiebt sich wieder der eine Gedanke in den Vordergrund, der Einzige, der jetzt noch zählt:»Fran, es tut mir leid!«Frenja dreht sich um.»Mir auch Magret! Göttin, ich dachte, ich hätte dich verloren!« Zu meiner Überraschung sehe ich Tränen in ihren Augen glitzern. »Das hier ist ernst, Magret. Du warst sechs Tage weg!«Kapitel Funfzehn15Theoretisch ist es eine feine Sache, wenn eine ihre magiefreien Tage verschläft. Meine Magie kribbelt und strömt süß durch meine Adern. Ich will mir das Glas Wasser nehmen, das eine auf das Schränkchen neben mein Bett gestellt hat, doch etwas lässt mich zögern. Anstatt Magie zu benutzen, strecke ich den Arm aus.»Was soll das denn?« Frenja runzelt die Stirn. »Das müsstest du doch wieder auf normalem Wege können.«»Schon. Aber als ich mir das letzte Mal etwas heranziehen wollte, bin ich hier gelandet.«Frenjas Blick ist undurchdringlich. Irgendetwas treibt sie um, das spüre ich schon die ganze Zeit. Leider hält sie es nicht für nötig, sich mir zu offenbaren.»Ich habe übrigens dein Armband genommen und unter dein Kopfkissen gelegt«, sagt sie betont beiläufig.Ich hatte das Fehlen des Schmucks bereits bemerkt, war jedoch davon ausgegangen, dass einer der Krankenbrüder ihn mir abgenommen hat.»Wieso? Hast du Angst, die klauen hier?«»Leihst du es mir aus?«Am liebsten würde ich nein sagen, doch mein Frieden mit Frenja fühlt sich noch zu brüchig, zu zerbrechlich an. Wir haben einander weh getan - wie könnte ich ihr da diesen einfachen Wunsch abschlagen?Ich taste danach und ziehe es hervor.»Wieso?«»Sagen wir mal so: Ich möchte etwas ausprobieren. Ich habe da so eine Idee.«Es fühlt sich jedes Mal falsch an, das Armband wegzugeben, fast so, als wäre es ein Teil von mir. Als Fran danach greift, hätte ich meine ausgestreckte Hand am liebsten zurückgezogen.»Und die wäre?«Frenja lächeln ihr ganz spezielles Lächeln.»Das sage ich dir, wenn ich etwas herausgefunden habe. Ich will dir nicht unnötig Hoffnung machen. Ist das für dich in Ordnung?«Ganz und gar nicht. Dennoch ringe ich mir ein Lächeln ab.»Aber sicher doch.«»Gut.« Sie runzelt die Stirn. »Ich sehe zu, dass du es so schnell wie möglich wieder bekommst. Ich werde gut darauf aufpassen.«Es liegt eine gewisse Scheu darin, wie wir uns anlächeln. Ein erneuter Stich in mein Herz. Das zwischen uns fühlt sich, der Göttin sei Dank, nicht mehr falsch an. Aber auch nicht wie früher. Noch nicht. »Es gibt Dinge, die brauchen einfach Zeit!«, hat mein Vater früher oft zu mir gesagt. Langsam erkenne ich die Weisheit darin.»So, jetzt sollte ich aber wirklich los.« Fran bläst die Wangen auf und lässt die Luft dann mit einem gespielten Seufzer entweichen. »Immerhin soll ich dir so ungefähr tausend Sachen von zuhause bringen.«»Du weigerst dich ja, mich mitzunehmen«, grummele ich. »Dabei bin ich längst wieder fit!«Dass ich mich immer noch ein wenig schwach und schwummerig fühle, braucht ja keine zu wissen.»Nichts da! Du warst sechs Tage lang besinnungslos und nicht mal die Oberste Ärztin konnte sagen, was dir fehlt! Dein ganzer Kreislauf ist im Keller, das wirst ja wohl selbst du verstehen.«»Jaja...«»Ach Magret... Ich komme morgen Früh vor der Arbeit und dann schauen wir mal, ob du aufstehen kannst, ja? Bis dahin bleibst du aber liegen, versprochen?«Widerstrebend nicke ich. Aber auch nur, weil ich wieder Magie habe. Keine Frau der Welt, nicht einmal Heidrun von Borgentreich, könnte mich dazu bringen, in so ein elendes Ding zu pinkeln, wie sie es für kranke Männer und Großmütter benutzen!Ich liege in meinem Bett, schaue der Sonne beim Untergehen zu und stelle mir Fragen. Eine Menge Fragen. Keine weiß, was mit mir geschehen ist. Fran fand mich mit blutigem Daumen, aber sonst zumindest augenscheinlich unversehrt. Das Blut war bereits geronnen gewesen, von irgendeiner Magieeinwirkung oder einem Eindringling keine Spur. Fran hatte mich sofort mit einem Schutzwall umhüllt und Hilfe geholt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schwer es gewesen sein muss, die Magie um mich herum aufrecht zu erhalten und gleichzeitig bis zum Nordkrankenhaus zu rennen.Dort bin ich dann von sämtlichen Ärztinnen untersucht worden. Als die nichts fanden, haben sie mich ins Stadtkrankenhaus gebracht, das sich in einer ehemaligen Kirche der Anhängerinnen des falschen männlichen Gottes befindet. Heidrun selbst soll vorbeigekommen und nach mir gesehen haben. Ich habe nichts davon mitbekommen. Nicht einmal schwammige Erinnerungen.Im Grunde genommen, oder zumindest deute ich das Gestammel des Krankenbruders so, haben sie dort erst einmal alles Mögliche mit mir gemacht. Als nichts half, haben sie mich liegen lassen, mich sauber gehalten und abgewartet, was geschieht. Kein leuchtendes Beispiel für die Annaburger Heilmagie! Vor allem da Fran sie sicherlich ordentlich unter Druck gesetzt haben wird.Ich muss eine ganze Weile warten, bis sich endlich eine Ärztin bei mir blicken lässt. Offenbar hat es keine eilig, mich zu sehen, nachdem der Krankenbruder mit feuchten Händen meinen Puls gemessen und mir einige Fragen des Allgemeinwissens gestellt hat.»Guten Abend, Frau Beatesdother! Mein Name ist Berta von Janine, ich bin hier die Obere Ärztin. Das hier sind Nadine Janasdother und Cora Michaelasra.«Die Obere Ärztin ist eine streng aussehende Frau, deren helles Haar bereits von Silbersträhnchen durchzogen ist. Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Magielosigkeit sie zur Aufgabe ihres Postens zwingt - sofern ihr eine andere Frau nicht vorher die Entscheidung abnimmt. Ich weiß, wie viel eine als Obere Ärztin hier verdient; es haben sich schon Frauen für weniger Taler und Prestige duelliert.Die beiden anderen Ärztinnen dagegen sehen aus, als kämen sie frisch vom Ausbildungszug.»Guten Abend.« Meine Stimme klingt noch immer ungewohnt in meinen Ohren. Als wäre sie mir während meiner tagelangen Bewusstlosigkeit fremd geworden. »Wie geht es mir?«Meine Frage entlockt der Oberen ein kleines Lächeln.»Eine vortreffliche Frage, Frau Beatesdother. Ich würde lügen, würde ich nicht gestehen, die Hoffnung gehabt zu haben, Sie könnten mir ebendiese Frage beantworten.«»Wie geht es Ihnen?«, fügt eine der Küken-Ärztinnen eifrig hinzu. Offenbar ist sie es gewohnt, die leicht komplizierte Grammatik ihrer Vorgesetzten zu übersetzen.Ich setze mich etwas weiter auf. Sofort steigt ein ekelhaftes Gefühl in mir hoch, das mir ebenso bekannt wie verhasst ist: Schwäche.»Was mich anbelangt, so bin ich optimistischer Gesinnung, bald wieder auf der Höhe meiner physischen und psychischen Fähigkeiten zu sein. Das bedeutet, es geht so.«Die Miene der Oberen Ärztin verzieht sich dieses Mal um keinen Millimeter, doch ihr Blick verrät genüssliches Amüsement. Die eifrige Küken-Ärztin läuft rot an, während ihre Kollegin unverhohlen grinst.»Also, liebe Frau von Janine, was können Sie mir zu meinem Zustand sagen?«»Nicht viel, so fürchte ich?« Sie nickt der eifrigen Ärztin zu, die daraufhin eine Handbewegung macht. Meine Magie seufzt erleichtert auf. Wenn ich unter Magie bin, spüre ich stets eine Art dauerhaftes Hintergrundrauschen. All das, was falsch und unrecht ist bei den Menschen um mich herum. Ich habe mich so daran gewöhnt, dass mir diese Allgegenwärtigkeit oft nur auffällt, wenn sie mit Einsatz meiner magiefreien Tage plötzlich weg ist oder danach mit einem Mal wieder da. Dass es nun für meine Magie so gut wie still ist, zeigt mir, dass die Frau eine Abschirmung geschaffen haben muss. Vermutlich geht es vorwiegend darum, dass wir nicht belauscht werden. Eine solche Ruhe kann ich unter Magie sonst nur auf dem Platz der Stummen Frau genießen.»Frau Michaelasra? Klären Sie die Patientin über ihren Zustand auf!«»Ja, Frau Obere! Frau Beathesdother, Sie kamen in bewusstlosem Zustand zu uns. Ihre Vitalwerte, also Herzschlag, Atmung und Puls, waren auffällig. Mal raste Ihr Puls, mal war er kaum messbar. Ihre Atmung war flach und setzte immer wieder für einige Sekunden aus, so dass wir zügig eingriffen und Sie mit Sauerstoff versorgten. Ihr Herzschlag war unregelmäßig. Auch hier schritten wir regulierend ein. Frau Gerlach führte eine komplette Reinigung Ihres Blutes durch, ohne dass es zu sichtbaren Besserungen Ihrer Symptome geführt hätte. Am darauffolgenden Tag versuchte Frau von Niedersfeld, deren Heilmagie mit natürlicher Spannung arbeitet, Sie aufzuwecken.«»Moment mal.« Ich hatte schon mehrfach Gerüchte darüber gehört, wie eine solche Behandlung vor sich geht. »Soll das etwa bedeuten, diese Frau von Niedersfeld hat winzige Blitze durch meinen Körper gejagt?«Frau von Janine nickt. »In der Tat.«»Oh. Na schön. Und weiter?«»Ihr Zustand verbesserte sich trotz der Behandlungen nur minimal. Am dritten Tag ließen wir Frau NicMara kommen, die sich unter anderem auf den gesamten Blutkreislauf spezialisiert hat. Sie tat ebenfalls ihr Bestes, um Sie wieder wach zu bekommen, allerdings ebenfalls ohne Erfolg.«NicMara? Wo habe ich den Namen schon einmal gehört? Ich gehe im Geiste die meistgesuchten Frauen des Reiches durch. Viele sind es nicht, wie ich voller Stolz feststelle, unsere Garden bestehen nur aus Top-Frauen!Dennoch: Woher kommt mir der Name bekannt vor?Ich setze mich abrupt auf, ignoriere den Schwindel, den die plötzliche Bewegung verursacht, und fixiere die Obere Ärztin.»Doch nicht etwas DIE NicMara, oder? Rona NicMara?«Wenigstens hat Frau von Janina den Anstand, mir weiter in die Augen zu schauen. Sie presst ihre Lippen fest zusammen und nickt dann.»Ich verstehe Ihren Unmut, doch wir sahen uns zu diesem drastischen Schritt gezwungen.«»Dass Sie eine verdammte Bluthexe an mir herumpfuschen lassen?«»Sie wissen so gut wie ich, Frau Beathesdother, dass Blutmagie Dinge zu tun vermag, die Sie und ich uns nicht einmal vorstellen können. Wir taten es, weil wir erhofften, damit Ihr Leben retten zu können.«»Dann will ich mal schwer hoffen, dass Sie sichergestellt haben, dass diese Person nichts von meinem Blut behalten hat und sei es auch nur einen winzigen Tropfen!« Mich graust bei der Vorstellung, was die Bluthexe in dem Fall alles mit mir anstellen könnte.Erneut wendet die Frau den Blick nicht ab, sondern steht zu dem, was sie getan hat.»Wir haben Frau NicMara keinen Augenblick mit Ihnen allein gelassen. Wir haben schon seit vielen Jahren eine Vereinbarung mit ihr geschlossen und bezahlen sie geradezu fürstinlich. Dennoch, ich bin in Blutmagie selbstverständlich nicht bewandert. Daher kann ich zu meinem großen Bedauern nichts ausschließen.« Bevor ich etwas sagen kann, hebt sie die Hand. »Ich wiederhole, ich verstehe Ihre Echauffiertheit auf Höchste und würde wohl ebenso empfinden. Dennoch erschien es uns angesichts der Lage als letzte Möglichkeit, Ihnen zu helfen und ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz offen: Ich würde es wieder tun, sollten mich ähnliche Umstände dazu zwingen!«Meine Empörung fällt in sich zusammen. Die Ärztin hat recht. Blutmagie ist die gefährlichste und mächtigste Magie, die es gibt. Jede Bluthexe wird von uns streng überwacht. Außerdem muss sie sofort nach Erweckung ihrer Magie einen blutmagischen Eid auf die Goldene Frau schwören. Welche sich weigert, wird vernichtet. Nie würde die Goldene Frau eine so mächtige, ihr nicht durch einen blutmagischen Eid verpflichtete Frau in ihrem Reich dulden!Und das vollkommen zu Recht: Einer Bluthexe genügt ein Tropfen Blut ihres Opfers, um es sich willfährig zu machen. Der Gedanke, dass eine solche Person Zugang zu meinem Blut hatte, lässt mich schaudern. Nun, daran ist jetzt nichts mehr zu ändern. In Gedanken mache ich mir eine Notiz, dieser NicMara beizeiten auf den Zahn zu fühlen.Kapitel Sechszehn16Fran versucht erst gar nicht, mich davon zu überzeugen, zuhause zu bleiben. Stattdessen begleitet sie mich am nächsten Tag. Der vertraute Anblick des Gardegebäudes bringt mein Herz zum Hüpfen. Leider trifft das nicht auf den Rest meines Körpers zu: Die Tage, die ich ohne Bewusstsein war, haben ganz schön an mir genagt. Meine gesamte Kondition hat darunter gelitten, wie ich bereits auf dem Weg von Krankenhaus nach Hause bemerkt hatte. Den Schlossberg hinaufzugehen, grenzt an Folter.»Als wäre ich wochenlang krank gewesen!«, beschwere ich mich bei meiner Freundin.»Wenn eine bedenkt, dass die Ärztinnen noch immer nicht wissen, was dir eigentlich gefehlt hat und du auch fast gestorben wärst, ist das ja wohl ein geringes Problem, oder?«Ich versetze Frenja einen leichten Stoß. Als sie daraufhin ins Straucheln kommt, stichele ich: »Wie war das noch mit allzeit bereit?«Frenja grinst und geht weiter.Wie nichts anderes zeigt mir das, wie sehr sie sich um mich sorgt; früher hätte sie zurückgestoßen, und das nicht gerade sanft.Endlich sind wir oben angekommen. Ein strenger Blick von mir und die wachhabenden Gardistinnen kommen gar nicht erst auf die bescheuerte Idee, für mich eine Ausnahme zu machen. Ich lasse das gewohnte Prozedere der Magiemustererstellung und Identifizierung über mich ergehen. Sobald wir im Gebäude sind, lasse ich mich jedoch gegen eine Wand sacken.»Bei der Göttin, ich bin so erschöpft, als hätte ich die Nacht durchgemacht!«»Das wird sich legen«, sagt Frenja beiläufig.»Ach ja? Woher willst du das wissen?«Fran kneift die Augen zusammen.»Hör mit dem Gejammer auf!«»Na herzlichen Dank auch!«»Ich meine es ernst, Magret. Du bist Zweite der Spezialabteilung der Goldenen Garde. Wenn du krank bist, schön, dann bleib zuhause. Aber komm nicht hierher und senk die Moral deiner Frauen.«Ich zucke zusammen. Die Zurechtweisung tut weh. Weil sie berechtigt ist. Ich stoße mich von der Wand ab und straffe meine Schultern.»Du hast Recht. Ich werde es schon schaffen. Ich lasse es heute einfach ruhig angehen. Muss mir sowieso erst einmal berichten lassen, was in der Zwischenzeit alles geschehen ist. Morgen bin ich dann wieder voll dabei!«Fran nickt. »So ist es gut!«»Alles klar.« Ich zögere kurz. »Soll ich uns heute Abend etwas kochen?«»Heißt das, du bist zu Hause?«Das »und nicht im Gasthof« schwebt ungesagt zwischen uns. Ich habe es nicht anders verdient.»Ja«, sage ich daher schlicht.Fran lächelt.»Gern.«»Gut, dann bis heute Abend.«»Ach Magret, eins noch!«»Ja?«»Die Frau, von der du dein Armband zuletzt hast untersuchen lassen...«»Ja?« Ich gehe einen Schritt auf sie zu und hoffe auf Antworten.»Weißt du zufällig, über welche Magieart sie verfügt?« Da muss ich einen Moment nachdenken. Das war Frau Rauke gewesen, wenn ich mich nicht irre. Oder Frau Bäckerin? Nein, das war die von der Schmuckschmiede Schwalmstadt gewesen, es war Frau Rauke, da bin ich mir sicher, weil ich keine Zeit gehabt hatte, das Armband abzuholen und daher Frenja darum gebeten hatte.»Frau Rauke hatte meines Wissens nach eine Magie, die bewirkt, dass sich Dinge anders verhalten, als sie sind. Sie kann einen Stein dazu bringen, sich wie Eis zu verhalten und in der Sonne zu schmelzen. Oder eine Sandburg fest wie Metall werden lassen. Verstehst du, wie ich das meine?«»Hm, ja, ich denke schon.« Fran kratzt sich am Kinn, den Blick auf etwas Unbestimmtes gerichtet. »Eine könnte also sagen, ihre Magie ist das Gegenteil davon, die Wahrheit zu sagen oder zu zeigen?«»Eher das Gegenteil davon, die Wahrheit zu sein.«»Das ist interessant«, murmelt sie.»Wieso? Und wie kommst du jetzt drauf?«»Ach, nur so. Ich frage mich gerade, inwiefern das einer Wissenschaftlerin weiterhilft.«Ich zucke mit den Schultern.»Frag mich doch nicht sowas! Aber anscheinend erlaubt ihr diese Magie, eine Menge Tests an Dingen durchzuführen, die ihr sonst nicht möglich wären.«»Na ja«, Frenja grinst, »besonders viel scheint ihr das ja nicht gebracht zu haben, wenn sie dir nichts Neues über das Armband zu berichten hatte. Also, bis später dann!«Sie winkt lässig und zieht von dannen. Ich wüsste zu gern, was sie ausheckt.Kaum betrete ich die Spezialabteilung der Goldenen Garde, kommen alle auf mich zugestürmt.»Magret!«»Dritte!«»Magret, da bist du ja wieder!«Der Empfang, den mir meine Frauen bereiten, wärmt mir das Herz.»Medina und Oksana sind gerade unterwegs«, berichtet Kathi. »Aber sonst sind alle hier.«Mein Blick wandert in eine bestimmte Ecke.»Frieda?«Betretenes Schweigen.Der Göttin sei Dank, gibt es Diana!»So, Mädels!«, sagt sie und klatscht zweimal in die Hände. »Die Dritte ist wieder da und ihr alle habt Hallo gesagt. Kein Grund also, weiter untätig herumzustehen. Wie ich unsere liebe Magret kenne, wird sie alsbald ein jede von euch auffordern, ihr Bericht zu erstatten. Also seht zu, dass ihr vorankommt. Ihr wollt die Dritte doch nicht enttäuschen, oder?«Sofort machen sich die Frauen wieder an die Arbeit.Diana gibt mir einen leichten Klaps auf die Schulter.»Es ist so gut, dass du wieder da ist«, raunt sie. Zu meiner Überraschung bricht ihr dabei kurz die Stimme weg. »Ich konnte dich nicht besuchen, weil... Ich konnte einfach nicht.«»Schon gut, Diana. Krankenhäuser sind nun mal nicht jederfraus Sache.«»Dich da so liegen zu sehen... Ich konnte einfach nicht. Ich habe es versucht, ehrlich...«»Ich weiß.« Bis zu dem Augenblick hatte ich gar nicht darüber nachgedacht, welche mich während meiner Bewusstlosigkeit besucht - und gesehen - haben könnte. Anderen derart ausgeliefert gewesen zu sein, welch schrecklicher Gedanke!Ich schaue Diana an, die schon so lange Zeit mehr als meine Kollegin ist. In ihrem Gesicht sehe ich Reue und Scham. Unmöglich, ihr Verhalten als Verrat zu empfinden.»Nun«, sage ich glatt, »ich nehme an, dafür hast du in der Zwischenzeit hier alles am Laufen gehalten?«Ihre Mimik wechselt zu Erleuchtung und Freude.»Ja, das habe ich in der Tat, Dritte! Ich meine, du warst ja nicht da und Heidrun war wie immer sehr beschäftigt, und eine musste ja bei den ganzen Fällen auf dem Laufenden bleiben. Möchtest du, dass ich dir berichte?«»Gern. Aber lass uns das in der Teeküche machen. Wir gehen gemeinsam jeden Fall durch und du kannst die jeweils zuständigen Gardistinnen dann immer hereinrufen.«»In Ordnung! Möchtest du mit etwas Bestimmtem anfangen?«»Nein, die Reihenfolge überlasse ich ganz dir. Nur eins: Den Fall mit den getöteten Männern machen wir zum Schluss.«Es dauert nicht lange, bis mich meine Frauen auf den neusten Stand gebracht haben.»Verdammt, die sterben schneller, als wir mit den Vernehmungen nachkommen«, murmele ich. Normalerweise ist es nicht meine Art, laute Selbstgespräch zu führen, aber ich bin dermaßen durch den Wind, dass mich das jetzt auch nicht mehr stört.Mein Tee ist mittlerweile kalt geworden. Ich halte meine Hand über die Tasse, nur um eine Sekunde später zurückzuzucken. Verflixt, was ist nur los mit mir? Habe ich jetzt schon Angst vor meiner eigenen Magie? Wenn das so weitergeht, muss ich wohl doch mal eine Seelenärztin aufsuchen!Alles, nur das nicht!Entschlossen halte ich die Hand erneut über die Tasse und erwärme, ohne mit der Wimper zu zucken, deren Inhalt. Na bitte, geht doch! Was ist nur in mich gefahren? Was es auch ist, ich muss dem dringend alsbald auf den Grund gehen. Dass keine mir sagen kann, was mit mir geschehen ist, macht die Sache nicht weniger mysteriös. Noch immer tendiere ich dazu, vergiftet worden zu sein. Eine wird nicht Stellvertreterin der Heidrun von Borgentreich, ohne sich eine Menge Feindinnen gemacht zu haben. Doch welche Frauen kämen für so eine hinterhältige Aktion in Frage?Im Gegensatz zu so einigen habe ich mich immer von den Männern anderer Frauen ferngehalten. Wollte eine meinen Posten haben, müsste sie mich öffentlich herausfordern; zwar könnte mich eine Konkurrentin auch auf diese Weise aus dem Weg räumen, nur würde sie so niemals von den anderen Gardistinnen anerkannt werden. Mich zu vergiften würde karrieretechnisch also keiner nützen. Wäre ich nicht mehr aufgewacht, wäre mein Posten zumindest provisorisch an Diana gegangen, und die ist über jeden Zweifel erhaben.Welche kommt noch in Betracht?Frauen, die dem Irrglauben aufsitzen, meinetwegen im Gefängnis gewesen zu sein und nicht um ihrer eigenen Taten willen. Oder deren Angehörige. Nun, in der Richtung zu forschen, ergibt kaum Sinn. Da kämen zu viele in Frage. Dennoch nehme ich mir vor, eine meiner Frauen darauf anzusetzen, ob der Zeitpunkt in irgendeiner Weise signifikant war: Entlassungen gab es in letzter Zeit keine, soweit ich weiß. Vielleicht aber wurde die Magie in einer Angehörigen erweckt, so dass diese beschlossen hat, dass endlich die Zeit für die lang ersehnte Rache an mir gekommen sei. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass das möglich, aber unwahrscheinlich ist. Meiner Erfahrung nach ist die überwiegende Mehrheit der Menschen zu faul oder zu sehr mit dem Leben beschäftigt, um einen langjährigen ernsthaften Groll zu hegen. Meine Magie schweigt sich aus, daher werde ich es bei einer Routineüberprüfung belassen.Nächste Möglichkeit: Eine will mich gewaltsam davon abhalten, weiter den Fall der Toten von Annaburg zu verfolgen. Schlüssig. Doch auch hier stelle ich mir die Frage, weshalb so kompliziert? Und wieso nicht endgültig? Ich lag besinnungslos auf dem Boden. Bis Fran mich fand, verging ausreichend Zeit, um kurzen Prozess mit mir zu machen. Ohne mir selbst zu schmeicheln, hätte der Mord an mir für viel Aufsehen gesorgt. Zu viel Aufsehen? Aufmerksamkeit, die das Augenmerk der Öffentlichkeit zu sehr auf den Fall gerichtet hätte? Nun, das würde zumindest dafürsprechen, dass all die Fälle der toten Männer irgendwie zusammenhängen. Auch wenn ich noch nicht weiß, wie. Denn falls sich eine so verflixt viel Mühe gegeben hat, es nach vielen Einzeltaten aussehen zu lassen, kann diese Person unmöglich ein Interesse daran haben, dass wir der Sache weiter nachgehen.Ich seufze. Auch der Ansatz ist mehr als unwahrscheinlich. Was hätte denn eine davon, mich zu töten? Es wäre ja nicht so, als würde sie damit der Schlange den Kopf abschlagen und einen hilflosen, sich im Todeskampf windenden Körper zurücklassen. Ich gehöre zur Goldenen Garde. Wir entsprechen daher eher der legendären Hydra und wo ich gefällt werden würde, würden zwei anderen Goldene Gardistinnen nachrücken. So weit kann jede Frau denken, die auch nur über einen Funken Grips verfügt.Galt der Anschlag mir als Person oder der Stellvertreterin Heidruns? Das ist die große Frage. Ich kann mir nicht vorstellen, eine privat dermaßen gegen mich aufgebracht zu haben. Doch was, wenn es gar nicht mich treffen sollte? Sondern Heidrun oder Frenja?Wie ich es auch drehe und wende, es führt zu nichts. Ohne weitere Hinweise komme ich der Täterin nicht auf die Spur. Hätte ich nur das Wie, könnte ich ganz leicht das Welche herausfinden! Doch selbst die Ärztinnen sind daran gescheitert.Und jetzt?Ein kleines Lachen rollt mir über die Lippen. Nun, vielleicht wäre es für den Anfang nicht schlecht, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht noch einmal geschieht.Kapitel Siebzehn17Es ist wahr, ich habe es selbst ausprobiert.« Frenjas Augen sind so kühl wie ihre Stimme.In mir hingegen tobt der reinste Gefühlssturm. Frenja hat mich ohne jede Vorwarnung in die Teeküche beordert und mir dort die größte Ungeheuerlichkeit offenbart, die die Menschheit je erlebt hat. Wenn Frenja sagt, dass die Steine in dem Armband Magie speichern können, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Sie glaubt daran und es ist wahr oder sie glaubt daran, obwohl es nicht wahr ist. Ihr zu widersprechen wird die Situation daher nicht lösen. Etwas anderes dagegen schon.»Wie?«»Du konzentrierst dich einfach auf einen der Steine und gibst Magie hinein. Nur dass du sie dann darin nicht aufrechterhältst, sondern sie einfach loslässt.«Das klingt zu simpel, um wahr zu sein.»Woher weiß ich, dass die Magie dann im Stein bleibt und nicht einfach weggeht?« Wie es normalerweise der Fall wäre.Fran grinst.»Bist du bereit für etwas wilde Magie?«»Soll heißen?«»Ganz einfach: ich habe etwas von meiner Magie dort eingespeichert, und du kannst sie dir wieder herausholen.«»Du bist ja wahnsinnig!«, keuche ich. Etwas anderes fällt mir zu nicht ein. Noch vor einer Minute war ich wild entschlossen, die Sache auszuprobieren. Nun erscheint mir die Idee absolut absurd.»Angst, Beathesdother?« Fran hebt das Kinn, ihre Augen funkeln vor Vergnügen.»Ich geb dir gleich Angst!«Frenja nimmt das Armband wieder in die Hand und spielt an den Steinen herum.»Ich weiß, wie du dich fühlst. Es ging mir anfangs ähnlich. Ist ein bisschen so, wie mit dem Mann oder der Frau einer anderen zu schlafen.«Falls sie dieses Beispiel bewusst gewählt hat, um mich zu treffen, lässt sie es sich nicht anmerken. Dennoch trifft es haargenau zu.»Was, wenn mir deine Magie Schaden zufügt?«Fran schüttelt den Kopf.»Das glaube ich nicht. Wilde Magie ist nichts Konkretes. Nichts, das Teil eines Gegensatzpaares ist. Hätte ich Feuermagie und du Eis, dann würde ich mir Sorgen machen. Aber so? Nein. Glaub mir, ich habe gründlich darüber nachgedacht. Ich würde nie das Risiko eingehen, dass es dich noch mal so umhaut.«»Noch mal?« Ich bemühe mich, mir meine Sorge nicht anmerken zu lassen. Dennoch ist mir bei der Vorstellung, dieses Risiko erneut einzugehen, nicht Wohl.Fran scheint das Ganze allerdings weitaus lockerer zu sehen.»Genau. So bin ich dem Geheimnis der Steine doch erst auf die Spur gekommen: Du hattest eine Art Magievergiftung!«Ich merke, dass mir der Mund offensteht. Unzählige Gedanken und Fragen drehen wilde Kreise in meinem Kopf. Ich schnappe mir die Erstbeste und spreche sie laut aus: »Hä?«»Du erinnerst dich doch an die Wissenschaftlerin, die das Armband zuletzt untersucht hat, oder?«»Frau Rauke, ja sicher.«»Und erinnerst du dich auch daran, dass ich dich nach ihrer Magieart gefragt habe? Nun, deiner Aussage nach verfügt sie über eine Vortäuschungsmagie. Kannst du dir eine Magie vorstellen, die weniger zu der deinen passt?« Frenja klingt eine Spur zu beiläufig, um verschleiern zu können, wie gespannt sie auf meine Antworten wartet. Nur wieso?»Du denkst, sie hat bei der Untersuchung aus Versehen etwas von ihrer Magie in dem Armband gelassen?«»Ganz genau. Vermutlich hat sie einfach rumprobiert. Welche von uns macht sich schon die Mühe, ihre Magie irgendwo wieder herauszuziehen?«Die Antwort ist eindeutig.»Keine.«»Eben. Weil wir bis jetzt davon ausgegangen sind, dass die Magie sich nicht in Gegenständen, Personen, Pflanzen oder Tieren halten kann, wenn eine sie nicht mehr aktiv aufrechterhält.«Jetzt, da mir Fran eine konkrete Theorie hingeworfen hat, habe ich etwas, woran ich mich gedanklich festbeißen kann. Ich wälze die Fakten hin und her.»Und du denkst, dass ich während meiner magiefreien Tage aus Versehen etwas von dieser Magie genommen habe.«»Genau.«»Weil ich so gestresst war-«»Und alkoholisiert...«Ich bedenke meine Freundin mit einem scharfen Blick, den sie gelassen hinnimmt.»Na meinetwegen, ich war also aufgrund von Stress und zu viel Met dermaßen neben der Spur, dass ich ständig vergessen hatte, dass ich meine magiefreien Tage habe.« Irgendwo in meinem Kopf setzen sich die Vorkommnisse wie kleine Puzzleteilchen zusammen. »Ich habe mich schlecht gefühlt und an meinen eigenen Sinnen gezweifelt. Umgekippt bin ich dann, als... Frenja, es gab nie eine, die mich angegriffen hat! Das war ich selbst! Ich habe mit Magie nach dem Stift gegriffen und muss mich dabei unbewusst an der Magie der anderen bedient haben. Ich hatte zu dem Zeitpunkt ja keine.«»Ganz genau. Als du dann auch noch ein Tuch via Magie heranziehen wolltest, war das einfach zu viel und du bist umgekippt.«Ein Schauer gleitet mir über den Rücken.»Wenn eine fremde Magie das mit mir anstellt, während ich so gut wie keine Magie im Blut habe - wie wäre es mir ergangen, wäre mir das unter Magie passiert?«»Die Frage erübrigt sich, da du unter Magie ja nie auf die einer anderen zugegriffen hättest. Dennoch, um deine Frage klar zu beantworten, es hätte dich wohl umgebracht.«Einen Moment lang denken wir schweigend nach. Ein Teil von mir muss die ganze Zeit über etwas geahnt haben. Daher meine Träume. Mein eigenes Unterbewusstsein hat versucht, mich zu warnen, mir das zu sagen, wofür ich im Alltag blind war. All jene kleinen Begebenheiten, die sich im Dutzend der Lebensjahre verlieren, zusammengebündelt aber auffällig sind, ergeben auf einmal Sinn. Wieso ich oft auch während meiner magiefreien Tage das Gefühl hatte, stark zu sein. Weshalb ich mich ohne ersichtlichen Grund oft schlecht fühlte, nachdem ich das Armband wieder einmal zu Untersuchungszwecken abgegeben hatte. Warum sich immer alles in mir sträubte, es einer anderen zu geben.»Angenommen, es stimmt, was du sagst«, sage ich langsam. »Und eine kann Magie in diesen Steinen speichern. Die an und für sich nichts Besonderes sind. Die nahezu überall gefunden und abgebaut werden können.« Meine Stimme wird immer leiser, bis ich angesichts der immensen Tragweite dieser Entdeckung verstumme.Angenommen, jede kann Magie in Steinen speichern und wieder herausholen. Es gäbe keine magiefreien Tage mehr. Großmütter gehörten der Vergangenheit an; sie bräuchten sich lediglich während ihrer Jahre unter Magie einen großen Vorrat an den Magiespeichersteinen anzulegen. Oder genügend Frauen in ihrem Umfeld, die bereit wären, ihr jederzeit Steine neu zu befüllen.Frauen könnten ihre Magien untereinander austauschen.Frauen wären unberechenbar.Frauen könnten einander mit Magie gespeiste Steine stehlen und damit nahezu allmächtig werden.Wir könnten schon bald in einem Reich voller Bluthexen leben.Und die Magiemustererkennung: vollkommen obsolet! Keine wüsste mehr, welche welche ist, keine könnte mehr zweifelsfrei ihre Identität nachweisen. Wie um der Göttin Willen sollten wir dann jemals wieder ein Verbrechen aufklären können?Meine Hände zittern. Das Verlangen nach einem Becher Met ist plötzlich übermächtig. Ich schaffe das nicht, das ist zu viel! Frenjas Entdeckung kann unser Leben, das gesamte Goldene Reich, verändern, ach was, in Chaos und Verdammnis führen! Die natürliche Ordnung, wie die Große Göttin sie gewollt hat, würde völlig auf den Kopf gestellt werden: Jede noch so schwache Frau könnte sich plötzlich mit den Besten und Stärksten messen! Und das ganz ohne eigene Fähigkeiten, sondern einzig und allein durch kriminelle Schläue und Skrupellosigkeit!Ich starre auf das so unschuldig aussehende Schmuckstück. Ein Teil von mir würde es am liebsten zerstören. Es scheint mich zu verhöhnen, wie es so daliegt. Mir ist, als würden von Bosheit getränkte Schwingungen von dem Armband ausgehen, die sich in immer größer werdende Kreise ausbreitet. Was natürlich vollkommener Blödsinn ist. Selbst wenn die Steine randvoll mit Magie wären, müsste eine sie schon herausholen. Das Armband selbst kann nichts tun, aber es ist eine Waffe. Die Gefährlichste und Tödlichste, die mir je begegnet ist.Fran beugt sich vor, die Wangen vor Aufregung gerötet.»Magret, weißt du, was das bedeutet?«Ja, das weiß ich. Dass wir das Ding schnellstmöglich vernichten und nie wieder darüber sprechen dürfen.»Wir können Antje ihre Magie zurückgeben!«Kapitel Achtzehn18Drei neue Tötungen unschuldiger Männer. Ich starre an die Wand, die als Notizfläche herhalten muss und schiebe Frenjas Offenbarung von mir weg Violet von der Stadtgarde war so freundinlich, uns die Gesichter der Getöteten so lange auf die Wand zu projizieren, bis Svetlana sie per Magie nachgemalt hat. Mir ist wichtig, den Opfern ein Gesicht zu geben. Auch wenn die Toten nur Männer waren, haben sie es verdient, dass sich welche für sie einsetzen.Jeweils links neben den Bildern der Männer haben wir ihre Ehefrauen abgebildet. Noch immer vermuten wir, dass es im Grunde um sie geht. Um etwas Wichtiges, das für eine von Belang ist. Natürlich vorausgesetzt, die Fälle hängen zusammen. Doch wie könnten sie es nicht?Sechs tote Männer. Alle unwichtigen Informationen wie Alter oder Geburtsort haben wir weggelassen. An die Wand kommt nur, was wirklich zählt: Alter, Magieart und -stärke der Frauen sowie deren Berufe. Tötungsart. Datum des Todes. Und sonst?»Wir haben nichts als Gerüchte!«, stelle ich ärgerlich fest. »Getratsche benachbarter Hausmänner oder männlicher Verwandter zum Status der Ehe. »Er war so glücklich«, Er war so unglücklich , alles querbeet. Die Frauen: verschiedene Magien und Berufe. Sie sagen, sie hätten ihre Männer im Affekt getötet. Sie sagen, sie seien es nicht gewesen. Jede tischt uns offenbar eine andere Geschichte auf. Nur eins haben sie alle gemeinsam: Ihre Männer sind tot.«»Tut mir leid, Dritte.« Diana wirkt zerknirscht »Wir haben bei den neuen Vernehmungen unser Bestes gegeben, aber ohne deine Magie oder eine Lügenleserin... haben wir nur das, was sie uns gesagt haben.«»Wer hat die Verdächtigen unserer neusten Toten und die anderen Zeuginnen verhört?«»Das waren Maike und ich. Wir haben uns alle vorgenommen. Äh, außer Frau Tildasdother, die Schwester des erstickten Mannes.« Diana schnauft. »Aus der haben wir leider kein Wort herausbekommen.«Ich nicke.»Sehr gut. Ich vertraue eurem Urteil. Die Schwester werde ich mir selbst vorknöpfen. Was die anderen Frauen anbelangt: Welche hat die Wahrheit gesagt, welche lügt?«Diana und ihre Gardeschwester wechseln einen Blick.»Wir sind uns da ziemlich einige, Dritte«, sagt Maike. »Jede Frau, die behauptet, ihren Mann selbst getötet zu haben, lügt.«»Und wieso?«Maike schüttelt den Kopf. »Wissen wir nicht. Wir können nur Vermutungen anstellen.«»Ich schätze, die einen fürchten, sich zu blamieren.« Diana schnauft. »Eine Frau, die ihren eigenen Mann in ihren eigenen vier Wänden nicht beschützen kann - so etwas kann die Karriere einer Frau ganz schnell beenden.«»Nachvollziehbar. Eine, deren Mann von einer anderen einfach so umgebracht wird, muss damit rechnen, dass sie bald herausgefordert wird.«»Guter Einwand, Maike!« Ich kratze mich am Kinn. »Wie sieht es denn aus in Sachen Berufe bei den Frauen? Wenn ich das richtig sehe, haben die meisten nicht gerade das, was ich eine Traumkarriere nennen würde.«»So ist es«, stimmt Diana mir zu. »Insgesamt stehen die Herz-Spezialistin, die Brauerin und Frau von Frankenberg am besten da, letztere arbeitet in der Pflanzenforschung. Die anderen haben absolute Durchschnittsjobs.«»Und wieso lügen die dann?«Meine Frauen zucken mit den Schultern.»Wir tippen auf ein rein logisches Abwägen.«»Inwiefern?«»Erinnerst du dich noch an Frau Junisra, die Brauerin? Sie hat gelogen, weil es ihr einfacher erschien. Verhaftung, Geständnis und zack, ist sie wieder auf freiem Fuß. Natürlich nicht, ohne vorher der Mutter ihres Mannes die Geldbuße zu bezahlen. Aber das ist ja nun wirklich nicht die Welt.«Ich nicke. Die Entschädigung, die normalerweise einer Witwe, in einem Fall wie diesem aber der Mutter oder nächsten Verwandten eines männlichen Tötungsopfers zusteht, hat eher symbolischen Charakter.»Hätten sie auf ihre Unschuld gepocht«, fährt Diana fort, »säßen sie vermutlich jetzt noch in einer Zelle.«»Stört es sie denn gar nicht, dass alle Welt sie jetzt für Mörderinnen hält?«, fragt Kathi.Diana schüttelt den Kopf.»Den eigenen Mann aus Versehen im Streit zu töten - was denkst du, wie oft das passiert? Ich will ja nicht behaupten, dass das im Goldenen Reich an der Tagesordnung ist, aber... Frauen sind nun mal so viel stärker und nicht alle wissen ihre Kraft richtig einzuschätzen. So ist das eben. So ist das Leben.«»Dem muss ich leider zustimmen. Weiß die Göttin, beizeiten wünschte ich mir, die Göttin hätte unsere Männer etwas robuster gebaut.« Wenn ich an die letzten Streits mit Georg denke, bin ich heilfroh, dass meine Magie derartiger Natur ist, dass ich mich schon ordentlich konzentrieren muss, um mit ihr zu töten. Hätte ich dagegen Stein-, Raubtier- oder Eismagie oder dergleichen - hätte auch ich dann bereits einem Mann gegenüber die Fassung verloren?Ich mustere die Gesichter, die mich von der Wand aus zu beobachten scheinen. Martin Tildasson, getötet durch Ersticken. Magieart seiner Schwester, bei der er lebte: Luft. Was sich so einfach liest, ist nichts anderes als eine grausame Tragödie. Während meiner Zeit als Stadtgardistin habe ich mehrfach mit Frauen zu tun gehabt, die über Luftmagie verfügten. Mein erstes Mal hätte ich beinahe nicht überlebt. Nie werde ich die Panik vergessen, die mich überfiel, als eine Frau namens Thora Schreiberin es schaffte, mir einen Schwall Luftmagie direkt in den Mund zu verpassen. Ich konnte nicht mehr atmen! Der Luftstrom riss nicht ab, es fühlte sich an, als würde ich mit offenem Mund in der Blasrichtung eines Orkans stehen. Trotz des theoretisch absoluten Gegenteils von Luftnot war ich dennoch nicht imstande, zu atmen. Wäre meine Gardeschwester Wanda nicht gewesen, wäre ich heute nicht hier. Mittlerweile weiß ich, wie ich in einer solchen Situation Ruhe bewahre und den Angriff abwehre. Ein Mann dagegen hat einer Lufthexe nichts entgegenzusetzen.Dann Lukas Abbigailsmann: Er wurde auf besonders unschöne Art erschlagen. Ein schwerer Gegenstand, genauer gesagt ein Pokal aus Bronze, wurde ihm ins Gesicht geschmettert. Arme Kathi - das war sicherlich ein besonders grausamer Anblick. Dennoch hat sie den Leichnam genauestens überprüft. Besagter Pokal, an dem noch Haare, Blut und Weiteres des Mannes klebten, stand laut Aussage mehrerer Zeuginnen immer auf der Anrichte im Büro der Ehegattin des Mannes. Verliehen bekommen hatte sie ihn ironischerweise für den dritten Platz bei einem Wettbewerb unter Frauen mit starker Telekinesemagie. In meinen Gedanken überschlage ich, wie viel so ein Pokal wiegt und welche Wucht vonnöten wäre, eine damit zu töten. Die Basismagie, über die jede Frau verfügt, ist dafür eindeutig nicht genug. Außer natürlich, es wurde mit Tricks gearbeitet.»Kathi, befand sich auf dem Pokal noch das Blut einer anderen Person?«»Nein, Dritte. Nur das des Getöteten.«Verflixt. Kurz hatte ich erwogen, ob eine andere das Bronzestück mit ihrem Blut präpariert haben könnte. Befindet sich nämlich das Blut einer Frau auf einem Gegenstand, ist sie in der Lage, ihn über weiteste Entfernung hinweg zu sich heranzuziehen. Ein nützlicher kleiner Trick, den ich auf der Akademie gelernt habe und den alle Gardistinnen wohlweislich vor zivilen Frauen geheim halten.»Somit passt auch hier die Magieart derjenigen Frau, die die Verantwortung für den getöteten Mann trug, zu der Art und Weise, wie er ums Leben gekommen ist. Allerdings streitet die Ehegattin alles ab und hat auch ein Alibi, wenn auch bloß von Freundinnen.«Ich drehe mich zu Katharina um.»Du meinst, wie er ums Leben gebracht wurde!«Sie runzelt die Stirn.»Was habe ich denn gesagt?«»Du sagtest, »wie er ums Leben gekommen ist«.«An dem Blick, den Kathi und Diana wechseln, erkenne ich, dass sie meine Richtigstellung für eine überflüssige Spitzfindigkeit halten.»Leute, das ist wichtig!«, sage ich daher betont. »Worte haben Macht! Natürlich handelt es sich hierbei nicht um einen Mord im klassischen Sinne, bei dem eine die andere grausam niedermetzelt, und das aus niedrigen Beweggründen wie Habgier, Rach- oder Eifersucht hinaus. Es ist ein Streit unter Eheleuten oder zwischen Chefin und Angestelltem, der aus dem Ruder lief. Dennoch ist ein Mensch gestorben, auch wenn es nur ein Mann war.«Die beiden schauen betreten drein. Gut so.»Gut, dann weiter im Text. Was hat es mit Pedro Hijo de Maria auf sich?« Zu diesem Mann finden sich noch keine relevanten Informationen auf der Wand. »Welche ist da dran?«»Die Befragung der Chefin Loreen von Lemgo hat Maike durchgeführt. Sie glaubt der Frau, dass sie es nicht gewesen ist«, erklärt Kathi. »Der Tote liegt noch bei der Leichenärztin. Da du nicht da warst, hielten wie es für besser, ihn kühl zu halten, bis ich ihn mir genau anschauen konnte.«»Heißt das, Martin Tildasson und Lukas Abbigailsman sind auch noch da?«»Nein. Die Verwandten haben uns Druck gemacht und...« Kathi zuckt mit den Schultern. »Die Leichenärztin und ich haben sie so gut untersucht, wie wir konnten. Die Fälle waren eindeutig. Da haben wir ihnen erlaubt, die Männer beizusetzen.«Wäre ich hier gewesen, hätte ich die Toten so lange konservieren lassen, bis der verdammte Fall gelöst ist. Nun, daran ist jetzt nichts mehr zu ändern. Zu delegieren bedeutet auch hinzunehmen, dass andere Entscheidungen aufgrund ihres eigenen Horizontes, ihrer eigenen Überlegungen treffen. Aus Katharinas Sicht hat sie nichts falsch gemacht, sondern die Sache wohldurchdacht. Sie jetzt und hier dafür zu tadeln, würde ihr Vertrauen in sich selbst beschädigen und sie vor den anderen bloßstellen. Also schlucke ich meine Kritik hinunter.»Gut. Wann genau schaust du dir die Leiche von Pedro an?«Schulterzucken.»Sobald wir hier fertig sind.«»Dann lass uns gehen, ich komme mit.«Eine Leiche in dem sauberen Untersuchungsraum einer Leichenärztin zu betrachten ist weitaus angenehmer, als sie auszugraben. Zumal die Leichenärztin und ihre Frauen rund um die Uhr eine konservierende Magie im Körper aufrechterhalten. Eine teure Angelegenheit, zweifellos, aber eine ebenso Lohnende. Pedro Hijo de Maria sieht aus, als sei er eben erst gestorben. Auch der widerlich süßliche Geruch, der mit dem Tod einhergeht, strömt noch nicht von ihm aus.»All unsere Untersuchungsergebnisse deuten darauf hin, dass er an Tierhaaren erstickt ist.«Die Leichenärztin hält mir einen Papierbogen hin.»Hier ist mein Bericht. Sie können ihn gleich mitnehmen, ansonsten hätte ich ihn heute Abend vorbeigebracht.«»Danke.« Ich nehme das Papier und überfliege die sorgfältig ausgefüllte Tabelle. Der Tote war 31 Jahre, 12 Tage und circa 13 Stunden alt, als er aus dem Leben gerissen wurde. Bis zu seinem Tod war er gesund und halbwegs gut genährt. Ich kann keinerlei Ansammlung von Fett an seinem Körper erkennen. Aber so ist es ja oft bei unverheirateten Männern: Solange sie auf Frauenfang sind, geben sie sich alle Mühe; erst nach der Hochzeit lassen sie sich gehen.Aus dem Bericht geht hervor, dass sich der Tote offenbar öfter geprügelt hat. Er trägt Spuren verschiedener, leichter Verletzungen wie Quetschungen und hier und da eine Verstauchung. Das Team der Leichenärztin konnte die älteste Verletzung für den Tag zweieinhalb Monate vor seinem Tod zuordnen; ältere Spuren von Gewalteinwirkung konnten sie leider aufgrund mangelnder oder zu schwacher Magie nicht mehr feststellen. Ich muss mir auf die Zunge beißen, um nicht einen wütenden Kommentar abzugeben. Die Leichenärztin hat ihr Bestes getan und arbeitet sicher mit den besten Frauen zusammen, die sie hier für das Geld, das die Goldene Frau zahlt, bekommt. Fakt ist aber auch, dass ich mindestens drei Frauen kenne, die solcherlei Spuren bis zu zwei Jahre zurückverfolgen könnten. Die arbeiten freilich in anderen Bereichen und verdienen sicher das Doppelte. Nun, es ist, wie es ist. Aber ich will verdammt sein, wenn ich nicht herausbekomme, welche hinter dieser grausamen Tat steckt!Kapitel Neunzehn19Also nichts Auffälliges?«, fasse ich den Bericht in einer Frage zusammen.»Nein. Ein ganz normaler, alleinstehender Mann. Ein paar Raufereien, aber nichts Ernstes. Das Schlimmste, was diesem Mann in der letzten Zeit widerfahren ist, ist ein verstauchtes Handgelenk.«»Als was hat er gearbeitet?«»Er hat zweimal am Tag Pferdesch...äpfel geschaufelt. Steht da aber auch.«»Ach so, stimmt.«Meine Mutter hat mir erzählt, dass früher jeden Abend hunderte von Männern und Fräulein in Annaburg genau damit beschäftigt waren. Sie hatten den Mist, den die zahlreichen Pferde über den Tag in der Stadt hinterlassen hatten, aufgeschaufelt und aus der Stadt transportiert. Die Erfindung des magisch betriebenen Gehwegs und das Verbot von Pferden in der Innenstadt hatte im wahrsten Sinne des Wortes einen glänzenden Effekt. Dennoch müssen die Vororte und vor allem auch die Sandstraßen täglich gereinigt werden. Eine unschöne Arbeit, die es jedoch Männern und Fräulein ermöglicht, auch ohne Frau an ihrer Seite ein Einkommen zu erlangen.»Das dürfte mit verstauchtem Handgelenk aber nicht so gut geklappt haben.«Die Leichenärztin kommentiert Kathis Einwand mit einem Schulterzucken.»Gut.« Ich schaue mich kurz um, doch sonst scheint keine hier zu sein. »Wenn Sie uns dann bitte allein lassen würden? Wir möchten uns die Leiche noch genauer anschauen.«Die Ärztin seufzt, macht eine wedelnde Handbewegung und scheucht ihre Assistentin aus dem Raum. Dann kehrt sie uns ebenfalls den Rücken. Wir kennen uns bereits seit Jahren. Ich weiß, dass sie alles andere als glücklich darüber ist, dass wir gewaltsam Getötete noch einmal untersuchen. Es geht ihr gegen den Berufsstolz, dass wir denken, sie und ihre Leute könnten etwas übersehen haben. Sie wiederum weiß, dass ich tun muss, was ich für richtig halte und was meiner Meinung nach in meiner Verantwortung liegt. Anders sähe es aus, wenn ihre Abteilung der meinen untergeordnet wäre, wenn der Goldene Garde also selbst ein Team aus Leichenärztinnen zur Verfügung stünde. Doch dafür ist kein Geld da und so müssen wir auf die allgemeine Stelle zurückgreifen und dann eben selbst noch mal alles durchgehen, das uns verdächtig vorkommt. Oder um es kurz zu machen: Wir akzeptieren, dass wir beide mit der Situation unglücklich sind und ziehen es vor, darüber zu schweigen.Ich bedeute Kathi, anzufangen. Sie tritt an den Toten heran und hält ihre Hände über seine Füße. Sie wird sich langsam von unten nach oben vorarbeiten. Die Stelle, auf die es ankommt, nimmt sie sich immer als Letztes vor. Ich widme mich erneut dem schriftlichen Bericht der Leichenärztin.Die Todesursache ist eindeutig: Tod durch Ersticken an Haaren. Es handelt sich dabei um Haare verschiedenster Tiergattungen. Daneben ist ein Vermerk eingetragen: Wenn wir möchten, können die Haare weggeschickt werden, um sie einzeln bestimmen zu lassen. Entsprechende Proben wurden genommen und aufbewahrt.Hm.»Welche Magie hat die Ehefrau nochmal?«»Du meinst die Chefin«, stellt Diana richtig. »Irgendwas mit Pelzen.«Ich bin verwirrt. »Wie passt das denn bitte zusammen?«»Die organisiert das Ganze, also die Reinigung der Sandstraße von hier bis Schwalmstadt. Früher aber arbeitete sie mit Tierhaaren und Pelzen, stellte daraus Kleidungsstücke, aber auch Vorleger und Füllungen für Kissen und Bettdecken her.« Sie schnaubt. »Als ob das nicht jeder Mann könnte, der auch nur etwas geschickt mit Nadel und Faden ist.«Im Geiste stimme ich ihr zu. Eine Arbeit, die einer Frau im Grunde nicht würdig ist. Andererseits, was soll eine sonst mit einer solchen Magie groß anfangen?»Ja. Na ja. Außerdem hat sie Haare an verschiedene Käuferinnen verschickt.«»Igitt«, entfährt es mir, »welche kauft denn so etwas?«Diana lacht.»Eine merkt, dass du aus der Stadt kommst! Tatsächlich können Haare ganz schön nützlich sein! Bei uns zuhause haben wir immer Menschenhaar gesammelt und den Männern gegeben. Rund um ein Gemüsebeet verstreut konnten sie auch ohne Magie wilde Tiere davon abhalten, das Gemüse wegzufressen. Ebenso gut funktionieren Raubtierhaare. Das Haar von Beutetieren dagegen kann im Gegenzug Jägerinnen anlocken.«»Aha. Wie... überaus interessant.« Ist es tatsächlich. Fragt sich nur, ob ich jemals in eine Situation gerate, in der ich das wissen muss.Diana lacht erneut.»Lass gut sein, Magret! Ich kenne übrigens nicht wenige Witwer und sogar Großmütter, die sich mit Resten ihre Kopfkissen ausstopfen.«»Ich wiederhole: »Igitt!««»Tja - wie heißt es noch so schön? In der Not frisst die Bluthexe Fliegen! Aber wie dem auch sei, das ist lange her und war wohl auch nicht sonderlich lohnenswert. Deswegen hat sie ihr Geschäft aufgegeben und hat einen Sandstraßenreinigungsdienst aufgemacht.«»Ah ja. Wie wäre es meine Liebe, wenn du dir eine dieser Proben anschauen würdest? Vielleicht sind ja auch Wildschweinhaare mit dabei.«Ich wüsste zwar nicht, was uns die Information bringen sollte, doch es kann auf keinen Fall schaden, wenn sich Diana das Ganze einmal ansieht. Obwohl sie neben einer recht starken Basismagie nur über Wildschweinmagie verfügt, kann es gut sein, dass sie andere Wildarten dort vertreten sieht. Im Moment bin ich froh über jeden noch so kleinen Hinweis, den wir bekommen können.»Wird gemacht, Dritte!«Kaum hat Diana den Raum verlassen, räuspert sich Katharina.»Magret, kommst du bitte mal? Ich glaube, ich habe etwas gefunden.«»Es ist so.« Katharina ringt mit den Händen, als könne sie so die passenden Worte finden. »Normalerweise gehen wir davon aus, dass ein Opfer, das mit einer bestimmten Magie getötet worden ist, auch durch diese Magie getötet worden ist, nicht wahr?«Ich denke kurz darüber nach, kann aber noch keine Logik in ihrer Überlegung finden. »Kathi, was du sagst, ergibt nicht wirklich Sinn, aber rede mal weiter!«»Alles klar. Also pass auf: Angenommen, Herr Hijo de Maria wurde durch die Pelzmagie seiner Chefin getötet. Dann müsste er an Haaren erstickt sein, richtig?«Ich kannte mal eine Frau, die einer anderen via Pelzmagie an interessanten Stellen Haare hat wachsen lassen. Und zwar nach innen. Doch was Kathi sagt, ist natürlich richtig: Einer Haare in die Körperöffnungen zu jagen, ist die gängige Vorgehensweise bei einer derartigen Magie.»Ja. Und weiter?«»Nun, zweifellos ist der Mann hier erstickt, ebenso zweifellos an Haaren in der Lunge. Ein sehr schmerzhafter Tod, wie ich hinzufügen möchte.«»Ja?«Noch vor einer Woche hätte ich sie jetzt ausgeschimpft, endlich zur Sache zu kommen. Die neue beziehungsweise wieder normale alte Magret dagegen weiß, wann sie einer Zeit lassen muss. Wie oft habe ich es schon erlebt, dass eine meiner Frauen keinen konkreten Hinweis auf etwas hatten, dafür aber eine vage Idee, die sie erst im Gespräch mit mir so richtig zu fassen und zu formulieren vermochten?»Etwas stört mich daran«, sagt Katharina langsam. »Sieh mal, Dritte, wenn du eine Frau mit einer solchen Magie wärst - wie würdest du dann gegen eine Feindin vorgehen?«Mich in Frauen mit anderer Magie hineinzuversetzen, gehört zu meinem Job. Schaudernd kommen mir die Magiespeichersteine in den Sinn. Hat Frenja womöglich doch recht und die Steine bieten einen unschätzbar hohen Nutzen? Zweifellos könnte ich mit ihrer Hilfe am eigenen Leib nachempfinden, wie sich verschiedene Magien anfühlen, wie ich sie anwenden würde.Aber nein. Sie bergen zu viel Risiko. Und welche weiß, ob ich mir dann nicht wieder eine Magievergiftung einfangen würde.Also muss ich es so versuchen. Ich schließe meine Augen und hebe die Hände, gehe in Angriffsposition. Gegen einen Mann? Lächerlich. Als wollte eine ein Baby schlagen. Lieber stelle ich mir vor, ich wäre wieder in der Tränenburg. Die Tür zur Teeküche würde sich öffnen und... Pelz. Tierhaare. Zweifellos könnte ich auch menschliches Haar benutzen. Meine Magie ist faserig und weich, aber im richtigen Winkel benutzt drahtig und fähig, Haut und ähnliches Gewebe aufzuschlitzen. Würde ich so angreifen? Nein, die Macht dieser Magie liegt in ihrer Konsistenz, in der Menge. Feinste Haare, perfekt, um lebensnotwendige Luftwege abzuschneiden. Interessant wäre auch, sie einer ins Blut zu jagen, doch das ist komplizierter und nicht für einen Kampf unter Frauen geeignet. Pff, Kampf! Wieso vergesse ich immer wieder, dass davon hier nicht die Rede sein kann? Ein Mann wurde angegriffen, ein per Definition hilf- und wehrloses Geschöpf. Da wäre das mit dem Blut also durchaus eine Option; wie hätte er sich auch dagegen wehren sollen?»Im Eifer des Gefechts«, sage ich und öffne die Augen, »wenn der Ärger mich überrollt... Tja, da würde ich es klassisch machen, denke ich. Zumindest mit dieser Magie.«Kathi nickt zustimmend.»Wir sind ja im Grunde alle gleich, Dritte. Ist unsere Magie fest und stark, zielen wir auf Oberkörper und Organe. Ist unsere Magie eher fein und weich, zielen wir auf Augen, Mund, Nase und Ohren.«»Oder bauen ein Netz, das sich zuzieht.«»Stimmt, oder so.« Ihre Stimme hat einen nachdenklichen Klang angenommen. »Magret, sei bitte so nett und beschreibe mir jetzt ganz genau, wie du vorgehen würdest, wenn du diese Magie hättest. Ich habe eine Idee, aber ich möchte dich nicht beeinflussen.«Erneut spüre ich Ärger in mir aufsteigen und schlucke ihn wieder hinunter. Katharina hat mir einen guten Grund genannt, mich darum zu bitten, vorerst ohne weitere Kenntnisse zu agieren. Das tut sie nicht, um mich auflaufen zu lassen, sondern, um den Fall zu lösen. Himmelfraugöttin, ich habe mir in der letzten Zeit einige schräge und zweifellos tendenziell paranoide Denkweisen angewöhnt.Erneut schließe ich die Augen. Nu aber!»Mein Angestellter hat Mist gebaut. Ich habe ihn dabei erwischt. Ich stelle ihn zur Rede. Er wird frech. Versucht, sich herauszureden. Nein, besser: Er lügt mir ins Gesicht und versucht gleichzeitig, einer anderen die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben!« Wenn mich etwas von null auf gleich auf hundertachtzig bringt, dann so etwas. »Als ich ihm sage, dass ich ihn durchschaut habe, grinst er nur blöd.« Obwohl es sich um eine reine Fiktion handelt, beschleunigt sich mein Puls. »Ich versuche, dennoch offen und vernünftig mit ihm zu reden. Er reagiert jedoch schnippisch und wirft mir plötzlich vor, dass ich...«»Dass du ihn belästigt hast?«»Danke, Kathi, sehr hilfreich!«Das ist es tatsächlich. Ich stelle mir vor, wie ich die Hände hebe. Ich will ihn nicht töten, aber ich will dem Kerl eine kleine Lektion verpassen. Vor allem aber will ich, dass er aufhört zu reden. Nur Hohn und Lüge kommt aus seinem Mund. Er soll aufhören!Ich hebe die Hände, lasse meine Magie hineingleiten, spüre das mächtige Kribbeln in den Fingerspitzen. Sein Lästermaul, es hält einfach nicht still. Und dann kann ich meine Magie plötzlich nicht mehr zurückhalten. Die Göttin gebe, dass diese Vorstellung niemals Realität wird! Selbst es sich nur vorzustellen hat etwas beängstigend Erlösendes...Ich jage dem Mann in Gedanken meine Magie in den Mund. Dass er bloß endlich still ist! Er kann nichts mehr sage. Seine Augen jedoch blicken weiterhin spöttisch auf mich. Seine Nasenflügel weiten sich. Sobald ich loslasse, wird er weitermachen! Also schicke ich einen weiteren Strahl los, während ich den anderen aufrecht erhalte, immer mehr hinterher schieße. Er würgt, hustet, keucht. Ich nehme ihm die Sicht und über die Nase die letzte Atemluft, verschließe seine Ohren und schotte ihn so vollkommen von der Außenwelt ab. Ich kann nicht aufhören, ich möchte nicht aufhören. Als er zu Boden fällt, erzeugt er ein dumpfes Geräusch. Langsam, wie in Trance, lasse ich meine Magie abklingen. Als nur noch einzelne Härchen zu Boden rieseln, sind seine Augen längst gebrochen.Ich öffne die Augen und schaue Kathi an. Schildere ihr in knappen, weniger emotionalen Worten meine Vorgehensweise. Versuche, dabei die Scham zu ignorieren, die mich befallen hat: Für meinen Geschmack konnte ich mich viel zu gut in die Situation hineinversetzen.In Kathis Augen sehe ich Verständnis aufblitzen.Sie nickt.»Ziemlich genau so habe ich es mir auch vorgestellt, Dritte. Also wird es ungefähr so gewesen sein.«Die Scham fällt von mir ab. Ich bin nicht gewalttätig. Nur gut in meinem Job.»Gut. Kannst du mir jetzt verraten, welche Idee du hattest?«»Ja. Und zwar ist mir eins aufgefallen. In der Lunge des Toten befinden sich zahlreiche Haare unterschiedlicher Herkunft. So weit, so normal.« Auf meinen fragenden Blick hin erklärt sie: »In der Regel haben Frauen, obwohl sie alle ungefähr dasselbe können, immer eine bestimmte Vorliebe, die ihrer Magie, äh, so etwas wie eine bestimmte Geschmacksrichtung gibt. Einige haben es mehr mit Nagetieren, andere mit Hunden und Katzen, wieder andere mögen eher Raubtiere. Das wirkt sich auf die Zusammensetzung der Magie aus.«»Das heißt, angenommen, zwei verschiedene Frauen würden jeweils einen Mann ersticken, würden wir in den Lungen der Toten eine unterschiedliche Zusammensetzung an Haaren finden?«»Genau so, Dritte!«»Das bedeutet«, spinne ich den Faden weiter, »anders als bei den bisherigen Tötungen können wir hier nachweisen, ob die Chefin die Tat begangen hat oder nicht. Wir müssen sie nur dazu bringen, ihre Magie zu benutzen, etwa auf ein totes Tier abzufeuern, und können dann die Haarspuren miteinander vergleichen.«»Exakt.«»Na, das ist doch mal was! Gute Arbeit, Katharina.«»Danke, Dritte, aber das war es eigentlich nicht, was mir aufgefallen war...« Kathi ringt mit den Händen.»Sondern? Nun rück schon raus mit der Sprache!«»Die Sache ist die, Magret... Der Tote hat nicht nur Haare in der Lunge, sondern auch vereinzelt in der Kehle, dem Mundraum und der Nase.«Langsam werde ich ungeduldig. »Das leuchtet ein. Und weiter?«Kathi wiegt den Kopf hin und her, presst die Lippen aufeinander. Wieder ringt sie mit den Händen um Worte.»Aber nirgendwo sonst!«, platzt es schließlich aus ihr heraus. »Ohren, Magret, sehe ich ja noch ein. Aber keine Haare in den Augen?«Ich bin wie gelähmt. Meine Magie zupft und kribbelt. Katharina hat recht: Da stimmt etwas nicht! Keine Haare in den Augen... Ich lasse meinen gedanklichen Angriff noch einmal Revue passieren. Nur Nase und Mund. Nichts gegen die Augen. Weiterhin den spöttischen, frechen, höhnischen Blick ertragen... Nein, das passt einfach nicht!»Das passt einfach nicht«, wiederhole ich laut.Kathi und ich schauen uns an. Ein jede sieht die Frage in den Augen der anderen: Was ist hier verflixt noch mal geschehen?Kapitel 20ZwanzigWieso um Göttinnen Willen sollte eine mit einer derartigen Magie nicht so angreifen, wie es jede vernünftige Frau tun würde?Erste Möglichkeit: Aus einem Grund, den wir weder kennen noch nachvollziehen können. Sollte das der Fall sein, hätten wir Pech gehabt. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass einige Menschen aus den abwegigsten Gründen heraus handeln. So hatte ich etwa in meiner Anfangszeit als Stadtgardistin mit einer Frau zu tun, die jeden dritten Freitag im Monat in immer einer anderen Stadt einen handfesten Kneipenkampf vom Zaun gebrochen hat. Das Seltsame daran war, dass eben diese Frau in ihrer Heimatstadt extrem beliebt war und sogar als Streitschlichterin galt.Des Rätsels Lösung fand sich, als wir ihre Familiengeschichte genauer unter die Lupe nahmen: Ihre geliebte kleine Schwester war auf diese Weise in frühen Jahren ums Leben gekommen. Wir haben die gewalttätige Frau verhaftet; das Goldene Gericht schickte sie daraufhin zu einer Seelenärztin statt ins Gefängnis. Eine kluge Entscheidung.Allerdings zeigt mir meine Erfahrung, dass derlei eher selten ist. Gemeinhin - so deprimierend das auch für die Narzisstinnen unter uns sein mag - sind Frauen im Kern alle gleich. Wir mögen uns durch Magieart und -stärke und unseren Intellekt unterscheiden. Unsere Wertvorstellungen, ob gewalttätig oder nicht, ob kriminell oder nicht, sind jedoch oftmals die Gleichen. Der Trick besteht lediglich darin, wie eine diese Werte gewichtet und welchem Personenkreis sie ein Recht an diesen zuspricht.Unsere Instinkte und Reflexe - bei Gardistinnen natürlich aufs Perfekte getrimmt - sind vom Wesen her gleich und es gilt von jeher, in einer Krisensituation die Wahl zu treffen: kämpfen, fliehen oder sich tot stellen.Frauen sind für den Kampf geboren; dennoch muss eine auch wissen, wann es klüger ist, genau das nicht zu tun. Dass sich eine nur halbherzig verteidigt, mag sein. Wegen Schuldgefühlen, einer deutlich schwächeren, geliebten Angreiferin, weiß die Geierin was. Doch dass eine Frau einen Mann angreift, so weit, dass sie ihn tötet, dabei aber eine Angriffsmöglichkeit außen vor lässt? Nein.Entweder ganz oder gar nicht. Alles andere ergibt keinen Sinn. Wenn es also so gewesen ist, dass Pedro durch Haar-Magie getötet worden ist, lässt die Logik nur zwei mögliche Schlüsse zu: Die Angreiferin hat seine Augen nicht attackiert, weil sie es nicht konnte. Oder aber, sie hat ausgerechnet dort ihre Spuren verwischt.Letzteres würde nur Sinn ergeben, wenn sie vorhatte, alle Spuren ihrer Tat zu beseitigen und den Totschlag zu leugnen und eben dabei gestört wurde. Hat die Chefin des Toten die wahre Mörderin erwischt? Doch wieso sollte sie ihre Tat verstecken wollen? Der Mann ist tot, die Mordmagie eindeutig die der Chefin. Wie bei den anderen. Sofern wir es hier also nicht mit einer Nachahmungstäterin zu tun haben, halte ich das für sehr unwahrscheinlich.Bliebe die Variante, dass sie es nicht konnte. Blödsinn. Wenn eine einem Mann Haare in Nase und Rachen jagen kann, dann doch wohl auch in die Augen.Verflixt! Wie ich es auch drehe und wende, es ergibt keinen Sinn. Ich wünschte, ich könnte mich jetzt irgendwo an eine Bar setzen und dem Ganzen mit etwas Alkohol einen Sinn verleihen. Auch wenn es kein Echter wäre; in dem Moment würde ich es ja glauben.Das ist es! Was, wenn es genau darum geht? Dass wir für den Moment etwas glauben... Bisher sind wir davon ausgegangen, dass eine Frau mit Haarmagie Pedro umgebracht hat. Schließlich verfügt seine Chefin über diese Art der Magie und es passt auch zu seinen Verletzungen. Was aber, wenn dem eben nicht so war? Angenommen, die Chefin ist unschuldig, sollte aber als die Schuldige dargestellt werden. Ich bin keine Freundin großer Verschwörungstheorien, aber langsam erkenne ich nur noch darin einen Sinn. Ein Zusammenschluss an Frauen, die - wieso auch immer - beschlossen haben, Männer umzubringen und ihren jeweiligen Gattinnen oder Vorgesetzten die Schuld zu geben. Angenommen, die machen ihren Job ziemlich gut und jede bringt sich auf geradezu mörderische Weise da ein, wo es passt. Was aber, wenn keine von ihnen in diesem Fall über die richtige Magie verfügt? Was dann? Eine weitere Frau rekrutieren? Die müsste die passende Magie haben und zudem bereit sein, einen vermutlich unschuldigen und definitiv wehrlosen Mann zu töten. Monster, die zu einem vorsätzlichen Mord an einer so schwachen Person fähig sind, wachsen nicht auf Bäumen. Nein, viel zu unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist es, dass eine Frau den Mord übernimmt, deren Magie entweder ähnlich ist oder die der Überzeugung ist, die Magie der Gattin gut genug nachzuahmen.Ich betrachte den Toten. Haare in Hals, Nase und Lungen. Rein technisch betrachtet müsste eine also nur Tierhaare nehmen und....»Kathi!«, sage ich aufgeregt. »Was meinst du, ist es möglich, sagen wir mit Luftmagie, einem Haare in die Kehle zu pusten?«An ihrem verwirrten Gesichtsausdruck erkenne ich, dass sie meinem Gedankengang nicht folgen kann.»Pass auf, stell dir vor, du hast eine Frau mit Luftmagie. Klar soweit?«»Ja, klar. Und weiter?«»Und weiter angenommen, diese Frau möchte einen töten, das Ganze aber einer anderen Frau in die Schuhe schieben. Einer, die Haarmagie hat!«Katharina nickt langsam.»Dann könnte sie einfach... Im Grunde bräuchte sie nur irgendwelche Haare zu sammeln, sie zu mischen und-«»Dem Mann in Hals und Nase zu schießen, richtig.«»Und die Augen-«»Würde sie wahrscheinlich vergessen, weil Lufthexen immer nur die Atemwege angreifen!«, beende ich ihren Satz.Wir starren einander an. Meine Magie hüpft freudig auf und ab. Wie nah ich mit meiner Vermutung an der Wahrheit bin, können weder sie noch ich wissen. Doch ich bin definitiv auf dem richtigen Weg.In Kathis Augen steht ein lebhafter Glanz.»Das ist es Magret! Das ist die Lösung! Jetzt ergibt das alles einen Sinn: Die Magie war nur vorgetäuscht!«»Nun ja, bei ihm hier.« Ich bremse ihren Eifer nicht gern. »Was mit den anderen ist, bleibt zu klären.«Katharinas Miene verfinstert sich, als ihr klar wird, worauf ich hinauswill.»Heißt das, ich muss die Leichen noch einmal untersuchen? Magret, seitdem sind wieder zig Tage vergangen, es ist heiß und...«»Ich weiß.« Einer meiner ehernen Grundsätze lautet, meinen Frauen nichts zuzumuten, wozu ich nicht selbst auch bereit wäre. Wochenlang gefaulte Leichen aus ihren Gräbern zu heben steht wirklich nicht auf der Liste meiner Lieblingsbeschäftigungen.»Lass uns erst mal in Ruhe nachdenken«, sage ich daher. »Vielleicht müssen wir das ja gar nicht. Lass uns die Morde aufteilen. Du nimmst drei, Diana und Maike jeweils auch. Ich denke über alle sechs nach, den hier haben wir ja sozusagen schon geklärt. Gib den Mädels Bescheid, jede soll die Berichte durchgehen und überlegen, mit welchen Magien eine die vermeintlichen Mordmagien nachgestellt haben könnte. Heute Abend kurz vor Schichtende treffen wir uns und tauschen uns aus.«»Alles klar, Dritte! Wo wollen wir uns treffen?«Sofort kommt mir mein Lieblingsgasthof mit seinem köstlichen Met in den Sinn. Ich seufze - besser nicht! Schräg gegenüber möchte ich mich auch erstmal nicht blicken lassen. Ich habe keine Lust, dort auf einen gewissen radikalen Kellner zu treffen. Hätte mir je eine gesagt, dass ich mal auf einen Maskulisten hereinfallen würde...»Wie wäre das Lexicali?«, schlage ich vor. Ich war noch nie dort, habe aber schon oft davon gehört. Das Lokal geht zu einem kleinen Nebenfluss der Lahn hinaus und kompensiert seine Nähe zum Stadtkrankenhaus angeblich durch berühmt-berüchtigte Partys, bei denen die Besucherinnen trotz mäßigen Talents aufgefordert werden, bekannte Lieder zu singen. Da es drinnen anständig Lärm geben dürfte, könnten wir uns dort mit Sicherheit unterhalten, ohne von neugierigen Ohren belauscht zu werden. Ein bisschen graust es mir bei der Vorstellung, den Abend mit betrunken herumgrölenden Frauen zu verbringen, aber unsere Gardefeste sind ja im Grunde ab einer gewissen Uhrzeit auch nicht anders.Kathi scheint auf jeden Fall begeistert zu sein.»Da wollte ich immer schon mal hin! Ich meine, nichts gegen Fleischtaschen, aber ab und zu will eine ja auch mal etwas anderes essen.«»Für Eis gibt es keinen Ersatz«, teilt uns Maike mit. Soeben wurde unser Essen gebracht. Von den erstaunlich bunt bestückten Tellern geht ein würziger Duft aus. Ich weiß zwar nicht, was genau ich da esse, es ist mir aber auch egal. Entweder ich esse, bis ich platze, oder ich bestelle mir eines dieser köstlich aussehenden Getränke, die garantiert jede Menge Alkohol haben.»Herr Sabinesmann allerdings, ihr wisst schon, der der angeblich mit Herz-Magie getötet wurde...« Maike macht eine verheißungsvolle Pause. »Ich glaube, ich weiß, wie es die Mörderin in Wirklichkeit gemacht hat!«Sie schaut uns der Reihe nach an.»Hitzemagie!«, sagt sie schließlich triumphierend.Diana hebt eine Augenbraue. »Im Ernst?«»Im Ernst! Ich habe ein wenig nachgeforscht, was ein männliches Herz alles dazu bringen kann, kaputt zu gehen. Schließlich kommen jedes Jahr viele Männer und Großmütter her, um sich wegen einer Herzkrankheit behandeln zu lassen.«»Komm schon«, stimmte ich ein, »jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!«»Na schön! Wenn ihr mir unbedingt mein Drama verderben wollt...« Vielleicht sollte ich Maike das nächste Mal dezent darauf hinweisen, dass alkoholische Getränke bei einer beruflichen Besprechung nichts zu suchen haben. Wenn ich nicht dummerweise während der letzten Wochen bei fast jeder Abendbesprechung selbst angeschickert gewesen wäre... Ach verflixt!»Also, es gibt verschiedene Möglichkeiten, ein Herz dazu zu bringen, sozusagen zu zerreißen. Die Eine ist Herzmagie, klar. Viele alten Männer und vor allem Großmütter leiden aber auch an Herzkrankheiten. Die rühren laut meinen Quellen oft daher, dass sie zu dick sind«, erklärt Maike.Diana sieht leicht verwirrt aus. »Wer, die Herzen?«»Haha. Nein, die Menschen. Das hat irgendwas mit der Ernährung und zu wenig Bewegung zu tun. Folglich sind eher Großmütter betroffen.«Klare Sache: Ohne Magie ist eine ihrem Körper hilflos ausgeliefert. Großmütter lassen sich oft erst einmal etwas gehen, nehmen, da sie nicht mehr arbeiten, an Gewicht zu.Kathi lacht. »Du willst uns jetzt aber nicht erzählen, dass es eine Magieart gibt, die dick macht?«»Ja«, fügt Diana hinzu, »oder lässt eine dabei ständig einer anderen Essen in den Mund schweben?«»Hahaha. Ich sagte doch bereits, dass ich auf Hitzemagie tippe! Die Sache ist nämlich die, wenn eine bereits ein schwaches Herz hat und das nicht heilmagisch behandeln lässt, können Stress, übermäßige Anstrengung oder eben Hitze dazu führen, nun, dass passiert, was mit Herrn Sabinesmann passiert ist.«Diana prustet los. »Ja. Oder eine hat ihn zu Tode erschreckt!«»Diana!« Mein Tonfall ist so scharf wie das Messer, mit dem ich das außen knusprige und innen butterweiche Fleisch zerteile. »Du weißt, was ich von solchen Reden halte!«Sie zieht den Kopf ein.»Entschuldige, Dritte!«»Ausnahmsweise lasse ich dir das mal durchgehen. Aber auch nur, weil in deinem Kommentar tatsächlich etwas Wahres liegt. Maike, kann es nicht auch sein, dass er zu Tode erschreckt oder so weit unter psychischen Druck gesetzt wurde, dass er im wahrsten Sinne des Wortes tot umgefallen ist? Ich meine, wir alle wissen um die zarten Gemüter der Männer. So abwegig kommt mir das also gar nicht vor.«Maike schüttelt den Kopf.»Theoretisch ja, praktisch nein, Dritte. Natürlich wäre ein solches Szenario denkbar. Da würde sich mir allerdings die Frage stellen, wie eine das vom Timing her genau abpassen wollen würde. Eine kann ja schlecht die Uhr danach stellen, ab wann das Herz eines Mannes durch zu viel Stress oder Aufregung aufgibt. Mit Hitzemagie allerdings dürfte das Ruckzuck zu machen sein, denn Hitze ist Stress! Wenn wir schwitzen, gerät unser gesamtes Kreislaufsystem unter Druck. Das Herz beginnt, immer schneller zu schlagen, weil sich die Adern weiten und somit mehr Blut hindurch gepumpt werden muss. Erfolgt nicht alsbald eine Abkühlung, durch die sich die Adern wieder auf normale Breite verengen könne, führt eins zum anderen. Ich habe eine Bekannte mit dieser Magieart; die meinte maximal drei Minuten, dann war es das. Sofern das Opfer stillhält und alles. Aber da es sich bei dem Toten um einen Mann handelt, dürfte da ja eh nicht mit großer Gegenwehr zu rechnen sein.«Das klingt vernünftig.»Ich gebe dir Recht, alles andere als Hitzemagie scheidet aus. Gut gemacht!«Maike strahlt über das Lob und prostet mir zu. Wenn die wüsste, dass ich ihr den Becher am liebsten aus der Hand reißen würde...Kapitel 21EinundzwanzigDas hätten wir geklärt. Oder zumindest eine schlüssige Theorie aufgestellt. Was war das jetzt in Sachen Eismagie?«»Kathi hatte mir noch die Tötung von Herrn Ricardasmann zugeteilt.« Maike schaudert; bestimmt erinnert sie sich an den Tag, an dem wir seinen Leichnam ausgraben mussten. »Die Verletzungen passen zu keiner anderen Magie. Ich bin stundenlang Magiearten durchgegangen, Dritte, ich war sogar im Archiv!«Jetzt schaudern wir alle.»Eis ist Eis«, sagt sie schließlich, »daran führt kein Weg vorbei. Eismagie kann, was keine andere kann: nadelspitz zuschlagen und dann an den Wundrändern Verbrennungen hinterlassen, wie sie nur durch große Kälte entstehen können.«»Moment mal, könnte eine mit Kältemagie dann nicht einen Gegenstand eingefroren und ihn dem Toten immer wieder in die Brust gerammt haben?«Ich sehe Maike förmlich an, wie sie unter Dianas Einwand zusammensinkt. Daran hatte sie nicht gedacht. Kein Grund zur Schande, genau deshalb sind wir ja hier: um Ideen zusammenzutragen und einander auf Aspekte aufmerksam zu machen, die anderen entgangen sind.Ein gefrorener Gegenstand, der dem Mann immer wieder in die Brust gerammt wurde.Ich beginne, mich für die Idee zu erwärmen. »Klasse, Diana!«, sage ich. »Damit wandert eine Frau mit Kältemagie oder Schnee ebenfalls auf die Liste unserer Verdächtigen!«In dem Stil geht es weiter. Die anderen sind mit einem solchen Eifer dabei, dass sie ihr Essen darüber vergessen. Das könnte mir nicht passieren.Als der Kellner meinen Nachtischteller wegräumt, liegt vor uns eine stattliche Liste. Sechs Todesfälle, die, wenn wir richtig liegen, Mordfälle sind. Sechs Morde, die durch insgesamt zwölf verschiedene Magiearten verübt worden sein könnten: Wolf Sabinesmann, dessen Herz zum Platzen gebracht wurde; Maik Annabellsmann, dessen Fleisch, Haut, Organe, Gefäße und Körperflüssigkeiten wie gekocht erschienen; Sebastian Ricardasmann, den Eis tötete; Pedro Hijo de Maria mit den Haaren in der Lunge; der erstickte Martin Tildasson und der erschlagene Lukas Abbigailsman.Nun erwartet uns die mühselige Aufgabe, die Bekannten- und Kolleginnenkreise sämtlicher Frauen, die einen Ehemann oder einen männlichen Angestellten verloren haben, auf Frauen mit dahingehender Magie abzusuchen.Ich sitze noch lange da, nachdem ich die Mädels nach Hause geschickt habe. Starre auf die Liste, statt in ein Glas, und versuche einen verdammten Sinn in alledem zu entdecken. Angenommen, wir liegen richtig und es handelt sich um eine großangelegte Verschwörung; angenommen, alle Opfer sind von anderen Frauen getötet worden; was bleibt, ist eine Frage: Warum?»Magret?«Ich bin gelinde gesagt überrascht, plötzlich Fran vor mir stehen zu sehen.»Ich setze mich mal.«Ohne meine Antwort abzuwarten, lässt sie sich auf den nunmehr leeren Platz Dianas fallen. Ungeniert greift sie sich etwas von einem der noch nicht abgeräumten Teller.»Uäh!«, befindet sie und schiebt den Teller mit angewiderter Miene von sich. »Eben kamen mir Kathi und die Rothaarige aus deiner Abteilung entgegen.«»Svetlana? Ja, wir hatten hier eben eine Besprechung.«»Und?«Da kann sie noch so beiläufig tun, ich weiß, was sie wissen möchte.»Ich habe keinen Tropfen Met getrunken. Auch sonst keinen Alkohol. Soll ich dich anhauchen?«Sie verzieht das Gesicht.»Bloß nicht.«»Also, kann ich sonst noch etwas für dich tun? Oder bist du tatsächlich nur deswegen aus der Oberstadt hier runtergekommen?« Hätte ich doch bloß nicht das Wort Alkohol erwähnt! Hoffentlich bringt mich Fran auf andere Gedanken, was auch immer sie von mir möchte.»Eigentlich hatte ich gehofft, wir könnten heute noch über die Sache reden. Und wenn die Prophetin nicht zum Berg kommt...«»Hahaha. Aber gut, ich wollte sowieso gerade zahlen.«Mir ist absolut klar, was Fran mit »der Sache« meint: das Armband, dessen Steine und ihre erstaunlichen Fähigkeiten. Der Fall um die getöteten Männer ist dermaßen verzwickt, dass ich noch nicht dazu kam, weiter über die Steine und das Ausmaß der Konsequenzen nachzudenken. Meine Magie versetzt mir einen Schlag. Selbst schuld. Ich sollte es besser wissen, als mich selbst zu belügen! Tatsächlich wollte ich gar nicht weiter darüber nachdenken. Ich kenne Frenjas Position ebenso gut wie meine, die der ihren leider zuwiderläuft. Ein Gespräch birgt immer die Möglichkeit auf eine Einigung, ja, doch in unserem Fall fürchte ich eher, dass sich die Fronten verhärten werden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das Wissen um die Speicherfähigkeit der Magie - wenn sie wirklich real sein sollte - dem Goldenen Reich mehr Nutzen als Schaden bringen könnte.Ich seufze innerlich. So oder so, werde ich um ein Gespräch mit Fran nicht herumkommen. Besser, ich bringe es hinter mich.Als wir auf die Straße treten, sind bereits die Sterne zu sehen. Ich muss länger vor mich hin gegrübelt haben, als mir bewusst war. Um diese Jahreszeit wird es erst spät dunkel; der bleiche Mond taucht alles in ein fahles Licht. Die parallel zu den Straßen angebrachten Leuchtleitungen schwingen in einem sanften Wind. Die meisten Einwohnerinnen Annaburgs schlafen tief und fest. Ein schönes Bild. Es ist eine Nacht, bei der eine denkt, die Göttin würde die Luft selbst mit Magie durchtränken. Nächte wie diese sind eine der wenigen Gelegenheiten, zu denen ich mich auch außerhalb meiner magiefreien Tage draußen aufhalten und loslassen kann. Hier und jetzt scheint alles richtig zu sein. Nichts versetzt meine Magie in Unruhe. Wie traumhaft schön muss das Leben doch sein, wenn eine nicht ständig von den Launen und Lügen anderer beeinflusst wird!»Wollen wir den Gehweg nehmen oder zu Fuß laufen?«, fragt Fran.Um diese Uhrzeit steht der magisch betriebene Gehweg längst still; die diensthabenden Frauen werden ihn erst wieder in Bewegung setzen, wenn sie spüren, dass eine ihn betritt.»Nein nein, schon gut. Lass uns zu Fuß gehen.«»Einverstanden.« Frenja atmet tief durch. »Eine wunderschöne Nacht. So friedlich und ruhig, nicht wahr?«»Ja.«In einvernehmlichem Schweigen betreten wir den Steinweg, der steil bergauf in die Oberstadt führt.»Uff, ich hätte eben nicht so viel essen sollen« und »Und ich hätte die letzten drei Wochen über nicht so viel essen sollen« sind die einzigen Worte, die wir austauschen. Als der Weg unter unseren Füßen endlich wieder gerade wird, bleiben wir gleichzeitig stehen und verschnaufen.»Alte, das war peinlich!« Frenja grinst. »Du hast ja immerhin eine Ausrede, von wegen tagelanges Koma und so.«»Stimmt. Was ist denn los mit dir? Du bist doch sonst körperlich so durchtrainiert?«Meine Verwunderung ist nicht gespielt: Viele Goldene Gardistinnen lassen sich früher oder später körperlich gehen. Sobald sie die Karriereleiter erklommen und sich einen Mann angeschafft haben, vernachlässigen sie ihr Erscheinungsbild. Ihr gutes Recht, möchte ich meinen. Immerhin sind wir dank unserer Magie nicht darauf angewiesen, mit Körperkraft unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Zwar gereicht es einer im Zuge eines Kampfes zum Vorteil, auch körperlich fit, schnell und wendig zu sein, doch wenn es hart auf hart kommt, ist es die Stärke der Magie, auf die es ankommt. Und, wie eine diese einzusetzen weiß. Dennoch, Fran war immer stolz auf ihren durchtrainierten Körper und hat mich stets damit aufgezogen, dass ich etwas weicher gepolstert bin. Die Tage meiner schlanken Linie waren mit meiner Hochzeit mit Georg und seinem berühmten Käseauflauf gezählt. Aber verstecken brauche ich mich auch nicht.Lars, der Kellner, kommt mir in den Sinn. Wenn mir danach ist, schaffe ich es noch immer, einen Mann für eine Nacht aufzureißen. Nicht, dass das oft vorkommen würde. Dennoch sehe ich keine Veranlassung, meine wenige kostbare Zeit in die Optimierung meines Körpers zu investieren. Ich bin eine erfolgreiche Frau mit starker Magie und Cleverness. So die Göttin mir gnädig ist, bleiben mir gut und gerne noch fünfzehn Jahre unter Magie. Ich bin also ein verflixt guter Fang - wozu sich zusätzlich anstrengen?Bei Fran ist der Fall etwas anders gelagert. Im Gegensatz zu mir mag sie Männer und Frauen. Letztere sind anspruchsvoller, vor allem, wenn sie ebenfalls beiderlei Geschlechter mögen. Oder um es mit Frenjas deutlichen Worten klarzumachen: »Wenn so eine Zuckerschnecke die Wahl hat zwischen einem knackigen Kerl und mir, dann kann ich nicht rumlaufen, wie das Pummelchen vom Dienst!«Folglich betreibt sie viel Sport. Da ihre Bekanntschaften allerdings stets nur für wenige Nächte herhalten, wenn überhaupt, frage ich mich ernsthaft, was der Aufwand soll.»Ich habe die letzten Wochen wohl etwas wenig Zeit fürs Training gehabt«, sagt Frenja schließlich. »Du weißt ja, Antje... Dann der vermeintliche Angriff auf dich, dein Koma...«»Das waren aber nur ein paar Tage!«, protestiere ich. »Also schieb das nicht mir in die Schuhe!«»Du hast ja Recht! Ach keine Ahnung. Im Moment ist einfach viel los auf der Arbeit. Seit der Großaktion der Bronzenen Frau fehlt es uns an allen Ecken und Enden an Frauen. Ständig schieben welche von uns Doppelschichten... Hast du eigentlich mal etwas von Frieda gehört?«»Nein, leider nicht.«»Mist.«»Du sagst es.«Ich möchte jetzt nicht mit Fran über das Armband sprechen. Es ist eine so schöne Nacht. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich das Gefühl, dass wir uns als Freundinnen wieder nahe sind.Wir erreichen den Marktplatz. Von hier aus ist es nicht mehr weit zu unserer Wohnung. Ich möchte gerade vorschlagen, einen kleinen Umweg zu spazieren, als uns der Klang sich eilig nähernder Schritte innehalten lässt. Ohne bewusst die Entscheidung dazu getroffen zu haben, bleibe ich stehen und verändere meine Körperhaltung so, dass ich binnen eines Wimpernschlages in Kampfposition sein kann. Fran reagiert genauso: So ist das mit uns Gardistinnen!»Vergiss nicht, dass ich ab morgen meine magiefreien Tage habe!«, flüstert mir Frenja zu. Verflixt! Ein Blick in die Sterne verrät mir, dass es bis dahin nur noch grob geschätzt eine halbe Stunde hin ist. Welcher Art auch immer also das Problem ist, das sich uns gerade nähert, wir sollten es schnellstmöglich lösen!Die Schritte kommen hörbar näher. Mit ihnen erreicht mich ein Schwall besorgter Erregtheit: Welche auch immer da auf uns zukommt, ist in emotionaler Alarmbereitschaft. Vermutlich eine Frau auf der Suche nach einer Gardistin nach einer Kneipenschlägerei oder nachdem ihre Freundin in ein Alkoholkoma gefallen ist. Annaburger Standard.Zu meiner Verblüffung scheint Frenja die Person zu kennen. Sofort lässt sie die kampfbereit erhobenen Arme sinken und geht auf die Dame zu.»Karla, was ist los?«»Frenja, der Göttin sei Dank, ich habe dich schon überall gesucht!« Die Frau scheint um die Zwanzig zu sein, hat halblanges, rotes Haar und einen unsteten Blick. Am meisten verblüfft mich aber, dass sie barfuß ist. Sie trägt ein seltsames, extrem unpraktisches weites, tiefblaues Kleid, das über und über mit Bildern des Mondes verziert ist. Ein Leichtgewicht. Am liebsten würde ich sie K.O. schlagen, damit mir das elendige Gefühl, das von ihr ausgeht, nicht weiter Übelkeit verursacht. Ich seufze innerlich. Das werde ich natürlich nicht tun.Die Frau starrt uns aus weit aufgerissenen Augen an. Frans Geduld ist wahrlich kleiner als die meine. Sie versetzt der Mondhexe eine Ohrfeige.»Karla, jetzt sag schon! Ist etwas mit Antje?«Die Geohrfeigte hält sich die Wange und nickt.»Ja. Komm schnell!«Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich um und rennt in die Richtung, aus der sie gekommen ist. Frenja und ich tauschen einen entschlossenen Blick und rennen dann hinterher.Das Haus, zu dem Karla uns führt, wird nur noch durch Magie zusammengehalten. Zumindest sieht es so aus. Krumm und schief zwängt es sich gegen seine Nachbarhäuser, das verbogene Fachwerk sieht selbst im Mondlicht gammelig aus und sowohl die Tür als auch die Fensterläden sitzen schief in den Angeln. Ein verlassenes Haus, wie es scheint, und damit der ideale Treffpunkt für solche, die sich abseits neugieriger Augen und Ohren rauschenden Genüssen hingeben. Oder Zwängen, wie ich mich beim Betreten des Hauses korrigiere. Wir sind hier in keinem lauschigen Geheimraum einer Gruppe Frauen, die sich gern mal gemeinschaftlich betrinkt oder einem Gruppentraum hingibt. Denen, die hier zusammenfinden, geht es schon lange nicht mehr um Genuss, sondern um das reine Müssen. Ein Teil von mir erschrickt: Ist es mit Antje schon so weit gekommen?Mein anderer Teil zuckt mit keiner Wimper. Antje ist süchtig, und das schon seit Jahren. Fran will es nicht wahrhaben, mir ist das schon lange klar. Eine muss nur einen Blick in das verhärmte Gesicht von Frenjas kleiner Schwester werfen, um das zu erkennen. Allerdings gilt das nur, wenn diejenige nicht blind vor Liebe ist.Karla führt uns in einen großen, offenen Raum. Frenja stößt einen Schrei aus und stürmt vor. Auf einer dünnen Matratze auf dem dreckigen Boden liegt ihre Schwester Antje, in nicht viel mehr als ein fleckiges Nachthemd gehüllt. Ihre Augen sind geschlossen, doch aus ihrem Mund dringen klagende Geräusche. Ihr ganzer Körper zuckt. Ihre verkrampften Hände sehen aus wie Raubtierkrallen. Aus dem einen Ohr, das ich sehen kann, läuft ein feines Rinnsal Blut. Wieder und wieder wirft Antje ihren Kopf in den Nacken und bäumt sich hoch, nur um Sekunden später kraftlos zusammenzusacken. Dann geht das Schauspiel von vorne los. Das Ganze ist so widernatürlich, so sehr gegen die Reinheit der Schöpfung der Göttin, dass mir schlecht wird. Bevor ich auch nur ein Wort zu Frenja sagen kann, schießt mir die Galle hoch. Ich wende mich ab und erbreche mich auf den Fußboden.Kapitel Zweiundzwanzig22Ich wische mir mit dem Ärmel über den Mund. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Befindlichkeiten! Mit aller Gewalt gebiete ich meiner Magie, sich verflixt noch eins zu beruhigen und mich meinen Job machen zu lassen.Frenja hat sich derweil neben ihre Schwester gekniet, versucht, sie zu wecken. Vergebens.»Was ist hier los?«, schreie ich die Person neben mir an. Insgesamt verfolgen neun Menschen mit offenen Mündern das Schauspiel. Eine weitere weibliche Person kniet unweit von Antje auf dem Boden und murmelt, durchbrochen von hysterischen Kieksern, irgendetwas vor sich hin.Der Mann, den ich angeschrien habe, weicht vor mir zurück, hebt schützend die Hände. Wäre die Situation nicht so ernst, ich hätte mich ausgeschüttet vor Lachen: noch keine Haare am Sack, aber an einem Geheimtreffen teilnehmen wollen!»Lauf nach Hause zu deiner Mami!«Er nickt und rennt aus dem Haus. Zwei weitere Männer machen es ihm nach. Somit bleiben nur noch weibliche Personen übrig. Was keine Überraschung ist; dafür, dass sie hier unschuldige Männer mit hineingezogen haben, gehören alle diese Trinen mindestens für ein paar Tage in den Knast!Ich schnappe mir eine Brünette, die ebenfalls ein Mondhexenkleid trägt. Meine Geduld ist aufgebraucht. Ich zücke meine Magie, erzeuge einen Strahl und halte ihn ihr direkt an die Kehle. Ihre Augen weiten sich. Natürlich hat sie keine Ahnung, wozu ich imstande bin, doch das Gefühl des absoluten Unwohlseins, dass ich nahe ihrer Halsschlagader verursache, dürfte ihr klar machen, dass es nichts Gutes sein kann.»Was. Ist. Hier. Los?«Sie schluckt. Meine Magie weicht keinen Millimeter zurück.»Bitte, ich-«Ich berühre ihre Haut. Nur ein winziges Bisschen. Es reicht, um sie noch blasser werden zu lassen.»Wir dachten... wir sind nämlich Mondhexen.« Sie deutet zaghaft auf die am Boden kauernde Frau und eine weitere Person. »Wir wollten... Traumbringer kosten viel Geld, da dachten wir...«»Soso. Ihr habt euch also ein paar Süchtige gesucht, die dumm genug sind, euch Traummagie abzukaufen. Und das, obwohl ihr nicht die geringste Ahnung davon habt, ja?«Wut kocht in mir hoch. Diese Närrinnen!»Wir sind aber alle schon in der Ausbildung«, krächzt die Frau.»Ach ja? Und in welcher, wenn ich fragen darf? In der zur Traummacherin?«An ihrem Blick sehe ich, dass ich sie erwischt habe.»Also nicht einmal das«, sage ich verächtlich. »Sondern?«Sie senkt den Blick. Ich drücke zu. Sie schreit mehr auf, als nötig gewesen wäre. Solche Frauen sind eine Schande für das gesamte Hexentum!»Also?«»Wir machen eine Ausbildung zu Wetterhexen.«Wie ich es mir gedacht hatte. Ja, eine kann mit ihrer Mondmagie lernen, Traumbringer herzustellen. Das ist nichts, was eine von heute auf morgen lernt. Weshalb sonst wäre eine mehrjährige Ausbildung dazu vonnöten?»Ihr habe also gedacht, mal eben das schnelle Geld machen zu können.« Immerhin hat sie so viel Anstand, betroffen dreinzuschauen. Ich erhebe meine Stimme und wende mich an die anderen Mondhexen. »Ich werde mich später noch mit euch befassen, da könnt ihr Gift drauf nehmen.« Alle, bis auf die Frau am Boden, wenden den Blick ab. »Und jetzt sagt mir, was ist schiefgelaufen?«»Es ist Luzi«, sagt eine blasse Brünette. Im Gegensatz zu den anderen trägt sie gewöhnliche Kleidung, dafür jedoch ein mondförmiges Medaillon an einem Band um den Hals. »Sie schafft es irgendwie nicht mehr, ihre Magie loszulassen.«Himmelfraugöttin! Was haben sich diese Kinder nur dabei gedacht? Und wieso verfügt keine der fünf Frauen über so viel Grips, die Situation zu lösen? Stattdessen stehen sie nur herum, während diese Karla ihre wachsende Panik auf Antje überträgt, die folglich in diesem Augenblick die grauenhaftesten Albträume erlebt.Ich lasse von der Frau ab, hole aus und verpasse besagter Luzi einen Schlag, der sie ohnmächtig zur Seite kippen lässt. Mit ihrem Bewusstsein erlischt die Magie, die sie in ihrem Opfer aufrechterhalten hat. Antje sackt mit einem Seufzen in sich zusammen. Nach den Anstrengungen, die ihr Geist und ihr Körper, welche weiß wie lange, durchgemacht hat, würde es mich wundern, wenn sie vor dem Morgengrauen die Augen öffnen würde.»Alles gut, Frenja!«, rufe ich. »Die Nuss hatte es nicht geschafft, die magische Verbindung abzubrechen. Daraufhin wurde sie panisch und...«Frenja schaut mich an. Ihre Augen sind gerötet, als hätte sie geweint. Sie ist kalkbleich im Gesicht. Sie gibt ihrer Schwester, die nunmehr aussieht, als würde sie friedlich schlafen, einen Kuss auf die verschwitzte Stirn und steht dann langsam auf. Wäre ich an Stelle der Mondhexen, hätte ich jetzt die Hosen voll.»Welche von euch hatte die Idee?«Frenjas Stimme ist so schneidend wie ein Strahl Eismagie. Die Frauen weichen zurück. Stumm rate ich ihnen, nicht den leisesten Mucks zu machen, sich nicht einen Millimeter zu bewegen.Leider hat Mondmagie nicht das Geringste mit Gedankenlesemagie zu tun; eine der Frauen scheint vielmehr der Ansicht zu sein, Angriff sei die beste Verteidigung. Mit einem Aufschrei stürzt sie auf Frenja zu. Die hebt die Arme und... nichts. Verflixt, es muss nach Mitternacht sein!Fran schüttelt die Überraschung schneller ab als ich. In ihrer Hand blitzen plötzlich zwei Klingen. Ich muss mich blitzschnell entscheiden, ob ich ihr gegen die aktuelle Angreiferin helfen oder die anderen Frauen in Schach halten soll. Nun, in solcherlei Hinsicht ist das Prozedere klar; eine Goldene Gardistin, die sich nicht gegen eine unerfahrene Mondhexe verteidigen kann, ist undenkbar. Also drehe ich mich um und erschaffe innerhalb des Bruchteils einer Sekunde eine Wand aus Übelkeit und Unwohlsein, gegen die die Frauen prallen, sobald sie auch nur einen Arm heben. Eine der Mondhexen kommt mit der Hand an meine Magie. Sofort krümmt sie sich zusammen und würgt. Hinter mir ertönt das sirrende Geräusch, das entsteht, wenn Messer geworfen werden. Ein matschiger Laut, ein Gurgeln, dann der dumpfe Aufprall eines Körpers auf dem Boden.Eine der Frauen schreit entsetzt auf. Eine andere stößt ein wütendes Knurren aus und stürzt durch die Wand auf mich zu. Übelkeit oder nicht, angesichts des Todes ihrer Freundin überwiegen nun Wut und Entsetzen. Von mir aus.Ich drehe mich um mich selbst, erzeuge einen Wirbel, der alle potentiellen Angriffe an mir abprallen lässt und die Frauen zu Boden schleudert. In den Sekunden, die sie benötigen, um sich wieder zu fangen, kann ich die Lage einschätzen. Von den sechs Mondhexen ist eine bewusstlos und eine tot - Frenja macht keine halben Sachen. Die Frauen sind um die Zwanzig, mitten in der Ausbildung. Ich sollte ihnen eine Chance geben. Und hoffen, dass Fran sich so weit beruhigt hat, die anderen am Leben zu lassen.»Ergebt euch!«, rufe ich. Hinter mir knurrt Fran. Nun, eine muss ja vernünftig sein. »Hände runter, legt euch mit dem Gesicht auf den Boden und lasst eure Magie fesseln. Wir nehmen euch mit und stellen euch vor Gericht. Ihr bekommt ein faires Verfahren. Ihr habt ohne Zweifel eine riesengroße Dummheit begangen. Eine eurer Freundinnen ist schon tot.«»Mörderin!«, kreischt die Brünette, wagt es aber noch nicht wieder, sich zu bewegen, geschweige denn aufzustehen.»Eure Freundin hat eine Goldene Gardistin angegriffen«, sage ich bewusst ruhig. Die Frauen atmen hörbar. In dem ganzen Gerangel hatte sich keine die Zeit genommen, unsere Kleidung eingehender anzuschauen. »Die Frau dort vorn ist Frenja Katladatter, Goldene Gardistin und Teil der persönlichen Leibgarde der Goldenen Frau. Mein Name ist Magret Beatesdother, Goldene Gardistin der Spezialabteilung und Stellvertretende der Heidrun von Borgentreich.« Ich mache eine Pause. Keine der Frauen wagt es, mir in die Augen zu schauen oder sich zu rühren. »Ihr werden euch jetzt ganz langsam hinlegen und auf den Bauch drehen. Dann werden wir eure Magie fesseln. Ihr werden keine schnellen Bewegungen machen oder sonst irgendwelche Dummheiten versuchen. Ist das klar?«Ich folge dem Blick der Mondhexe mit dem Medaillon. Ihre Augen kleben förmlich an Frenja, wie sie dasteht, im dämmerigen Licht, in jeder Hand ein Messer, deren Klingen blutrot glänzen. Ihr Gesichtsausdruck macht selbst mir Angst.»Los jetzt!«Die Frauen rollen sich langsam auf den Bauch. Dass sie dabei zittern, kann ich ihnen nicht verübeln. Frenja steht noch immer da. Auch sie zittert, jedoch aus vollkommen anderen Gründen. In ihren Augen sehe ich pure Mordlust.»Fran«, sage ich sanft. »Eine muss sich um Antje kümmern!«»Hm?« Frans Blick geht an mir vorbei ins Leere.»Antje. Kannst du sie zu uns nach Hause bringen? Ich kümmere mich um die Frauen.«Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich verstanden hat, doch Fran nickt.»Geh rüber zur Medusa«, flüstere ich ihr zu. Allein und ohne Magie schafft sie das nicht. »Dort findest du bestimmt eine, die die Klappe hält und dir hilft.«Fran nickt erneut und stakst aus dem Raum, die bluttriefenden Messer noch immer in der Hand.Ich fessele der Reihe nach die Magie der zitternden Frauen. Vorsichtshalber lege ich auch der bewusstlosen Mondhexe eine magische Fessel an. Nun kommt der spannende Teil: Ich muss fünf magische Fesseln aufrechterhalten, einen Schutzschild über Antje halten, bis Fran zurück ist und dann auch noch die ohnmächtige Mondhexe transportieren. Keine Chance! Ich muss warten, bis Fran zurück ist.Das geht zum Glück schnell. Bei sich hat sie eine grimmig dreinschauende Dame, die mir wohlbekannt ist.»Jana, hey!«, begrüße ich unsere gemeinsame Bekannte. Ihrem Gang nach zu urteilen, ist sie nicht mehr ganz nüchtern - was um die Uhrzeit keine Überraschung ist. Sie hat sich aber so weit im Griff, dass ich keine Angst haben muss, dass sie Antje mit dem Kopf an diverse Pfosten knallt.Jana nickt mir zu, lässt Antje hoch schweben. Fran schaut mich kein einziges Mal an. Ihre Körperspannung verrät mir, dass sie noch immer aufs Höchste erregt ist. Hoffentlich sind die Mondhexen so klug, ihre Klappen zu halten. Eine Kleinigkeit und meine Freundin rastet aus; dann endet das Ganze hier in einem Blutbad...Zu meiner großen Erleichterung dreht sich Frenja um und folgt Jana und ihrer Schwester aus dem Haus.»Bring sie zu uns!«, rufe ich meiner Freundin hinterher.Nachdenklich wende ich mich den fünf Frauen zu. Die Mondhexe, die bei Antje misslungene Traummagie angewandt hat, ist mittlerweile wieder zu Bewusstsein gekommen. Mit großen Augen starrt sie abwechselnd mich, ihre Freundinnen und die Tote an.Die Leiche der sechsten Frau bietet keinen schönen Anblick. Vergossenes Blut hat sich zu einer großen Lache ausgebreitet. Ausgelaufene Flüssigkeiten sehen immer nach viel mehr aus, als sie sind. Das weiß der Kopf. Das Gefühl aber sagt einer, dass ein Körper unmöglich so viel Blut in sich gehabt haben kann.Ein Messer steckt der Frau in der Brust. Zweifellos war das der zweite Wurf, der, um sicherzugehen. Frenjas zuerst geworfenes Messer hat die Mondhexe genau zwischen die Augen getroffen. Mir schaudert. Es bedarf einer ungeheuren Wucht, eine Klinge ohne Magie so fest zu werfen, dass sie den Schädelknochen durchdringt. Göttin, wie viel Zorn steckt in meiner Freundin?Kapitel 23DreiundzwanzigIch fasse einen spontanen Entschluss. Ich mache drei Schritte auf Luzi zu. Die windet sich, versucht, soweit es mit auf den Rücken gefesselten Händen geht, rückwärts zu krabbeln. Wie jämmerlich!»Hör auf damit!«, schnauze ich, »benimm dich gefälligst wie eine richtige Frau!«Sie senkt den Kopf, setzt sich aber wieder aufrecht hin.»Hört zu, ihr alle! Ich werde eure Freundin Luzi hier gehen lassen.« Hätten sie es gewagt, die Frauen hätten jetzt sicher etwas gemurmelt. So belassen sie es bei fragenden Blicken. Ich beuge mich vor. »Luzi, ich nehme jetzt die Fessel von deiner Magie. Versprichst du mir, keine Dummheiten zu machen?«Sie nickt. Meine Magie und ich glauben ihr.»Gut.« Ich löse die Fessel, jedoch nicht, ohne dabei etwas härter zuzupacken. Sie zuckt zusammen, trägt die Bestrafung aber wie eine Frau. Sehr schön. Anschließend öffne ich die Fessel um ihre Hände.»Luzi, du bist frei. Aber denke nicht, du kannst gehen, wohin du willst. Deine Freundinnen hier nehme ich mit. Sie bekommen eine Zelle im Gebäude der Goldenen Garde und werden bei nächster Gelegenheit vor das Goldene Gericht geführt. Dort werden sie sich für die riesengroße Dummheit, die ihr heute begangen habt, verantworten müssen. Ihr seid alle noch nicht alt, nicht lebenserfahren. Das wird eine euch anrechnen. Doch ihr seid auch mündige Frauen und tragt mit eurer Magie auch eine große Verantwortung. Eine Verantwortung, die ihr heute - und das nicht zum ersten Mal, möchte ich wetten - vergessen habt. Ihr werdet bestraft werden und ihr werdet die Strafe hinnehmen und etwas Derartiges nie, nie wieder tun!«Die Frauen nicken stumm.»Danach wird es euch sicher möglich sein, wieder euer Leben aufzunehmen. Eure Zukunft zu gestalten. Bessere Frauen zu werden. Was aber dich anbelangt, Luzi, so erwartet dich die mit Abstand härteste Strafe. Denn über dich wird keine andere richten. Du musst dich selbst bestrafen, so lange, bis du der Ansicht bist, ausreichend Sühne getan zu haben. Du wirst selbst über deine Taten entscheiden müssen. So lange bis du vor der Göttin und dir selbst aufrichtig sagen kannst, das von dir verursachte Leid wieder gut gemacht zu haben. Du stehst vor der schwierigen Aufgabe, an dir selbst wachsen zu müssen. Das ist eine Herausforderung, die die wenigsten bestehen und die die besten Frauen hervorbringt.«An Luzis Gesichtsausdruck erkenne ich, dass sie nicht versteht, was ich ihr sage.»Du musst weg von hier«, sage ich daher, »und zwar so schnell wie möglich.«»Weg aus Annaburg, meinen Sie?«Da hat wohl eine endlich ihre Sprache wieder gefunden!»Ja. Und zwar - und jetzt hör mir genau zu! - ohne zuvor nochmal in deine Wohnung zu gehen, eine Freundin zu besuchen oder dich von deiner Familie zu verabschieden. Du wirst so gehen müssen, wie du jetzt bist.«Sie schaut mit kläglichem Gesichtsausdruck an sich herunter. Die Idiotin hat nicht mal Schuhe an. Nun, da muss sie durch.»Sag deinen Freundinnen hier Lebewohl und dann geh!«»Aber wohin?«Göttin, dieses Gejammer ist einer Frau nicht würdig! Hoffentlich wird die Kleine da draußen erwachsen.»Das ist mir egal«, sage ich, so freundinlich wie ich kann.Sie schluchzt auf, nimmt sich aber sofort wieder zusammen. Rappelt sich auf, geht mit langsamen Schritten zu ihren gefesselten Freundinnen. Sie flüstern. Ich gönne ihnen einen Augenblick. Dann wird es Zeit.»Es wird Zeit«, sage ich.Sie schaut mich aus großen Augen an, Verzweiflung und Reue im Blick.»Das ist meine Bestrafung, stimmt`s? Dass die anderen bleiben dürfen, Sie mich aber verjagen. Weil ich diejenige war, die... Es tut mir leid! Ehrlich! Das wollte ich nicht, das wollte keine von uns!«»Nein, Kleine.« Ich seufze. »Wie ich dir bereits sagte ist es allein an dir, dich zu bestrafen und der Göttin und dir darüber Rechenschaft abzulegen.«»Aber... aber wieso schicken Sie mich dann fort?«»Weil Frenja sich sonst an dir rächen wird«, sage ich ruhig.Die Mondhexe legt den Kopf schief und runzelt die Stirn. Dann schaut sie mich an. »Aber... sie ist doch eine Goldene Gardistin!«Und Antjes Schwester.Mein Blick scheint der Mondhexe alles zu sagen, was es zu sagen gibt. Eine einzelne Träne rollt über ihre Wange. Ich schaue ihr nach, wie sie in die Nacht geht.Als ich nach Hause komme, ist Frenja noch wach. Ich finde sie in ihrem Zimmer. Antje liegt in Frans Bett. Ihre Gesichtszüge sind entspannt, ihre Brust hebt und senkt sich regelmäßig. Bleibt zu hoffen, dass sie keinen größeren Schaden von dem Abenteuer mit den Mondhexen davongetragen hat.»Wie geht es ihr?«Fran schaut mich müde an.»Es scheint wieder alles in Ordnung zu sein.«»Soll ich trotzdem noch eine Ärztin kommen lassen?«»Danke, aber das wird nicht nötig sein.« Sie fährt sich mit beiden Händen durchs Gesicht und lässt ihre Schultern nach vorn sacken. Für einen winzigen Augenblick sieht es so aus, als würde sie weinen. Eine Sekunde später ist sie wieder ganz die stählerne, unbeugsame Frenja. Sie schaut mich an, nicht kalt, doch frei von jedweder schwach wirkenden Emotion. »Ich denke, Antje wird bis morgen Mittag schlafen, vielleicht sogar länger. Ich habe sie schon aus schlimmeren Situationen herausgeholt. Glaub mir, mein Schwesterchen ist hart im Nehmen!«»Das mag sein, Fran, aber der schief gelaufene Zauber der Mondhexe hat ihr Albträume beschert. Wir beide wissen, was höchstwahrscheinlich darin vorgekommen ist.«Frenja nickt.»Ja, das wissen wir. Auch wenn wir es nie selbst nachvollziehen können. Wir kennen die Fakten, du und ich, mehr aber auch nicht. Wir können versuchen, uns in Antje und all die anderen hineinzuversetzen, die so lange vor ihrer Zeit zu Großmüttern wurden. Nur richtig verstehen werden wir es nie.«Da Fran den einzigen Stuhl im Zimmer besetzt, setze ich mich vorsichtig auf den Bettrand.»Nun, das ist aber doch immer so oder nicht? Keine kann in einer anderen Schuhen laufen.«»Ist das tatsächlich so?«Überrascht sehe ich sie an.»Mit Hilfe der Steine, Magret, könnten wir das ändern. Wir könnten nicht nur Antje und all den anderen Großmüttern ihre Magie wieder geben, wir könnten auch dafür sorgen, dass wir einander besser verstehen. Jede könnte am eigenen Leib erfahren, wie es ist, eine andere zu sein. Eine andere Magie zu haben. Es gibt so viele Möglichkeiten, wie wir unser Wissen zum Guten verwenden könnten!«Erschrocken stehe ich auf.»Ja, das schon, aber siehst du denn nicht die Gefahren, die damit einher gehen? Überleg doch mal Fran, mit solchen Steinen könnte quasi jede jede zwingen, ihre Magie einzuspeisen. Welche nur mächtig und skrupellos genug ist, könnte theoretisch ewig eine Frau bleiben! Die Magiemuster: Hast du schon einmal daran gedacht?«Sie zuckt mit den Schultern.»Kollateralschäden sind immer zu befürchten. Oder besser: in Kauf zu nehmen. Nein, Magret, ich glaube, du bist diejenige, die nicht klarsehen kann. Aber für heute genug davon.« Sie gähnt ausgiebig und macht dann eine scheuchende Bewegung. »Geh in dein Bett, ich quetsche mich neben Antje. Für heute wollen wir es gut sein lassen.«»In Ordnung. Schlaf gut. Wir sehen uns morgen.«»Und falls irgendwas ist...«»Kannst du mich jederzeit wecken.« Wie jede Frau hasst Fran ihre magiefreien Tage. Dass es ihrer Schwester ausgerechnet jetzt so schlecht geht, macht die Sache nicht besser.Das Letzte, woran ich vor dem Einschlafen denke, ist die kleine Mondhexe. Sie hat einen Fehler begangen, war blind vor Ehrgeiz und Geldgier. Aber welche kann von sich sagen, dass ihr das noch nie passiert ist?Ich hoffe wirklich, dass sie es schafft, sich ein neues Leben aufzubauen und die Frau zu werden, zu der ihr Vater sie gewiss heranzuziehen versucht hat.Am nächsten Morgen ziehe ich warmes Wasser für Fran und Antje aus der Leitung, bereite ein schnelles Frühstück zu und schleiche mich dann aus dem Haus. Ein rascher Blick in Frans Zimmer hat ergeben, dass beide noch immer tief und fest schlafen. Sie sehen erschöpft aus und wenn Fran nur halb so gerädert ist wie ich, gönne ich ihr den Schlaf. Ist ja nicht so, als ob sie heute zur Arbeit müsste.Auf mich dagegen wartet eine ganze Abteilung. Es sind Tage wie diese, an denen ich mich ernsthaft frage, wieso die Goldene Frau der Goldenen Garde formell vorsteht und Heidrun deren Zweite ist. Ich weiß, dass Heidrun wichtigen Angelegenheiten nachgeht, keine Frage. Nur weshalb überträgt sie mir dann nicht offiziell die Leitung? Wäre ich in der Position der Zweiten der Spezialabteilung, hätte ich eine ganz andere Handhabe. Ich müsste nicht andauernd Rücksprache mit einer Frau halten, die ich zwar bewundere, die aber zweifelsohne schwer zu finden ist. Das nicht ohne Grund, denn sie ist dauerhaft beschäftigt. Streng genommen hat sich Heidrun schon lange nicht mehr um die Belange der Spezialabteilung gekümmert. Sieht eine davon ab, dass sie mich beauftragt hat, die Mordserie aufzuklären. Oder die Fälle einzelner Tötungen, wie eine es auch immer betrachten möchte. Ob es mir gefällt oder nicht: Noch immer habe ich keinen Beweis dafür, dass die Taten zusammenhängen.Nachdem ich mich um den üblichen Organisationskram gekümmert habe, gehe ich in den Verhörraum. Katharina war so freundinlich, mir bereits zu früher Stunde Frau Tildasdother herzuholen, deren Bruder erst vor wenigen Tagen getötet wurde. Frau Tildasdother selbst hatte die Garde benachrichtigt, war formell verhaftete und verhört worden. Sie bestritt, Magie an ihren Bruder gelegt zu haben. Dabei stimmt die Art ihrer Magie, Luft, mit den Verletzungen des Mannes überein. Dank Kathi wissen wir mittlerweile, dass sie mit ihrer Magie ebenso Pedro ermordet haben könnte. Hoffentlich wird das Verhör ergiebiger als die Letzten - irgendeine muss doch etwas wissen!»Guten Tag, mein Name ist Magret Beatesdother, Spezialermittlerin der Goldenen Garde. Ihr Name ist Klara Tildasdother, ist das richtig?«Die Frau nickt wortlos. Das kann ja heiter werden.»Magieart?«Nichts. Göttin, ich habe keinen Nerv für so etwas! Ich schicke meine Magie aus. Kurz darauf windet sich die Frau leicht, aber sichtbar.»Magieart?«, frage ich erneut und lächle mein schönstes Lächeln.»Luft«, presst sie hervor.Sofort ziehe ich meine Magie zurück. Dabei achte ich darauf, dass sich mein Gesichtsausdruck nicht im Mindesten verändert. Soll sie ruhig rätseln, ob ihre kurzzeitige Übelkeit ihrer Nervosität oder einer Magie geschuldet war: Nichts beunruhigt uns so sehr, wie sich einer Sache nicht vollkommen sicher zu sein.»Wie stark ist Ihre Magie?«Sie räuspert sich. »Schon stark. Ich bin nicht reich, habe aber ein gutes Auskommen.«Offenbar hat sie ihre Lektion gelernt - das ging schneller als erwartet!»Wie alt sind Sie?«»24.«»Haben Sie Ihren Bruder getötet?«»Nein.«Wahrheit.»Haben Sie sich am Tag seines Todes mit ihm gestritten?«Sie zögert kurz.»Ja.«Wahrheit.»War es ein ungewohnt heftiger Streit?«»Nein.«Wahrheit.»Wenn Sie sich einmal mit anderen Paaren vergleichen würden - haben Sie und Ihr Bruder sich außergewöhnlich oft oder heftiger gestritten, als andere es tun?«»Nein.«Lüge. Na bitte.»Hatten Sie ein gutes Verhältnis zueinander?«»Nun ja, was heißt gut?« Sie verzieht das Gesicht. »Martin war kein schlechter Mann, falls Sie das meinen. Er hat mir den Haushalt geführt, mal besser, mal schlechter, hat ganz ordentlich gekocht. Im Gegensatz zu anderen Frauen wollte ich nie heiraten. Insofern passte es ganz gut, dass er bei mir lebte. Ich will ganz ehrlich sein, Frau Spezialgardistin: Ich habe ihn nicht aus reiner Herzensgüte bei mir aufgenommen, sondern weil unsere Eltern früh verstorben sind und ich ihn nicht unserer Großmutter aufbürden wollte. Wir standen uns nie besonders nahe. Immer dieser Kitsch von wegen »Geschwisterliebe«!« Sie schnaubt verächtlich. »Überhaupt Liebe! Eine Beziehung, gleich welcher Art, sollte immer in erster Linie als ein Geschäft betrachtet werden, bei dem sich beide Parteien einig sind.«»Und eine solche Beziehung hatten Sie und Ihr Bruder?«»Nun ja, natürlich nicht so, wie es einige Spinnerinnen von sich behaupten, die meinen, Männern auf Augenhöhe begegnen zu müssen.« Sie lacht. Es klingt gemein. »Tut eine das, bringt sie den Mann damit nur auf dumme Gedanken. Nein. Ein Mann muss wissen, wo sein Platz ist!«»Und Ihr Bruder wusste das?«»Dafür habe ich gesorgt.«»Haben Sie Ihrem Bruder je absichtlich mit Worten oder Magie weh getan?«Sie schürzt die Lippen, zögert wieder.»Ja.«Wahrheit.»Und zwar, weil...?«»Das geht Sie jawohl gar nichts an!«, faucht sie.»Irrtum. Das geht mich sehr wohl etwas an.« Ich beuge mich vor und sende zeitgleich einen größeren Hauch Unwohlsein in ihre Richtung. Da ihre Magie gefesselt ist, dürfte sie die Situation als bedrohlich empfinden. »Ich bin eine Goldene Gardistin und handele somit auf direkten Befehl der Goldenen Frau und der Heidrun von Borgentreich. Wenn ich Sie etwas frage, haben Sie gefälligst Auskunft zu geben. So einfach ist das.«Ich lehne mich wieder zurück und verschränke die Arme. Jetzt ist sie am Zug.Kapitel Vierundzwanzig24 Eine Weile sitzen wir stumm da. Die meisten Menschen fühlen sich in einer solchen Situation mehr als unwohl, sogar Frauen. Über kurz oder lang verspüren viele das Bedürfnis, die Stille mit reden zu füllen. Wie oft bin ich schon an wertvolle Informationen gelangt oder habe ein Geständnis aus einer Tatverdächtigen herausbekommen, nur, weil ich schweigend abgewartet habe?Es dauert keine drei Minuten, bis Frau Tildasdother vernehmlich seufzt.»Na gut. Ja, ich habe meinen Bruder gezüchtigt. Beizeiten, wie ich hinzufügen möchte, keineswegs jeden Tag oder so.«Lüge.»Ich sagte ja bereits, meiner Meinung nach muss ein Mann wissen, wo sein Platz ist. Wird er frech und aufmüpfig, muss eine da direkt gegensteuern.«Wahrheit.»Und das habe ich getan. Nicht mehr, nicht weniger.«Lüge. Ich beschließe, es auf die direkte Art zu versuchen.»Sie haben Ihrem Bruder also absichtlich weh getan, um ihn für Fehlverhalten zu bestrafen?«»Ja.«So weit, so gewöhnlich. Nichts, was moralisch anstößig wäre oder gegen das Gesetz verstoßen würde.»Haben Sie Ihrem Bruder schon einmal weh getan, weil Sie Spaß daran hatten?«»Wie bitte?«Wie mich diese gespielte Empörung nervt.»Sie haben meine Frage verstanden. Beantworten Sie sie bitte.«»Nein, natürlich nicht«Lüge.Ach Göttin - wenn sie es wenigstens vor sich selbst nicht eingestehen könnte! Doch der Frau ist absolut klar, was sie ihrem Bruder aus reiner Freude an der Grausamkeit angetan hat. Ein solches Verhalten ist einer Frau nicht würdig! Ich wünschte, es gäbe ein Gesetz, welches grundlose Gewalt an Männern verbietet.»Hatte Ihr Bruder Feindinnen?« Ich muss mir fast auf die Zunge beißen, um nicht »außer Ihnen« anzuschließen.»Nein, nicht dass ich wüsste.« Sie lacht auf. »Mal ernsthaft, Frau Beathesdother: Martin war ein einfacher Annaburger Hausmann! Solche Personen haben keine Feindinnen. Ja, er war der Sohn meiner Mutter, aber das war es auch schon. Viel zu unwichtig, um sich irgendeine zur Feindin gemacht zu haben.«Wahrheit.»Dann denken Sie also, der Mord an Ihrem Bruder galt Ihnen?«»Im Grunde gehe ich davon aus, ja. Oder zumindest indirekt.« Sie zuckt mit den Schultern. »Ich habe nicht nur Freundinnen, wissen Sie, und nicht jede Kollegin gönnt mir den Erfolg.« Das kann ich mir lebhaft vorstellen. »Aber echte Feindinnen kann ich auch nicht aufweisen. Sehen Sie, ich habe einen guten Job, bin aber noch nicht so weit gekommen, dass eine zur ernsthaften Bedrohung für mich werden könnte - oder ich für eine andere.«Wahrheit. Jetzt, da es vorrangig um sie geht, wird die Dame sehr gesprächig. Gut zu wissen.»Und im privaten Bereich?«Sie grinst.»Da war ich vielleicht nicht immer ganz brav, aber mein Vater hat keine Idiotin herangezogen. Ich habe immer aufgepasst, mit welcher ich mich einlasse. Also nein, keine wütenden Mütter oder Ehefrauen.«Wahrheit.»Wenn Sie raten müssten, weshalb Ihr Bruder getötet worden ist, was würden Sie sagen?«Sie nimmt sich einen Moment Zeit.»Nuuun«, sagt sie gedehnt, »tatsächlich halte ich es für am wahrscheinlichsten, dass das Ganze ein Unfall war. Dass der Mord an Martin gar nicht Absicht der Angreiferin war. Vielleicht wollte sie uns einfach nur bestehlen, wähnte uns beide außer Haus. Martin hat sie dabei überrascht und musste als unerwünschter Zeuge beseitigt werden. Etwas in der Richtung. Ich meine, um einen Mann auf diese Art umzubringen braucht es schließlich nicht viel. Haben Sie eine Ahnung, wie viele außer mir das auch hinbekommen würden?«Das wäre natürlich eine gute Erklärung.»Ist denn etwas gestohlen worden?«, frage ich, »etwas von größerem Wert?«»Nein, aber das heißt ja nichts. Vielleicht hat mein Bruder die Diebin zur Rede gestellt, bevor sie etwas entwenden konnte. Nach dem Mord an ihm hat sie dann das Weite gesucht.« Frau Tildasdother seufzt. »So war er nämlich, wissen Sie? Immer eine große Klappe, kein vernünftiges Gespür dafür, sich zurückzuhalten und sich angemessen zu benehmen. Unser Vater war ein sehr sanfter Mann; ich hatte ehrlich gesagt immer gehofft, sein Sohn würde nach ihm geraten, dann wäre es auch kein Problem gewesen, ihn an die Frau zu bringen. Unser Vater hat sein Bestes mit ihm getan, da können Sie sicher sein. Aber letztendlich... Nun, Martin saß dem Irrglauben auf, wichtig zu sein. Einmal wollte er mir sogar erzählen, dass er als Mann dieselben Rechte haben sollte wie eine Frau, ist das zu fassen?« Sie schüttelt lächelnd den Kopf. »Das haben ihm bestimmt seine kleinen Freunde eingeredet, mit denen er sich immer getroffen hat. Martin war einerseits so naiv, wissen Sie, und andererseits so begeisterungsfähig; die hätten ihn von allem überzeugen können. Gut, dass ich es verstand, da früh genug gegenzusteuern.«Wie das ausgesehen hat, kann ich mir lebhaft vorstellen.»Eine Frage noch: diese Freunde Ihres Bruders, von denen Sie sprachen - können Sie mir die Namen nennen?«Erstaunt sieht sie mich an.»Aber gewiss doch, das ist ja kein Geheimnis. Nur was scheren Sie ein paar dumme, kleine Hausmänner, wo doch mein Bruder offensichtlich von einer Frau ermordet worden ist?«Das ist eine gute Frage. Was ich der unsympathischen Frau vor mir allerdings nicht auf die Nase zu binden gedenke.»Nun?«»Dennis Margotsmann, Peter Waltraudsmann und Ingmar Ayschesmann. Dann noch Franko Cordes. Und ein gewisser Lars. Den Nachnamen kenne ich nicht, er arbeitet in einem Gasthof am Marktplatz. Irgendein Milasmann, vielleicht auch noch Anton. Mehr weiß ich nicht.«Jahrelange Übung verhindert, dass ich zusammenzucke. Lars, ausgerechnet! Zufall?»Woher kannte Ihr Mann all diese Männer? Sind das Nachbarinnen von Ihnen?«»Zum Teil. Peter wohnt in unserer Straße, Franko ein oder zwei Straßen weiter. Die anderen kennt er von hier und da.« Sie zuckt mit den Schultern. »Vermutlich vom Markt oder so oder vom Wasser holen. Wenn ich auf Dienstreise bin, muss... musste Martin ja schließlich selbst Wasser holen gehen. Haben Sie mal gesehen, was morgens an den Brunnen los ist?«Habe ich. Das reinste Geschnatter und Geplapper.»Ja, das weiß ich. Haben Sie die Freundinnen Ihres Mannes persönlich kennen gelernt?«»Ja, leider. Er drängte mich immer wieder, sie einmal zu uns einladen zu dürfen. Da einige von Ihnen Ehefrauen in guten Positionen haben, habe ich schließlich eingewilligt. Eine kann ja nie genug Verbündete haben.« Sie seufzt. »Der ganze Abend war eine absolute Zeitverschwendung. Das einzig Unterhaltsame war die Stelle, an der Margot ihren Mann vor allen anderen geohrfeigt hat. Vollkommen verdient, wenn Sie mich fragen. Danach war die Stimmung aber vollständig im Eimer. Zwei der Männer haben sogar angefangen zu weinen. »Nie wieder Dinnerparty mit Männern!«, habe ich mir damals geschworen. Kein Wunder, dass Frauen lieber allein in Gasthöfe gehen, nicht wahr?«Da ist was dran. Wahr ist es obendrein. Ein Abendessen, bei dem es zu Streit unter Ehepaaren kam, ist so langweilig wie alltäglich. Dennoch rät mir meine langjährige Erfahrung, noch einmal nachzuhaken.»Diese Ohrfeige, wie kam es dazu?«»Nun, einige der Ehemänner meinten, sich ein bisschen Sekt gönnen zu können. Fragen Sie mich nicht, welche die Flasche reingeschmuggelt hat; bei mir zuhause richte ich mich klar nach dem Grundsatz, dass Alkohol nichts für Männer ist. Als wir mitbekamen, dass sie auch was tranken, fanden wir das zunächst lustig. Sie waren wie betrunkene Kinder, irgendwie süß! Doch dann wurde Dennis unverschämt. Er widersprach seiner Frau und das nicht zu knapp. Wäre er nüchtern gewesen, hätte er zweifellos die Warnungen beachtet, die wir ihm unauffällig zukommen ließen. Aber nein, er ereiferte sich immer mehr. Wenn Sie mich fragen, ist er derjenige, von dem mein Bruder seine unnatürlichen Reden hatte. »Wir sind genauso gut wie Ihr«, sagte er irgendwann, »Ihr habt kein Recht, uns zu unterdrücken!« Ha! Und das, obwohl seine Frau ihm erst kurze Zeit vorher eine schöne neue Hose spendiert hatte. So etwas Undankbares!«Ich murmele eine Zustimmung. Gleichzeitig versuche ich, mir die Szene vorzustellen. Kein Wunder, dass die Dame ihrem Gatten eine verpasst hat. Das Ganze muss schrecklich peinlich für sie gewesen sein.»Wissen Sie, ob die anderen Männer auch diese, wie Sie es nannten, »unnatürlichen Ansichten« hatte? Oder bloß Dennis und Ihr verstorbener Bruder?«»Ach, die haben doch bis das mit Michael passierte, ständig alle aufeinander gehockt! Haben sich in jeder freien Minute draußen zum Tratschen getroffen, da war ihnen doch jeder Vorwand recht! Nach dem Vorfall haben wir das dann natürlich unterbunden. So weit wie Margot oder Irmgard bin ich nicht gegangen, die haben ihre Männer ja regelrecht zuhause eingesperrt. Aber ich sage mal so: Von da an habe ich Martin gut beschäftigt gehalten. Arbeit, das ist der Schlüssel: Welche hart genug arbeitet, hat keine Zeit mehr für Flausen im Kopf! Und wenn doch mal welche übrig waren... Nun, das Thema hatten wir ja schon.«Die nächste Frage stellt sich fast von allein.»Was war das denn für ein Vorfall mit diesem Michael?«Zum ersten Mal scheine ich Frau Tildasdother aus dem Konzept gebracht zu haben. Sie wirkt ehrlich überrascht.»Michael Irmgardsmann? Das wissen Sie nicht? Die Sache ging doch damals durch das ganze Goldene Reich!?«»Moment mal, sagten Sie Michael Irmgardsmann?«»Ja!«Meine Magie krümmt sich schmerzhaft zusammen. Ich wappne mich gerade noch rechtzeitig, bevor mich die Erinnerung und die damit einhergehenden Gefühle mit aller Macht treffen. Die Ungläubigkeit über das Geschehene. Die hilflose Fassungslosigkeit, die sich unter allen Gardistinnen, ach was, unter allen Frauen ausbreitete. Das Grauen angesichts dessen, was vorgefallen war. Es war so falsch, wie es nur möglich war. Bis heute bin ich der Meinung, dass selbst die Göttin an jenem Tag vor Trauer ihr Antlitz verhüllte.Michael Irmgardsmann, geborener Elissohn.Es gibt Geschichten, die die Männer ihren Kindern zum Einschlafen erzählen. Geschichten, mit denen sich noch nicht erweckte Mädchen vor hübschen Jungen wichtigtun wollen. Dann gibt es Geschichten, die Frauen an ihre Töchter weitergeben, um sie zu ermahnen, und ihnen weise Ratschläge mit auf den Weg zu geben.Es gibt Geschichten darüber, wie das glorreiche Hexentum über die Welt kam, sich von den deutschen Landen aus in alle Herrinnen Länder verbreitete. Wie wir blutige Kriege fochten, um unser Geburtsrecht wiederzuerlangen. Wie die grausamen Männer des Ostens eine Mauer bauten, um ihr der Göttin zuwideres Patriarchat weiter aufrecht zu erhalten.Geschichten über Heldinnen. Opferbereitschaft und Mut, wie ihn nur Frauen aufzubringen vermögen.Aber auch Geschichten über frauliche Gräuel und Verrat, Schwäche und Angst. Versagen.Die Geschichte des Michael Irmgardsmann ist eine davon.Dabei fing alles so gut für ihn an. Michael Elissohn wuchs als Sohn einer angesehenen Frau in der Nähe von Bautzen auf, die ihr eigenes Unternehmen leitete. Eli von Bautzen hatte sogar noch eine Tochter, die die Zukunft der Familie sicherte. Ihr großes Herz bewies sie, als sie den dreizehnjährigen Sohn ihrer verstorbenen Cousine zu sich nahm. Das Arrangement sollte nur wenige Jahre andauern, denn ihr Neffe zweiten Grades war einem Mädchen in Wetzlar versprochen worden.Das Mädchen wurde zu einer vielversprechenden Frau und als der Neffe achtzehn Jahre alt war, sollte die Vermählung stattfinden. Auf dem Weg dorthin kam es jedoch zu einem Unglück und der junge Mann starb.Eli von Bautzens Cousine hatte zu Lebzeiten viel Geld dafür bezahlt, ihren Sohn gut verheiratet zu wissen. Auf der anderen Seite hatte Eli selbst einen Sohn, dessen Zukunft noch ungewiss war. Die Parteien einigten sich und Eli gab den damals sechzehnjährigen Michael Irmgard Frederikesdother zum Mann. Das Ehepaar zog bald darauf nach Annaburg, wo Irmgard die Inhaberin des größten Baugeschäftes zum Kampf herausforderte, sie bezwang und ihr Geschäft übernahm. Dank ihrer starken Telekinesemagie und des Geschicks der von ihr eingestellten Planerin bekam sie schnell Aufträge und verdiente gut.Was danach und vor allem hinter verschlossenen Türen geschah, kann eine nur erahnen. Fest steht, dass Michael in der Ehe mit der zehn Jahre älteren Frau nicht glücklich war. Er hatte jedoch ein Dach über dem Kopf, genug zu essen und trug stets schöne Kleidung - was könnte ein Junge sich mehr wünschten?Doch Michael hatte Träume: Er wollte unbedingt ein Kind.Keine weiß, wie es der Junge fertigbrachte, doch irgendwann stimmte Irmgard zu, ein Kind auszutragen. Michael, mittlerweile Anfang zwanzig, blühte Nachbarinnen und Freundinnen zufolge regelrecht auf: Die Aussicht auf ein eigenes Kind ließ ihn seine offenbar lieblose Ehe vergessen.Mit dem Tag der Geburt stand Irmgard jedoch eine große Enttäuschung bevor: Das erst widerwillig gezeugte, aber dann doch heiß erwartete Mädchen war ein Junge!So ergeht es vielen Frauen; die meisten lernen, damit zu leben. Irmgard aber ließ ihre Wut darüber, dass ihr Mann versagt hatte, deutlich und gewalttätig an ihm aus. Michael nahm es stoisch hin, blieb sanft und fügsam. Der Junge war sein ganzes Glück.Acht Wochen lang stillte Irmgard ihren Sohn, wie es das Goldene Gesetz befahl. Während dieser Zeit pflegte sie den Groll auf ihren Mann weiter und begann, das eigene Kind zu hassen. Am letzten Tag der acht Wochen beauftragte sie eine Frau mit entsprechender Magie, ihren nichtsahnenden Mann in einen Tiefschlaf zu versetzen und die Magie bis zum nächsten Tag aufrecht zu erhalten. Als Michael wieder erwachte, war sein über alles geliebtes Kind verschwunden.Irmgard hatte ihren Sohn in ein Heim gebracht. Dort würde er mit so vielen anderen unerwünschten männlichen Kindern des Goldenen Reiches heranwachsen, freilich für viel Geld, aber mit dem Nötigsten versorgt.Für Michael brach eine Welt zusammen.Irmgard leugnete weder, was sie getan hatte, noch ließ sie sich erweichen, ihrem Mann zu sagen, wohin sie ihren Sohn geschickt hatte. Michael begann, sein Kind zu suchen. Er befragte jede in Annaburg, ob sie etwas gesehen hätte, wandte sich an seine eigene Mutter, letztlich sogar an die Bronzene Frau. Die Geschichte machte die Runde. Doch obschon er viel Mitleid erntete, waren sich auch die mächtigsten Hexen von Annaburg einig: Ein Kind mag zu seinem Vater gehören und es zeugt von Grausamkeit, Vater und Kind voneinander zu trennen, doch ist und bleibt es Eigentum der Frau, mit dem sie nach Belieben verfahren kann.Michael suchte drei Jahre lang nach seinem Sohn. Immer wieder lief er von zuhause weg, um in einem anderen Teil des Reiches nach dem kleinen Gary zu suchen.Vergebens.Als Irmgard ihren Mann ausgerechnet am Tag der Großen Anna vor aller Augen zurück nach Hause schleifen musste, reichte es ihr und sie verkündete, ihren Mann fortan einzusperren.Keine rechnete mit dem, was dann geschah.Michael spielte seiner Frau vor, die Hoffnung aufgegeben zu haben und sich ihr nunmehr endgültig in allen Dingen zu fügen. Die Scharade fand ihr jähes Ende, als Irmgards nächste magiefreie Woche anbrach.Der verzweifelte Mann schlich sich des Nachts aus dem Haus und rannte zum Marktplatz in der Oberstadt. Wie genau er es zustande brachte, weiß keine, doch plötzlich stand er oben auf dem Rathaus.Menschen kamen zusammen, Frauen wie Männer, Großmütter wie Fräulein. Er stand da und verkündete seinen Schmerz über den Verlust seines Sohnes. Alle Versuche, ihn zu beruhigen, schlugen fehl. Dann plötzlich wurde er ganz ruhig: Seine Frau, von aufgebrachten Nachbarinnen benachrichtigt, eilte herbei.»Hast du so nicht deine Vorgängerin getötet?«, fragte er sie. »Hast du sie nicht in die Luft erhoben und dann einfach auf die Pflastersteine fallen lassen? Hättest du mich doch auch so getötet!«Unter den verzweifelten Rufen seiner Frau und den Zuschauerinnen wandte er sein Gesicht gen Himmel und rief: »Gary!«Dann sprang er.Kapitel 25FunfundzwanzigNichts ist ermüdender als ein Fall, der nicht so recht vorankommen will. Trotz der Erkenntnisse, zu denen wir gestern gelangt sind, sind wir auf der Suche nach der oder den Täterinnen keinen Schritt weitergekommen. Wir haben kein Motiv, sieht eine davon ab, dass sich die Toten öfters mit ihren Frauen gestritten haben. Außer, dass die Morde immer nach demselben Muster stattfinden - ein Mann wird so getötet, dass der Verdacht sofort auf seine Frau oder Chefin fällt - haben wir nicht einmal einen Beweis, dass es sich um eine Mordserie handelt. Verflixt.Als mich Heidrun zu sich ruft, würde ich mich am liebsten verkriechen. Das ist natürlich nicht drin, nicht für eine Frau in meiner Position! Seufzend mache ich mich auf den Weg. Wohlwissend, dass meine Frauen mir mit den Blicken folgen. Alle wissen, unter welchem Druck ich stehe. Dass ich ein paar Tage ausgeknockt war, macht die Sache nicht besser. Heidrun ist meine Gönnerin und Fördererin, ja, doch sie wird nicht eine Sekunde zögern, mich abzusetzen, wenn sie das Gefühl hat, ich wäre meines Amtes als ihre Stellvertreterin nicht mehr würdig.Sie hat mich ins Kellergeschoss zitiert. Dort gibt es einen erstaunlich schönen Raum, dessen hohes Gewölbe angeblich noch von Männerhand verziert worden ist. Muss wohl so sein, welche Frau hätte Zeit für so einen Schnickschnack? Schön anzusehen sind sie aber, die Bögen und Kringel, Blumen und Vögel, die sich durch ein Spiel mit den Formen an den nackten Wänden emporzuranken scheinen.Heidrun hat am einzigen Tisch Platz genommen und lässt es sich schmecken. Es sieht aus wie ein Kanten Brot und ein riesiges Stück Käse. Hinzu ein dickes Stück Schinken und eine große Schüssel voll Rührei. Heidrun isst gerne üppig.»Magret, wie sieht es aus?«, fragt sie und greift zu dem Schinken. »Sind Annaburgs Ehemänner wieder sicher?«Ich atme tief ein und aus. »Ich fürchte nein.«Heidrun runzelt die Stirn. »Dann leg mal los!«»Wir haben inzwischen sieben Tote.« Ich seufze. Sechs tote Männer, das sind sechs zu viel. Die Zahl macht mich unsagbar traurig. Heidrun zeigt auf einen Schemel. Ich lasse mich darauf sinken und reibe mir mit den Händen durchs Gesicht. Ich bin müde.»Weiter?«»Wir haben noch immer keinen Beweis, dass es sich um eine Mordserie handelt, geschweige denn, dass die Ehefrauen groß miteinander zu tun hatten. Einige kannten sich wohl. Der Eine war mit dem Anderen befreundet, der wiederum mit jenem und so weiter. Das Übliche eben.«Heidrun nickt.»Annaburg ist klein.«»Genau. Aber ob sie sich näher kannten oder sich getroffen haben? Keine weiß es. Möglich wäre es. Die Frauen hatten auf jeden Fall definitiv nicht wirklich was miteinander zu tun. Es gab mal so etwas wie eine missglückte Dinnerparty, bei der vier der jetzigen Witwen anwesend waren. Das war es aber auch schon. Sie stammen aus verschiedenen Ecken des Reiches, haben unterschiedliche Berufe und Magien. Sie sind alle zwischen 25 und 35 Jahre alt. Die Magiestärken reichen von gerade noch normal bis hin zu stark. Die beste Magie hat Frau Hildegardsdother, Herzmagie, die als Ärztin hier im Stadtkrankenhaus arbeitet. Die Schwächste dürfte Frau Tildasdother haben, die arbeitet in der Stadtreinigung. Unterschiedliche Einkommen, aber alle konnten ganz gut leben.«»Die Männer?«»Zwischen 17 und 28. Bisschen vorlaut, offenbar, ein paar von ihnen hatten wohl maskulistische Ansichten.«Heidrun verzieht das Gesicht.»Die Herrin verschone mich mit diesem Kerlegewäsch. »Wir sind ja ach so unterdrückt«, mimimi. Haben sonst keinen Sorgen im Leben außer, was sie mit ihrer ganzen freien Zeit anfangen sollen, aber Hauptsache, sie finden etwas, worüber sie jammern können.«»So ungefähr.« Nur mit Mühe unterdrücke ich ein Schmunzeln. »Ach ja, und einige von ihnen kannten Michael Irmgardsmann.«»Michael Irmgardsmann?« Hätte ich nicht bereits vorher Heidruns voll Aufmerksamkeit gehabt, wäre sie mir jetzt sicher. »Erzähl!«»Nun ja, er hat wohl lange Zeit vor dem, äh, Vorfall Reden geschwungen. Du weißt schon, dass es ungerecht ist, dass Menschen ohne Magie nicht mitbestimmen dürfen, dass das Recht der Stärkeren nicht gelten sollte, etwas in der Art. Offenbar fand er unter den Hausmännern eine große Zuhörerinnenschaft. So ganz genau lässt sich das nach all den Jahren nicht mehr sagen, doch offenbar waren nicht alle von dem überrascht, was er letztlich getan hat.«»Verdammt nochmal!« Heidrun haut so fest auf den Tisch, dass die schwere Eichenholzplatte erzittert. Ich kenne die Wucht ihrer Magie - es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte ein Loch hineingeschlagen. »Du willst mir also sagen, dieses kleine Stück Scheiße hat damals Anhängerinnen um sich geschart? Ohne, dass wir es mitbekommen haben?«»Sieht ganz so aus.«Ich verstehe Heidruns Wut. Bisher waren immer alle davon ausgegangen, dass Michael Irmgardsmann allein gewesen war.»Wieso töten Frauen?«, fragt Heidrun. Trotz ihres eindringlichen Tonfalls bin ich nicht sicher, ob die Frage ernst oder rhetorisch gemeint ist. »Deiner Meinung nach, Magret, deiner Erfahrung nach?«»Nun, da gibt es verschiedene Gründe.«Die schöne Heidrun schaut mich an und zieht eine Augenbraue hoch.»Also«, sage ich zögerlich, »ein Grund wäre natürlich der, dass sie es müssen. Ob im Straßenkampf oder Krieg. Das betrifft aber in der Regel nur Gardistinnen. Frauen töten, weil eine die andere herausfordert. Dabei geht es meist um ihren Posten. Wobei heutzutage viele solcher Duelle nicht mehr bis zum Tod ausgetragen werden.«Heidrun macht mit einem abfälligen Schnauben deutlich, was sie von der milderen Form des Zweikampfes hält.»Drittens töten Frauen, weil sie über etwas in Streit geraten. Eskalieren. Weil sie zu viel getrunken haben oder das Ende ihrer Magiezeit droht.« Göttin, was gäbe ich darum, wenn wir es nie wieder mit einer ausrastenden Beinahe-Großmutter zu tun hätten!Heidrun widmet sich wieder ihrem Essen. Ich begehe jedoch nicht den Fehler zu denken, sie würde mir dadurch weniger aufmerksam zuhören.»Hm, was noch? Frauen töten Frauen, weil die etwas haben, was sie selbst gern hätten. Also aus Habgier. Rachsucht. Eifersucht.«Sie schaut auf. »Und wieso töten Frauen Männer?«Ich bin überrascht. Diese Frage habe ich mir noch nie wirklich gestellt. Wir versuchen stets, herauszufinden, wieso eine einen Mann umgebracht hat. Doch das war dann immer auf einen Einzelfall bezogen. Allgemein bin ich der Frage nie nachgegangen.»Nun...« Ich richte meinen Blick nach innen und gehe die zahlreichen Fälle durch, in denen ein Mann von einer Frau getötet worden ist. Frauen töten Frauen, das geschieht sehr oft. Zahlenmäßig kommen direkt danach die Delikte, bei denen Frauen Täterinnen und Männer Opfer sind. Männer, Fräulein und Großmütter dagegen töten so gut wie nie eine. Seltsam eigentlich.»Die meisten Männer werden im Streit von ihren Frauen getötet«, erkläre ich.Heidrun kneift die Augen zusammen. »Kein richtiger Mord also, sondern eher Totschlag im Affekt?«»Genau. Vielen tut es auch hinterher leid. Nun ja, sagen wir lieber: einigen.«»Das leuchtet mir ein.« Heidrun schaut an mir vorbei, scheinbar an die Wand. Ich mache jedoch nicht den Fehler zu denken, sie würde mir nicht weiter aufmerksam zuhören. »Also Magret, was noch?«»Eifersucht. Berechtigt oder eingebildet. Der Versuch, den Mann zu Vernunft zu bringen. Wenn er aufmüpfig wird.« Die Wortwahl fühlt sich falsch an, viel zu flapsig für ein so ernstes Thema. »Ich meine, es gibt solche und solche Männer. Da gibt es die sanften, fügsamen Männer, die eigentlich genau so sind, wie eine sie haben möchte. Die werden dennoch auch getötet. Wieso? Tja, gute Frage. Weil ihre Ehefrauen denken, sie verheimlichen ihnen etwas. Hätten eine Affäre oder würden sich heimlich über sie lustig machen. Ihre Fraulichkeit in Frage stellen, etwas in der Art.«»Also liegt das Problem im Grunde in der Psyche der Frauen begründet?«Ich zucke mit den Schultern.»Scheint so. Ich meine, die anderen Männer, die, die eine große Klappe haben, ihren Frauen sogar Widerworte geben, es vielleicht sogar wagen, von einer Gleichwertigkeit der Geschlechter zu sprechen... Ja, da ist der Fall klar. Oder auch jene, die von ihren Frauen davonlaufen: Nicht wenige Frauen bestrafen einen solchen Verrat endgültig.«»Dann geht es also um Kontrolle?«Ich nehme mir einen Augenblick Zeit, um über Heidruns Schlussfolgerung nachzudenken.»Ja, das kann gut sein. Kontrolle. Über den Mann und sein Leben bestimmen zu können. Ihn sich Untertanin zu machen. Da ist aber noch mehr.« Verschiedene Frauen, an denen das Blut ihrer Ehemänner klebt, erscheinen vor meinem inneren Auge. »Weißt du, beizeiten glaube ich, dass einige Frauen Männer in Wirklichkeit fürchten. Obwohl sie keine Magie haben. Vielleicht gerade deshalb: weil sie trotzdem eine Art Macht über uns haben. Unser Denken, unser Handeln. Wie sie unsere Sinne betören und uns um den Finger wickeln können. Ja, einige Frauen fürchten die Männer. Und was wir fürchten, hassen wir.«Heidrun schaut mich ernst an.»Und was wir hassen, töten wir.«Das Gespräch mit Heidrun hat mich sehr nachdenklich gemacht. Sie hatte schon immer die Gabe, mich dazu zu bringen, mich selbst und mein Denken zu hinterfragen. Unmöglich, jetzt rauf ins Büro zu gehen.Kurz erwäge ich, meinen persönlichen Zufluchtsort aufzusuchen. Doch der erscheint mir heute zu ruhig. Ich brauche die vertraute Geräuschkulisse der Stadt, um mich zu konzentrieren. Im Schlosspark sind mir zu viele Gardistinnen, die mich jederzeit ansprechen und so meinen Gedankengang unterbrechen könnten. Daher entscheide ich mich, den Weg am Nordkrankenhaus vorbei zu nehmen. Ich schlängele mich durch die zahlreichen, winzigen Gassen und erreiche schließlich eine meiner Lieblingsstraßen, die Augusta von Lübeck höchst selbst während ihrer Amtszeit als Goldene Frau zu Ehren einer der bedeutendsten Frauen der Weltgeschichte umbenannt hatte: die Anne-of-Pembroke-Straße. Von hier aus kann ich entweder zur Hauptstraße gehen oder aber einen großen Schlenker zurück machen. Ich entscheide mich für Letzteres. Dabei passiere ich altvertraute Gebäude mit teils langweiligen, teils phantasievoll ausgeschmückten Fassaden. Kein Haus sieht hier aus wie das andere und doch ergeben sie alle zusammen ein harmonisches Gesamtbild.Meine Füße kennen den Weg. Mein Geist leert sich. Meine Sinne nehmen alle Eindrücke um mich herum auf und lassen sie ungefiltert wieder frei. Meine Magie liegt locker um mich herum. Schlägt mal in die eine, mal die andere Richtung aus, ohne etwas allzu schwer wahrzunehmen. Ein ruhiger Tag. Es gibt vieles, was die Menschen als falsch und Unrecht empfinden; und doch erreichen mich heute nur all die Kleinigkeiten, die zu einem Leben dazu gehören: die ungerechte Bestrafung der Tochter durch den strengen Vater, die Bauchschmerzen eines kleinen Jungen, der zu viel gegessen hat, oder die stumme Wut einer Frau, deren Kollegin an ihr vorbei befördert wurde. Nichts weiter als winzige Punkte, die auf das Netz meiner Magie zu flirren, sich hineinstürzen, aufflackern und im selben Moment, da ich ihre Wirkungsbereiche verlassen habe, wieder verblassen. Nichts Schreckliches stört meinen Gedankenlauf.Wieso töten Frauen Männer?Heidrun und ich waren bereits auf der richtigen Fährte, das spüre ich. Es geht um Kontrolle. Angst. Macht.Und doch ist da eine hässliche kleine Stimme in mir, die sagt: »Weil sie es können.«Kapitel SechsundzwanzigZu sagen, dass ich nervös bin, wäre stark untertrieben. Kaum, dass ich nach meinem Spaziergang wieder im Gardegebäude war, hatte mich Frenja geschnappt und ins Goldene Schloss geschleift. Nie zuvor bin ich der Goldenen Frau in so privatem Rahmen gegenübergetreten. Wobei »gegenüber« der falsche Ausdruck ist; nie im Leben würde ich es wagen, sie direkt anzuschauen!Ihr Profil ist mir aus unterschiedlichsten Blickwinkeln wohlbekannt. Eine ist keine Goldene Gardistin, ohne der Goldenen Frau öfters zu begegnen oder sie zumindest aus wenigen Metern Abstand zu sehen. Ihr stolzer Blick, die kühn geschwungenen Augenbrauen. Der leicht grausame Zug um ihren Mund. Die absolute und zu jeder Zeit kontrollierte Körperhaltung: All das sehe ich vor meinem inneren Auge, während meine tatsächlichen Augen auf den Boden schräg neben ihr schielen.Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Oder ob überhaupt. Eine blöde Situation! Fran hat mich mit ihrem Aktionismus wieder einmal vollkommen überrumpelt.»Komm mit, wir haben eine Audienz bei der Goldenen!«, hatte sie gezischt, mich am Arm gepackt und hinter sich hergezogen. Selbst ohne Magie hat Fran ganz schön viel Kraft. Was sie antreibt, ist eine Mischung aus Hass und Entschlossenheit.»Was machst du hier? Was ist mit Antje?«, hatte ich gefragt. Sie hatte nur abgewunken.»Alles in Ordnung. Komm jetzt.«Und hier sind wir nun, befinden uns in einem Raum mit der mächtigsten Frau des Goldenen Reiches. Nur sie, wir und vier Goldene Gardistinnen ihrer persönlichen Leibgarde.»Es wäre besser, was wir zu sagen haben, würde erstmal für andere ungehört bleiben«, sagt Fran.Die Goldene Frau neigt den Kopf einen Hauch zur Seite. Sofort ändert sich die Konsistenz der Luft im Raum. Ich weiß nicht, was sie getan hat, fühle mich aufgrund meiner gefesselten Magie ekelhaft hilflos und blind. Was immer es war, Fran sieht zufrieden aus und ich schätze, das bedeutet, dass die anderen Gardistinnen uns jetzt nicht mehr hören.Die Goldene Frau nickt Fran zu.»Du hattest um eine Audienz gebeten. Ich habe sie gewährt. Sprich.«Ihrem Tonfall nach ist sie nur mäßig an dem interessiert, was Frenja ihr zu sagen hat. Nun, das wird sich bald ändern. Oder sie gibt nur vor, nicht neugierig zu sein. Im Gegensatz zu den Frauen ihrer persönlichen Leibgarde kann ich mich nicht rühmen, die Goldene Frau näher zu kennen. Dass sie Frenja und mich überhaupt anhört, spricht jedoch sowohl für sie als auch für meine Freundin. Die Goldene Frau geht davon aus, dass es etwas Relevantes ist.Fran räuspert sich. Auch sie scheint nervös zu sein.»Sie kennen ja sicher Magret Beatesdother. Sie ist Heidruns Stellvertreterin in der Spezialabteilung. In den vergangenen Jahren hat Magret zahlreiche Fälle im gesamten Reich gelöst und viele Mörderinnen vor das Goldene Gericht gebracht.«Die Goldene Frau nickt. Sie würde einen schlechten Job machen, wüsste sie nicht über jede ihrer Goldenen Gardistinnen Bescheid.»Magret und ich sind seit einigen Jahren Mitbewohnerinnen. Jetzt haben wir durch Zufall etwas herausgefunden, das für das Goldene Reich von immenser Bedeutung ist. Etwas, das unser aller Leben für immer verändern könnte. Wie Sie vielleicht wissen, wurde meine Schwester Antje vor vielen Jahren Opfer von Matthias Schulte.«Die Wut, die die Goldene bei der Erwähnung dieses Terroristen verströmt, lässt mich schaudern.»Antje ist.. sie hat noch immer Schwierigkeiten. Doch jetzt sind Magret und ich auf etwas gestoßen, dass all ihrem Leid und dem der anderen Großmütter ein Ende bereiten könnte.«Bilde ich mir das nur ein, oder hat sich die Goldene Frau in ihrem Stuhl einen Hauch weit vorgebeugt?»Wie?«Ein einziges Wort, eine einzige Silbe. Und doch bringt sie alles auf den Punkt.Fran wirft mir einen nervösen Blick zu. Sie ist bei Weitem nicht so selbstsicher, wie sie klingt. Ich nicke ihr so unauffällig wie möglich zu. Sie macht das großartig!»Goldene, wir haben einen Stein entdeckt, der... Magret hat da nämlich ein Armband, das...« Sie bricht ab, senkt den Kopf, sammelt sich kurz, streckt sich dann und fährt fort: »Wir haben entdeckt, dass es Steine gibt, in denen eine Magie speichern kann.«Stille legt sich bleischwer über uns. Ob magischen Ursprungs oder ganz gewöhnlich vermag ich nicht zu sagen. Die Stille dehnt sich aus. Wird dicker. Ich spüre, wie mir ein Schweißtropfen die Schläfe hinunter rinnt. Wie wird die Goldene Frau reagieren? Wird sie erfreut sein und voller Hoffnung so wie Frenja? Oder besorgt wie ich?Ein Zischlaut durchdringt die Geräuschlosigkeit. Die Goldene atmet hörbar ein. Dann stößt sie ein einzelnes Wort aus:»Nein.«»Nein?«, echot Fran. »Wie meinst du das?«Bis zu diesem Augenblick war mir nicht klar, dass meine Freundin die oberste und mächtigste Hexe unseres Reiches duzen darf.Die Goldene Frau steht auf, geht auf Frenja zu und schaut ihr direkt in die Augen.»Ich meine »nein« wie in »das darf niemals geschehen«!«»Aber...« Mit verwirrtem Gesichtsausdruck bricht Frenja ab. Sie schüttelt den Kopf. »Aber... möchtest du denn nicht einmal wissen, wie es funktioniert?«»Nein. Und dich hat das auch nicht zu kümmern. Sobald ihr diesen Raum hier verlassen habt, werdet ihr nie wieder ein Wort über die Angelegenheit verlieren. Ist noch eine in das Geheimnis eingeweiht?«Frenja reagiert nicht. Sie starrt mit gerunzelter Stirn auf den Boden, scheint mit einem Gedanken zu ringen.»Nein«, sage ich daher. »Wir haben keiner anderen davon erzählt.«»Gut.«Die Goldene Frau geht zurück zu ihrem thronartigen Stuhl, lässt sich elegant darauf sinken. Da ist kein Schwanken zu erkennen, kein Beben, nichts. Als wären die Neuigkeiten nicht ungewöhnlicher als das, womit sie es sonst jeden Tag zu tun hat. Vielleicht ist dem auch so.Ich erkenne an Frans angespanntem Kiefer, dem Ausdruck ihres Gesichts, dass sie noch nicht aufgeben wird.»Wir könnten allen, die Matthias Schulte zu Großmüttern gemacht hat, wieder Magie verschaffen! Die Steine sind ganz einfach zu beschaffen und wirklich sehr verbreitet. Antje könnte wieder eine Frau sein!«»Nein.« Eine Spur Schärfe hat sich in den Tonfall der Goldenen Frau geschlichen. »Ich verstehe, dass du dabei an deine Schwester denkst, Frenja. Du hast ein sehr enges Verhältnis zu ihr und ich erkenne das an. Doch in dieser Angelegenheit darfst du nicht wie eine Schwester denken, sondern wie eine Goldene Gardistin. Schau dir deine Freundin an«, sie deutet mit dem Kinn auf mich. »Sie sieht weiter als du. Sie hat es verstanden.«Sieht eine mir meine Ablehnung so deutlich an? Oder verfügt die Goldene über eine Magie, die ihr meine Ansichten verrät? Keine weiß es...»Ich weiß, dass es einiges zu erwägen gibt«, sagt Frenja. »Natürlich müssten Abbau und Verteilung der Steine streng kontrolliert werden. Wir müssten uns absprechen, welche Frauen für welche Großmütter welche Magie in die Steine speisen. Es scheint nämlich so zu sein, dass nicht jede Frau jede Magie einer anderen verträgt. Außerdem-«»Nein.« Als die Goldene Frau seufzt, klingt es, als sei sie müde. »Was du vorschlägst, Frenja, ist nicht umsetzbar. Zu gering ist der Nutzen, den wir aus der Sache ziehen könnten, zu groß die Gefahr, dass wir unwiderruflichen Schaden davontragen.«Bei dem Wort »Nutzen« ist Frenja geradezu erstarrt.»Nutzen?«, fragt sie ungläubig. »Du sagst, wir haben nicht genug Nutzen davon, wenn wir entführten, traumatisierten, ausgeweideten Großmüttern wie Antje ihr Frauentum wiedergeben?«»Es wäre kein ganzes Frauentum«, sagt die Goldene sanft. »Sie könnten auch weiterhin keine Kinder bekommen.«Fran schnaubt. Ich zucke zusammen: Hat sie vergessen, vor welcher sie steht?»Die wenigsten möchten Kinder bekommen, wie du sehr wohl weißt. Aber welche würde keine Magie mehr haben wollen?«»Was langsam zu einem ernsten Problem wird«, murmelt die Goldene Frau. »Doch das soll euch an dieser Stelle nicht belasten. Und ja, ich spreche von Nutzen und Gefahren. Das ist genau das, was ich als Goldene Frau tun muss. Ich muss abwägen. Das Wohl einzelner Frauen und anderer Menschen gegen das aller. Denn genau darum geht es hier, ob du es wahrhaben möchtest oder nicht: einzelne. Dass ein Teil deiner eigenen Familie betroffen ist, verzerrt deine Sicht auf die Dinge. Deine persönliche Tragödie, was mit deiner Schwester geschehen ist, darf jedoch nicht meine Sicht beeinflussen.«Sie steht auf, durchschreitet mit raschen, festen Schritten den Raum und stellt sich an eines der Fenster. Was sieht sie, wenn sie hinaussieht? Annaburg zu ihren Füßen, die glitzernde und brodelnde Hauptstadt eines riesigen Reiches, das sich von der Nordsee bis zum Mittelmeer, von Cabo da Roca im Westen bis zur großmoldawischen Mauer im Osten erstreckt. Ein Reich, das ihr als mächtigster Frau zu Füßen liegt. Die Magiespeichersteine könnten das ändern.»Wisst ihr, wie viele Frauen Matthias Schulte und seine Bagage lange vor ihrer Zeit zu Großmüttern gemacht haben?«Sie wendet uns noch immer den Rücken zu, kann also unmöglich sehen, dass Frenja und ich mit den Schultern zucken. Dennoch spricht sie nach einem Moment weiter.»Achthundertsiebenundzwanzig.«Die Zahl schwebt im Raum. Ich versuche, sie zu fassen. Ich weiß nicht, welche Zahl ich mir vorgestellt hatte und ob sie größer oder kleiner ist, als ich gedacht hatte. Was ist viel, was ist wenig? Achthundertsiebenundzwanzig Frauen, die das absolute Grauen erlebt haben. Ein ganzes Dorf. Andererseits - der Gedanke begleitet mich mit Scham und Ekel - ist das nichts im Vergleich zu allen Menschen im Goldenen Reich. All jenen also, die in Gefahr geraten könnten, würden wir das Geheimnis der Magiespeichersteine lüften. Ich verstehe die Goldene Frau. Instinktiv spüre ich, dass sie mein Schreckensszenario aus Chaos und Gewalt teilt; Fran jedoch nicht.»Achthundertsiebenundzwanzig«, wiederholt die Goldene. »Und glaube mir, ich habe um jede einzelne von ihnen geweint.«»Ich tue es heute noch!«, sagt Frenja leise.»Fran!« Ich kann nicht mehr an mich halten. »Du vergisst dich!«»Und?« Sie lacht hart auf. »Ich vergesse mich, so wie hier offenbar vergessen wird, worum es wirklich geht. Es geht darum, dass Antje wieder gesund werden könnte!«»Magret«, so wie die Goldene Frau meinen Namen ausspricht, klingt es wie ein Seufzen. »Erklär es ihr.«Obwohl wir noch nie zuvor so viele Worte gewechselt haben wie heute fühlt es sich vertraut an, wie die Goldene Frau zu mir spricht. Ohne uns abgesprochen zu haben weiß ich ganz genau, was sie meint.»Fran«, sage ich so sanft wie möglich. »Antje ist krank, sehr krank sogar. Doch damit meine ich nicht, was Matthias Schulte ihr angetan hat. Deine Schwester ist krank an ihrem Geist, krank in ihrer Seele. Ihr Magie zur Verfügung zu stellen, würde sie nicht wieder gesund machen.«»Doch, das würde es!« Fran bemüht sich um einen scharfen Ton, doch sie klingt wie ein bockiges Kind.»Nein«, sage ich daher, »und du weißt es. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, das kann keine Magie dieser Welt. Wir können nur versuchen, irgendwie im Heute zurecht zu kommen, um das Morgen für uns alle besser zu machen.«»Genau das versuche ich doch!«, erwidert sie heftig. »Ich verstehe euch einfach nicht. Wir haben ein Problem und das hier ist die Lösung. Sieht das denn keine von euch? Was wir damit alles tun könnten?«»Dessen bin ich mir durchaus bewusst«, sagt die Goldene Frau ruhig. »Doch ich bin auch nicht blind für die Gefahren. Frauen, die immer mehr Macht um sich häufen und dann während sie vorgeben, Großmutter geworden zu sein, weiter über Magie verfügen. Du sagst, nicht jede würde die Magie einer anderen vertragen - siehst du nicht die Toten, die unweigerlich auf uns zukommen würden, würden wir den Frauen gestatten, diese Steine zu verwenden? Welche sollte dann eine daran hindern, immer mehr und mehr Magie auf einmal zu benutzen? Allmächtig zu sein? Das ganze Gleichgewicht, wie es die große Göttin gewollt hat, würde aus den Fugen geraten. Und hast du auch jene bedacht, die von der Großen Göttin nie dazu auserkoren waren, das Geschenk der Magie zu erhalten? Was, wenn nach den Großmüttern auch die Fräulein darauf bestehen würden, Magie zur Verfügung gestellt zu bekommen?« Sie deutet auf mich. »Die Magiemustererkennung, die es uns erlaubt, jede zu identifizieren und jene im Auge zu behalten, die zur Gefahr für uns werden könnten - wie sollte das dann noch gehen? Nein«, sie schüttelt sachte den Kopf. »Du würdest die gesamte Ordnung, wie die Große Göttin sie ersonnen und gewollt hat, zerstören. Nichts wäre mehr sicher. Und gleich, wie sich das Leben mit den Steinen für die Einzelne fortan gestalten mag, eines steht fest: Unsicherheit erzeugt Angst, Angst erzeugt Hass und Hass führt zu Tod.«Frenja schüttelt so heftig den Kopf, als könne sie damit der düsteren Prophezeiung der Goldenen Frau ihre Kraft nehmen.»Ich rede davon, unschuldige Großmütter zu retten. Alles, was euch einfällt, ist das Schlimmste zu sehen. Ich sehe eine großartige Möglichkeit für das gesamte Hexentum! Goldene«, sie klingt fast flehend, »wie viel Weisheit und Kraft gehen mit dem Eintritt der Frauen ins Großmüttertum verloren? Wie viele erfahrene Frauen werden in den Ruhestand gezwungen, nur weil ihr Körper ihnen die Erneuerung ihrer Magie versagt? Siehst du denn nicht, wie sehr wir von den Steinen profitieren können? Auch du! Und jetzt sag nicht, du hast noch nie davon geträumt, die Jahre deiner Magie zu verlängern!«Schlagartig ändert sich die Energie im Raum. Es fühlt sich an, als wäre eine unsichtbare Last von mir genommen worden. Keine muss mir erklären, dass die Goldene soeben Magie angewandt hat. Die wachhabenden Gardistinnen ändern auf subtile Weise ihre Körperhaltung. Sie können uns wieder hören.»Geh jetzt«, zischt die Goldene Frau. »Und kein Wort zu einer. Ich verpflichte euch, über die Angelegenheit zu schweigen. Egal, gegenüber welcher. Vor allem gegenüber deiner Schwester, Frenja. Jetzt geh mir aus den Augen, bevor ich mich vergesse und dich für das, was du eben angedeutet hast, zur Rechenschaft ziehe.«Frenjas Gesichtsausdruck ist so fassungslos, dass es mir weh tut. Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich um und geht.Etwas unschlüssig stehe ich da - bin ich damit auch entlassen?»Nun, Magret Beatesdother«, sagt die Goldene kühl, aber nicht unfreundinlich. »Du agierst bedeutend vernünftiger als deine Freundin. Ich habe dich richtig eingeschätzt. Ich würde mich freuen, wenn du deinen Einfluss nutzen würdest, mäßigend auf Frenja einzuwirken.«»Ja, Goldene.« Ich senke den Kopf zum Zeichen meiner Ergebenheit.»Sollte es Schwierigkeiten geben... Nun, ich erwarte von dir, wie von jeder anderen Goldenen Gardistin auch, dass du dein Wohl dem des Reiches unterordnest.«Was für eine Frage! Ich hebe den Kopf wieder hoch und recke die Schultern.»Ich bin in erster Linie Goldene Gardistin. Meine privaten Loyalitäten sind dem stets untergeordnet.«Ein winziges Lächeln umspielt den Mund der Goldenen Frau.»Gut. Sehr gut.«Kapitel SiebenundzwanzigEs ist spät und Frenja ist noch nicht nach Hause gekommen. Langsam mache ich mir Sorgen. Antje geht es besser. Sie ist wieder wach und ansprechbar, auch wenn sie keine Lust auf ein Gespräch zu haben scheint. Die Ereignisse der vergangenen Nacht haben sichtbare Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Ihre Haut ist grau, unter ihren Augen liegen tiefdunkle Ränder. Ihr meist fettigen Haare kleben geradezu an ihrem Kopf. Beizeiten denke ich, dass ich mit ihrer Sucht besser zurechtkäme, wenn sie sich in Sachen Hygiene nicht so gehen lassen würde. Dann schimpfe ich mich für den oberflächlichen Gedanken. Und dennoch.»Das Abendessen ist fertig«, sage ich. Sie erhebt sich widerwillig, folgt mir in die Küche. Ich habe mir Mühe gegeben beim Tisch decken, habe einen auf Hausmann gemacht und sogar Servietten neben die Teller gelegt und ein paar frische Blumen besorgt. Ich kann nur ahnen, wie Fran zumute ist.Schweigend setzen Antje und ich uns hin. Wortlose stelle ich vor jeder einen mit Suppe gefüllten Teller ab. Eine dunkle Wolke scheint über uns zu schweben ­­­­­­- eine bleischwere Stimmung, die uns niederdrückt. Oder bilde ich mir das nur ein?Antje fühlt sich so falsch an wie immer. Ihr direkt gegenüber zu sitzen und dabei zu essen, ist für mich die reinste Qual. Die Schwingungen, die sie verströmt, schnüren mir die Kehle zu. Es ist sogar noch schlimmer mit ihr geworden. Ihr Körper, ja, ihr ganzes Sein ist so verdreht, dass ich nur mit Mühe ein Würgen unterdrücke. Fast vermisse ich meine magiefreien Tage. Ich sollte Mitleid mit ihr empfinden, weiß Göttin, doch alles was ich verspüre, ist Erleichterung darüber, dass Antjes Anwesenheit hier nicht von Dauer ist.»Frenja wird sicher bald da sein«, sage ich in die Stille zwischen Hauptgang und Nachtisch hinein. Antje zuckt mit den Schultern. Ich erwidere die Geste und hole dann die Nachspeise. Für jede ein Schüsselchen frisch gepflückte Ruthsbeeren, Annaburgs Pflanzenhexen sei Dank!Wie jedes Mal nehme ich mir die Zeit, die tiefroten Beeren zu bewundern, die noch jeweils zu mehreren an einem Ästchen hängen. Sorgsam pflücke ich eine nach der anderen ab, stecke sie mir in den Mund und genieße die süße Geschmacksexplosion, als die prallen Früchte auf meiner Zunge zerplatzen. Antje dagegen steckt sich die Zweiglein in den Mund, streift die Beeren ab und zieht das Ästchen dann wieder heraus. Ich unterdrücke ein Seufzen. Ich wünschte, Frenja wäre hier.Mit einem Ruck wird die Wohnungstür aufgestoßen. Bevor eine von uns reagiert, steht Frenja in der Küche. Ihr Blick ist müde, aber voll wilder Entschlossenheit.Sie lächelt uns an. »Na ihr?«»Da bist du ja endlich!«, sagt Antje und steht auf. Ich gebiete ihr mit einer Geste, sich wieder hinzusetzen.»Was hast du getan?«, frage ich scharf.Fran folgt meinem Blick. Als sähe sie ihre Hände zum ersten Mal, hebt sie sie sich vors Gesicht. Mustert das Blut, das an ihnen klebt. Ich brauche keine Magie, um zu erkennen, dass es nicht das ihre ist.»Was. Hast. Du. Getan?«Frenja nimmt die Hände herunter und zuckte mit den Schultern. Grinst, ihre Augen bleiben kalt.»Was ich tun musste, um meine Schwester zu beschützen.«»Vor was oder welcher?«, frage ich scharf.Erneutes Schulterzucken. Dann deutet sie auf den gedeckten Tisch.»Ist noch was für mich da?«»Natürlich.«Ich stehe auf, gehe mit behutsamen Schritten um meine Freundin herum und fülle ihr einen Teller.»Magret, ziehst du mir Wasser ran und machst es warm? Ich sollte mich wohl vor dem Essen waschen.«Ich nicke, gehe ins Badezimmer und tue, worum sie mich gebeten hat. Es fühlt sich an, als würde ich durch Nebel gehen. Was ist bloß geschehen? Und möchte ich das überhaupt wissen? Ich ahne, dass es nichts Gutes ist. Fran hat ihre magiefreie Woche, ist somit faktisch außer Dienst. Was immer sie getan hat, es war nichts Offizielles.Zusammen mit Antje warte ich am Tisch, bis Frenja wieder zu uns kommt. Sauber gewaschen verliert sie keine Zeit, sondern vertilgt in wenigen Minuten, was wir übriggelassen haben.»Ah, das war gut«, sagt sie schließlich und lehnt sich mit einem zufriedenen Seufzer zurück. »Magret, Süße, ich weiß ja, du hast es derzeit nicht so mit Alkohol. Gut so, sage ich, wirklich. Aber haben wir zufällig noch irgendwo etwas im Haus?«Auf mein Kopfschütteln reagiert sie mit einem gleichmütigen »Was soll`s.«Antje und ich tauschen einen Blick. Es erstaunt mich, in ihren Augen Kummer und Sorge zu sehen. Endlich hat etwas die Mauer ihrer Gleichgültigkeit und Ichbezogenheit durchbrochen.Ein Teil von mir möchte noch immer nicht wissen, was geschehen ist. Was ich weiß, weiß ich. Es gibt Dinge, die lassen sich nie wieder ungeschehen machen; einmal erlangtes Wissen gehört dazu.Doch ich bin eine Goldene Gardistin. Das ist eine Uniform, die eine niemals ablegt. Nicht in ihrer magiefreien Woche, nicht zuhause und nicht im Schlaf. Ich bin den Goldenen Gesetzen, der Goldenen Frau und nicht zuletzt meiner Ehre verpflichtet. Ich habe geschworen, jedes Unrecht zu bekämpfen, gleich wo und in welcher Form es mir begegnet. Es mag Frauen geben, die ihre Prinzipien der Bequemlichkeit zuliebe oder für einen vermeintlichen Vorteil über Bord werfen. Die Göttin möge verhindern, dass ich je eine von ihnen werde!Ich atme tief durch. »Nun sag schon: was hast du getan?«Fran zuckt mit den Schultern.»Spielt das eine Rolle? Ich ziehe noch mal los, nur mal eben um die Ecke. Irgendeine Kneipe wird ja wohl noch offen haben.«»Hast du die Kleine umgebracht?«Frenja runzelt die Stirn und schaut mich dann unschuldig an. »Welche Kleine?«»Die Mondhexe?«»Ach, die meinst du«, sagt Fran und macht eine wegwerfende Geste. »Sag das doch. Was soll mir ihr sein?«»Jetzt spiel hier nicht die Unschuldige! Du hattest Blut an den Händen!«Endlich sieht sie mich an.»Und wenn? Falls du es vergessen haben solltest, meine Liebe, ich habe meine magiefreien Tage. Sollte ich also tatsächlich, sagen wir, in einen Kampf mit einer Frau geraten sein, die unter Magie ist, und sollte ich diesen Kampf tatsächlich gewonnen haben, dürfte da von meiner Seite aus wohl kaum ein Verbrechen vorliegen. Sondern eher so etwas wie Notwehr. Aber krieg dich wieder ein: Ich habe der Kleinen nur eine Lektion erteilt!«Ihr Blick ist ruhig und offenbart mir die Wahrheit: Sie hat die Mondhexe getötet wegen dem, was sie Antje angetan hat. Sie hat ihre Unwissenheit und Geldgier doch mit dem Leben bezahlt.Innerlich schimpfe ich mich eine Närrin: Wäre die Frau noch am Leben, wenn ich sie statt sie wegzuschicken ebenfalls zur Garde gebracht hätte? Vermutlich nicht. Beizeiten muss eine Frau tun, was sie tun muss. Oder was sie denkt, tun zu müssen. Und wie eine es auch dreht und wendet, Fran hat recht: Sie verfügt derzeit über keinerlei Magie, die Mondhexe dagegen schon. So oder so hätte Fran, da sie nicht im Dienst war, jedes Recht der Welt gehabt, die Kleine herauszufordern. Wahnsinn, wenn eine keine Magie hat. Doch offenbar wogen Frenjas Erfahrung im magiefreien Kampf, ihre Gerissenheit und ihre Wut stärker als die Magie ihrer Gegnerin.Ich seufze und beschließe, es dabei zu belassen. Welcher würde es nützen, es offiziell zu machen? Wäre Fran nicht meine Freundin, sondern eine Fremde, würde ich die Sache ebenfalls auf sich beruhen lassen. Es gefällt mir nicht, was Fran getan hat, aber ich verstehe es. Außerdem hat sie gegen kein Gesetz verstoßen. Dennoch, was bleibt, ist ein ungutes Gefühl. Aus Wut zu töten, so habe ich meine Freundin noch nie erlebt.Ich stehe auf.»Ich gehe ins Bett. Macht, was ihr wollt, ich brauche meinen Schlaf.«Ich liege noch lange wach, das Bild von der Mondhexe und Frenjas blutigen Händen vor meinen Augen.Der Notruf reißt mich aus dem Schlaf. Seine Magie ist rot und brennt auf meiner Haut. Gleichzeitig klebt sie an mir. Der Sog ist so heftig, dass ich fast aus dem Bett falle. Ich hetze durch die Wohnung, immer der saugenden Magie hinterher. Die Dämmerung ist gerade erst angebrochen; Annaburg liegt still da. Meine Schritte hinterlassen klatschende Geräusche auf dem Kopfsteinpflaster der Oberstadt. Ich renne an geschlossenen Gasthöfen vorbei, überhole ein paar wenige Männer, die zu dieser frühen Stunde schon auf dem magisch betriebenen Gehweg stehen, um die ersten am Brunnen oder Markt zu sein.Häuser verschwimmen vor meiner Sicht. Seitenstechen. Längst folge ich blind der Magie, die an mir zieht, an mir zerrt, sich in meine Haut brennt, sobald ich es wage, einmal stehen zu bleiben und tief Luft zu holen.Ich renne bergab, dann am Stadtkrankenhaus vorbei. Sehe zwei Stadtgardistinnen auf der anderen Straßenseite laufen. Was immer hier los ist, der Notruf ging an beide Garden raus.Langsam mache ich schlapp. Wie viel einfacher wäre es, wir hätten an strategisch wichtigen Stellen Transporthexen positioniert? Das bringt mich auf eine andere Idee.»Hey!«, rufe ich den Stadtgardistinnen zu; dann deute ich auf das Gebäude vor mir. »Mietstall!«Die beiden tauschen einen kurzen Blick, dann überqueren sie die Straße.»Gute Idee!«, keucht die eine, während die andere den Arm ausstreckt und mit einem Magiestoß die Tür öffnet.Drinnen wohlige Wärme und Stallgeruch. Und eine die Hände in die Hüfte stemmende, verschlafen aussehende Frau. Ihre aufgebauschte Empörung entgeht mir ebenso wenig wie der nackte Mann, der schlafend in einer leeren, offenstehenden Box liegt.»Was soll das?«»Stadtgarde. Goldene Garde. Notfall«, bringe ich heraus. Während sich die Seitenstiche zu einer wahren Tortur entwickelt haben, zieht der Notruf weiterhin an mir und raubt mir fast den letzten Atem.»Brauchen Pferde. Später mehr.«Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnen wir jede eine Box. Offenbar haben wir ausnahmsweise mal Glück und die Eigentümerin, oder zumindest Bewacherin des Mietstalls, ist eine hilfsbereite Person. Ein Zischen von ihr und ihre Magie legt unseren Pferden Sattel und Zaumzeug an. Nicht, dass es nicht auch so gegangen wäre, doch ich weiß die Geste sehr zu schätzen. Ich winke der Frau zu - der Notruf zieht jetzt so stark an mir, dass ich keine Luft mehr für Worte habe - steige auf und presche davon. Hufklappern hinter mir verrät mir, dass mir die Kolleginnen von der Stadtgarde folgen.Wir überqueren die Elisabethbrücke, biegen ab Richtung Norden, immer weiter. Ich danke im Stillen der Göttin für meinen Einfall mit den Pferden; zu Fuß wäre das hier die reinste Qual geworden. Nach der Nacht gestern bin ich mir nicht mal sicher, ob ich das geschafft hätte. Von Notrufmagie durch die Straßen geschleift zu werden, ist nichts, worauf eine scharf ist, der auch nur ansatzweise etwas an ihrem Ruf gelegen ist.Nach etwa zwei Kilometern erreichen wir endlich unser Ziel. Ich spüre es, bevor ich es sehe. Höre das Stimmengewirr aus dem Schlaf geschreckter Leute und ein ungesund klingendes Fauchen. Erleichtert lasse ich mich aus dem Sattel gleiten, gebe dem Pferd einen sanften Klaps und renne dann zu dem Haus, zu dem wir gerufen worden sind. Es steht lichterloh in Flammen.Kapitel AchtundzwanzigJetzt, da der Notruf von mir abgefallen ist, kann ich endlich einen Moment durchatmen - bloß, dass mich die beißende Hitze mit einem Schlag trifft und mir erneut den Atem raubt. Das glühende Inferno wird untermalt von Schreien: verängstigte Männer, weinende Kinder, um Rettung bemühte Frauen. Zahlreiche Wasserhexen bemühen sich, den Brand unter Kontrolle zu bekommen. Hier und da sehe ich auch einen Eisstrahl, Sand und Steine. Sie versuchen alles.Andere haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Nachbarinnenhäuser zu beschützen. Etliche scheinen die Dächer und Wände mit einer Art Schleim zu überziehen, um zu verhindern, dass das Feuer überspringt. Stolz wallt in mir auf: Annaburgs Frauen wissen, was zu tun ist!Die beiden Stadtgardistinnen, mit denen ich gekommen bin, sind durch und durch Profis: Ein jede greift das Feuer auf ihre Magieart an. Ich dagegen kann wenig tun: Feuer ist nicht dafür empfänglich, sich unwohl zu fühlen. Also tue ich das Nächstbeste und schnappe mir ein paar herumgaffende Personen.»Jede Frau zieht schonmal so viel Wasser wie möglich aus den Leitungen heran! Die Feuerbekämpferinnen werden bald hier sein und viel Wasser brauchen!«, rufe ich ihnen zu. Sofort setzen sich welche in Bewegung. Leider oder zum Glück habe ich keine Zeit, mich über ihre bisherige Untätigkeit aufzuregen.Stattdessen wende ich mich an die übrig gebliebenen Zuschauerinnen. »Bildet eine Eimerkette zur Lahn!«, brülle ich. »Los, los, los, wir brauchen Wasser!« Die Lahn ist von hier aus weniger als einen Kilometer entfernt. Selbst Fräulein, Männer und Großmütter können sich so nützlich machen.Eine Minute später treffen auch Annaburgs ausgebildete Feuerbekämpferinnen ein. Sie haben ihren Sitz von hier aus betrachtet viel weiter hinten. An diesem Ende von Annaburg kommt es selten zu Bränden, die nicht von dort wohnenden Frauen unter Kontrolle gebracht werden können. Waldbrände irrsinnigen Ausmaßes sind da eine viel größere Gefahr, so dass die Feuerbekämpferinnen ihr Gebäude in Waldesnähe haben. Dass sie trotzdem nur ein, zwei Minuten nach mir eingetroffen sind, verdanken sie der Tatsache, dass ihnen jederzeit eine Transporthexe zur Verfügung steht.Mit grimmigen Gesichtern positionieren sich die Frauen, bilden einen Halbkreis um das krachende und zischende Gebäude. Erleichterung spiegelt sich auf den Mienen der meisten Menschen: Profis sind da und haben ihnen die Verantwortung abgenommen.Unschlüssig stehe ich herum. Mein letztes Feuer ist viele Jahre her. Abgesehen davon, eine Eimerkette zu organisieren, bin ich hier zu nichts nütze und nur hier, weil ich mit Notrufdienst dran war. Dennoch rühre ich mich nicht von der Stelle. Das Feuer fasziniert mich, die schier unbändige Wut, mit der es tobt... Der unfassbare Lärm, der mit einem Hausbrand einhergeht. Die bellenden Rufe der Hexen der Feuerbekämpfung. Das Bersten und Krachen ganzer Balken und Wände. Bei einem solchen Anblick verspüre ich eine Kakophonie an Emotionen. Entsetztes Grauen färbt die Luft, aber auch Faszination, die allzu menschliche Gier, Zeugin eines Dramas zu werden. Angst, Aufregung, Verwirrung. Ohnmacht. Angriffslust und Wut. Nichts davon bereitet mir Übelkeit, im Gegenteil: All diese Emotionen sind unverfälscht und ehrlich. Vielleicht spüren wir tatsächlich erst angesichts einer Katastrophe klar und rein?Die lodernde Wut fesselt meine Aufmerksamkeit so sehr, dass mir fast ein Zupfen meiner Magie entgangen wäre. Ich wende meinen Blick von dem Haus ab und nach innen. Kaum dass sich meine Konzentration auf meine Magie richtet, trifft es mich wie ein Schlag. Etwas fühlt sich so unsagbar falsch an, wie es nur ein Verbrechen gegen die Unversehrtheit der ureigensten Natur sein kann. Schmerz, so grell und verstandraubend, wie ich ihn selten zuvor verspürt habe. Da erleidet eine nicht bloß Schmerzen, da wird eine menschliche Seele in den Wahnsinn getrieben!Das kann nur bedeuten, dass...»Hey!«, brülle ich, so laut ich kann. »Da ist noch eine drin!«Mein Körper setzt sich in Bewegung, ohne dass ich mich aktiv dazu entschlossen hätte. Dennoch gibt es nicht das geringste Zweifeln oder Zögern: Keine wäre in der Lage, einen solchen Schmerz zu ignorieren, sich von einer solchen Qual abzuwenden.Als ich mich dem Haus nähere, trifft mich die Hitze mit der Wucht eines Feuermagieschlages. Ist eine Weile her, dass ich das Missvergnügen hatte, mich mit einer Feuerhexe zu messen. Doch ich weiß, was ich zu tun habe. Hitze weicht eine nicht wie im herkömmlichen Sinne aus. Sie kann eine nur besiegen, wenn eine sich auf sie einlässt. Daher versuche ich erst gar nicht, mich äußerlich davor zu schützen. Stattdessen wende ich einen kleinen Trick an, den mir eine erfahrene Gardistin vor vielen Jahren gezeigt hat: Ich ziehe meine Magie komplett in mich hinein, verteile sie und schiebe sie wieder so weit nach außen, dass sie knapp unter meiner Haut liegt. Dann ziehe ich sie straff. Noch fester, bis sie protestierend aufkreischt und fast zu zerreißen droht. Erst dann bin ich zufrieden und halte sie nur noch fest. Meine Haut wird von der Hitze, die das Feuer verströmt, aufgeheizt, doch knapp unter der äußersten Schicht fungiert meine Magie wie eine glatte Fläche, welche die Hitze reflektiert. Nichts gelangt in mein Inneres. Natürlich werde ich mir zahlreiche Brandblasen zuziehen und einen neuen Haarschnitt brauchen, aber wenn ich so ein Leben retten kann, ist es das wert.Der Schmerz der Unbekannten erreicht einen neuen Höhepunkt, der mich fast zum Schwanken bringt. Nur mit eisernster Disziplin gelingt es mir, meine magische Schutzschicht weiter aufrecht zu erhalten. Verflixt, ich muss mich mehr anstrengen! Das wird ja nicht besser, sondern eher noch viel schlimmer werden.Keine Zeit, sich in Ängste hineinzusteigern! Ich gehe weiter auf das brennende Gebäude zu. Schnappe mir im Vorübergehen eine Wasserhexe, die emsig mit der Löschung beschäftigt ist.»Komm mit«, brülle ich ihr ins Ohr. »Da ist noch eine drin! Gib mir Deckung!«Ich kann nicht hören, ob die Frau antwortet. Doch da sie weiterhin neben mir hereilt, gehe ich davon aus, dass sie zugestimmt hat. Möglicherweise weiß sie, welche ich bin, meine Uniform spricht für sich. Ich dagegen habe keine Zeit, auf etwas so Irrelevantes wie ihr Gesicht zu achten.Der Lärm ist fast unerträglich. Seltsam, dass ein Feuer, das eine gemeinhin mit ruhiger Wärme und Behaglichkeit verbindet, einen solchen, wütenden Krach verursacht. Immer wieder schießen einzelne Flammen wie zornige Finger in die Höhe. Dachziegel bersten, Balken ächzen, der Geruch mutet zwischendurch wie giftig an. Im Grunde mag ich Feuer. Es reinigt, vernichtet Unrichtiges und macht es beinahe gleich. Doch in diesem Augenblick greift es ein menschliches Wesen an. Tötet nicht leise und rasch, sondern lässt es leiden. Ich kann nur hoffen, dass es sich bei der Person um eine Frau handelt, die sich zumindest halbwegs zu schützen weiß. Wie könnte ein Mensch ohne Magie ein solches Inferno überleben?Noch ehe wir den Eingang erreichen, legt sich eine Blase über meinen Mund. Wenn das hier vorbei ist, werde ich mich dafür zu bedanken haben, wenn ich auch im Moment nicht weiß, welche Frau von außen meinen Atemschutz aufrechterhält.Ich schaue die Wasserhexe an. Sie nickt mir zu und wir betreten das brennende Gebäude.Meine Hände schnellen an meine Ohren. Der Lärm ist unvorstellbar. Dennoch lasse ich die Arme wieder sinken, strecke sie nach vorn aus, bereit, jederzeit einen auf uns zu fallen drohenden Balken wegzuschleudern. Hitze prallt gegen mich, mein magischer Schild wird im wahrsten Sinne des Wortes auf die Zerreißprobe gestellt. Ich spüre feinste Tropfen auf der Haut und hoffe nur, dass die Wasserhexe weiß, was sie tut. Wenn sie versagt, bin ich trotz Schutzschild so gut wie tot.Vor meinen Augen ist nur flammender Irrsinn. So werde ich die Person, die noch hier drin ist, nie finden! Ich muss mich von meiner Magie leiten lassen. Dazu muss ich eine winzige Lücke schaffen. Ich habe keine Zeit, lange abzuwägen. Ich entscheide mich, das Schutzschild am linken kleinen Finger zu öffnen. Schicke mehr von meiner Magie dorthin, bereit, den Schmerz zu finden. Während ich Magie in den Finger fließen lasse, ziehe ich die der Abwehrfläche auseinander, an einer winzigen Stelle bloß. Sofort schießt dort ein heißer Schmerz hinein - das Feuer ist hungrig! Gleichzeitig erreicht mich jetzt wieder der andere Schmerz, die vollkommenen Qualen eines Menschen, dessen Haut, Haar und Fleisch in diesem Moment so schrecklich zerstört werden. Heiße Luft verätzt Lungen, die Augen brennen und das Gehirn ist wie von Sinnen ob des gnadenlosen Leidens.Blind stolpere ich vorwärts, geleitet durch meine Magie. Weiche Flammen und herabfallenden Gegenständen aus, als wären sie nichts weiter als lästige Belanglosigkeiten. Vertraue blind auf die Frau, die hinter mir geht, und die meine obere Hautschicht daran hindert zu verbrennen. Vertraue blind auf eine Frau, von der ich nicht einmal weiß, wo sie ist, von der ich nicht weiß, welche sie ist, die aber unsere Atemblasen aufrechterhält, solange wir hier drin sind. Ich baue nicht auf diese Menschen, weil mein Glaube so fest ist, sondern weil ich keine andere Wahl habe. Ohne dieses Vertrauen, ohne diese Frauen wäre ich verloren in dieser rotglühenden Hölle.Irgendwann ist er da, der Umriss, der an einen Menschen erinnert. Sofort schotte ich mich wieder magisch ab. Der Schmerz verschwindet aus meiner Wahrnehmung; ich bin so erleichtert, dass ich am liebsten geweint hätte.Ich schnappe mir die zusammengesackte Person. Spüre, dass sie noch lebt, aber weiß nicht, für wie lange. Ob männlich oder weiblich, weiß ich nicht, nur, dass es der Größe nach ein erwachsener Mensch ist.Ein Balken kracht hinunter. Ich sehe es, kann aber nicht ausweichen. Er trifft mich an der Schulter. Ich stürze zu Boden. Sofort sind Hände da, die mir aufhelfen. Ich taste nach der Person. Noch da, noch lebendig, besinnungslos, der Göttin sei Dank!Meine Schulter brennt wie Feuer. Der Schmerz durchbricht den letzten Rest meiner Konzentration. Meine Verteidigung bricht. Ich höre mich schreien, eine zieht und zerrt an mir, ich darf nicht loslassen, das Feuer ist auf mir und in mir. Unmöglich, es hier herauszuschaffen. Überall Flammen, Lärm und Wut. Das ist das Ende! Meine Füße heben sich vom Boden. Plötzlich Stille.Nein, keine Stille. Vielmehr ein Fehlen des fauchenden Lärms. Er ist noch da, doch in die Ferne gerückt. Ich schwebe davon und das Licht ist jetzt ganz sanft. Die Flammen werden kleiner. Ich werde zu Boden gelassen, sanft, dennoch schreie ich auf. Mein Finger!Dann süße Stille. Etwas Kühles hüllt mich ein und murmelnde Stimmen wärmen mein Herz. Ob tot oder in Sicherheit, mir ist beiderlei recht. Ich schließe die Augen - gute Nacht!Kapitel NeunundzwanzigHeidrun hat die Arme vor der Brust verschränkt und schaut mich finster an. Das allein ist noch kein Grund zur Beunruhigung - Heidrun zieht fast immer eine düstere Miene. Was ihrer Schönheit keinerlei Abbruch tut. Das Leben ist nicht fair.»Du bist also allein da reingegangen!«, zischt sie.Ich war nicht allein, doch ich hüte mich, sie zu unterbrechen. Die Pausen, die sie macht, dienen nur dem Versuch, ihren Zorn im Zaum zu halten.»Du hast dich nicht einmal vergewissert, dass dir eine eine Atemblase anlegt. Nein, du nicht! Du bist einfach so da hinein marschiert! Weil du ja unbedingt die Heldin spielen musstest!« Ihr schneidender Tonfall ist in beißenden Sarkasmus übergegangen. »Ist ja nicht so, dass Annaburg über eine hervorragende Feuerabwehr verfügt. Die bereits anwesend war. Nein, weit und breit keine Hilfe zu sehen! Klar, dass du dann persönlich rein musstest! Du, die große Magret Beatesdother, ausgebildete Feuerbekämpferin!«Nun muss ich aber doch etwas einwenden.»Ich war die Einzige, die die Person da drin spüren konnte! Die anderen hatten doch keine Ahnung, dass-«»Ach ja? Nun, hast du mal daran gedacht, ihnen das einfach zu sagen? Aber nein, warte«, Heidrun hebt die Hände und hält die Handflächen nach vorn, »dann hättest du ja keinen großen Auftritt hinlegen können.«Das ist so unfair, dass mir Tränen in die Augen schießen. Schnell blinzele ich sie weg - ich bin doch kein kleiner Junge!»Aber so hast du wieder mal alle gerettet. Meinen herzlichen Glückwunsch!«Ich schaue zur Seite.»Ich weiß nicht, warum du so sauer bist.«»Ach nein?«, brüllt Heidrun. »Vielleicht weil du da drin verdammt nochmal dein Leben aufs Spiel gesetzt hast, als wärst du eine einfache Gardistin und nicht meine Stellvertreterin. Weil es weder deine Aufgabe ist, dich in ein brennendes Gebäude zu begeben, noch du die nötige Qualifikation dafür hast?«»Ich bin eine Gardistin!« Was selbstsicher gemeint war, klingt selbst in meinen Ohren kläglich.»Du hast dich heute unverantwortlich verhalten, Magret. Kein Ausreden mehr! Das wird ein Nachspiel haben. Du hast mich heute sehr enttäuscht.«Das Schlimmste ist, dass sie recht hat. Ich hätte da nicht hinein gehen dürfen. Vielleicht war ich dem Tod noch nie so nahe wie heute. Obwohl Heidrun sicherlich dafür gesorgt hat, dass mich die besten Ärztinnen der Stadt versorgen, brennt meine Kehle noch immer wie Feuer. Der Kopfschmerz ist lächerlich im Vergleich zu dem Jucken meiner Haut. Heilmagie hat beschleunigt, was mein Körper - sofern stark genug - über die nächsten Wochen hin in Angriff genommen hätte: Hautschichten, die nicht mehr zu retten waren, wurden abgestoßen und werden nun erneuert. Die Ärztin hat mich eindringlich davor gewarnt, mich zu kratzen und sich letztlich nicht anders zu helfen gewusst, als eine extra feste Bandage anzulegen, und mir Hände und Magie fesseln zu lassen. Das Einzige, das demütigender ist, als komplett wehrlos aufzuwachen, ist, wie sehr sich eine winden kann in der winzigen Hoffnung, dadurch zumindest eine juckende Stelle zum Schweigen zu bringen. Nie hätte ich gedacht, dass eine simple körperliche Unannehmlichkeit stärker als mein Schamgefühl und sogar stärker noch als mein schlechtes Gewissen sein könnte! Sogar die wenigen mir verbliebenen Schmerzen stehen hinter dem höllischen Juckreiz zurück.»Es tut mir leid, Heidrun«, bringe ich schließlich heraus. »Könntest du mir einen Gefallen tun und mich mal am Arm kratzen?«Sie starrt mich an, als hätte ich angesichts des Spiegelbilds des Monds in einem See gefragt, wie der große Käse dort hineingefallen sei.»Was?«»Schon gut. Und ja, du hast ja recht.« Ich seufze. »Aber glaub mir: Das hier ist Strafe genug!«Ihre Miene bleibt finster.Ich weiß, ich habe mir ordentlich was geleistet, aber ich weiß auch, dass Heidrun mich mag.»Und sieh es doch mal so: Wenigstens kannst du jetzt nicht mehr behaupten, ich würde jeder, die gleich die ganze Hand will, den kleinen Finger reichen!«Ich wackele vieldeutig mit meiner linken Hand. Heidruns Augenbrauen wandern nach oben. Ihre Mundwinkel zucken. Ich wackele noch mehr, diesmal nur mit dem, was unter dem Verband von meinem kleinen Finger übriggeblieben ist. Nun kräuseln sich ihre Lippen.»Sieh zu, dass du wieder auf die Beine kommst.«Sie dreht sich um und geht. Ich würde zehn Taler setzen, dass sie dabei breit grinst.Der Heilungsprozess, wenn auch magisch unterstützt, ist langwierig und ekelig. Alle paar Stunden kommt eine Ärztin und lässt Heilmagie durch meinen Körper fließen. Am liebsten würde ich sie die ganze Zeit bei mir behalten. Es ist so unsagbar wohltuend, wenn die fremde Magie durch mich fließt, Schmerz und Juckreiz wegspült und sich alles für einen Augenblick normal anfühlt. Mein Armband kommt mir in den Sinn. Was, wenn eine ihre Heilmagie in den Steinen speichern würde? Eine könnte die ganze Zeit Heilmagie mit sich herumtragen und im Notfall einsetzen. Auf der Straße, wenn wir eine gefährliche Mörderin jagen oder bei einem Streit dazwischen gehen. Die Garden, die unsere Grenzen sichern - wie viele Leben könnten so gerettet werden?Zahllose Möglichkeiten strömen auf mich ein, wie eine mit Hilfe der Magiespeicherung Gutes tun könnte. Und dennoch... Es ist nicht richtig. Wider der Natur und allem, wofür die Große Göttin steht. Wie können wir uns einbilden, das Recht zu haben, gegen diese Ordnung zu handeln, nur, damit wir es bequemer haben?Gut, ein Leben zu retten, hat nichts damit zu tun. Da kann jede Sekunde entscheidend sein. Menschen sterben, so ist das nun mal. Ich selbst habe mich in tödliche Gefahr begeben, um ein anderes Leben zu retten. Hätte ich mich anders verhalten, hätte ich Heilmagie dabeigehabt? Sorgloser? Wohl kaum. Mutiger? Vielleicht. Oder wäre es dann nicht im Gegenteil weniger mutig, in ein brennendes Gebäude zu stürmen? Auf jeden Fall weniger leichtsinnig, so viel steht fest.Doch nein. Die Entscheidung, ihr Leben immer wieder für die Sicherheit anderer Menschen, hilfloser Männer und Kinder, aufs Spiel zu setzen, trifft eine jede für sich allein. Unabhängig von Magieart und -stärke. Wir sind Gardistinnen. Jeder ist klar, dass es ein gefährliches und womöglich kürzeres Leben bedeutet. Wir treffen die Entscheidung bei vollem Bewusstsein. Nicht alle kommen damit zurecht, vor allem solche, die ein Kind in die Welt setzen. Es gibt sie, einige wenige, die den Dienst quittieren. Die meisten bleiben. Weil wir sind, welche wir sind, wie wir sind. Wir sind mehr als die Stärke unserer Magie. Wir sind Tapferkeit und Zusammenhalt, wir sind Ehre und Gerechtigkeit. Wir sorgen dafür, dass die Ordnung aufrecht erhalten bleibt. Dass ein jede in dem Bewusstsein und Vertrauen leben kann, dass wir sie beschützen und dass kein Unrecht ungesühnt bleibt. Das ist die Art, wie wir im Goldenen Reich leben.All das aufzugeben und außer Kraft zu setzen, um ein paar Leben zu retten, ist, so grausam das auch klingt, ein zu hoher Preis. Ordnung ist Sicherheit. Langfristig betrachtet würde uns eine Verbreitung der Magiespeichersteine Chaos und Unsicherheit bringen, Angst, unzählige Verbrechen, die wir nie würden aufklären können, und skrupellose Frauen, die willkürlich unsagbare Mengen an Macht anhäufen.Nein. Das werde ich mit allem, was ich habe zu verhindern wissen.»Das wird ja langsam zur Gewohnheit«, sagt Fran, kaum, dass sie die Nische mit meinem Bett betritt.»Was denn, herzallerliebste Mitbewohnerin?«Frenja schenkt mir ein grimmiges Lächeln.»Dass ich hier sitze und darauf warte, wann du aus dem Krankenhaus entlassen wirst.«Ich zucke mit den Schultern.»Vielleicht hättest du dir eine Bäckerin als Mitbewohnerin suchen sollen. Oder eine Schmiedin oder sowas.«»Eine Bäckerin, ha, das wäre es doch!« Frenja schnalzt mit der Zunge. »Am besten so eine dralle mit süßen Grübchen. Gut in Küche und Bett, ja, das würde mir gefallen!«Göttin, ist das gut, wieder zuhause zu sein!»Wie geht es Antje? Hat sie sich inzwischen etwas erholt?«»Ja, ach.«Immer, wenn Frenja mir ausweicht, weiß ich, dass da etwas im Busch ist. »Fran?«»Sie ist wieder voll auf Traumbringer. Dabei war sie auf so einem guten Weg!«Antje war auf vielem, aber auf keinem guten Weg. Das mit den Mondhexen war kein Zufall gewesen. Frans Schwester hielt aktiv Ausschau nach allem, von dem sie meinte, dass es ihren Schmerz lindert. Sie tat alles bis auf das Eine, das ihr wirklich weiterhelfen könnte: der Besuch bei einer Seelenärztin.Doch ich hüte mich, etwas zu sagen.Trauer durchfährt mich. Es gab einmal eine Zeit, zu der Frenja und ich uns alles sagen konnten. Da es nicht nötig war, dass ich meine Zunge im Zaum halte. Noch vor wenigen Monaten wäre es mir befremdlich vorgekommen, mich vor Frenja zu hüten. Jetzt habe ich sogar Angst, ihr Fragen zu stellen. Wie zum Beispiel, was mit der Mondhexe geschehen ist. Feige.Das Problem ist, dass ich die Antwort zu kennen glaube. Glauben heißt nicht wissen und solange ich es nicht weiß...Feige.»Was seufzt du so, Magret?«Dass ich geseufzt habe, ist mir gar nicht aufgefallen.»Ach nichts. Und jetzt sag mir bitte, dass wir etwas zu Essen im Haus haben!«Später ziehe ich mich in mein Zimmer zurück. Wie immer, wenn wir einen langwierigen Fall haben, habe ich mir die Unterlagen duplizieren lassen und die Kopien dann mit nach Hause genommen.So viele Tote. So viele Fragen.Ich beschließe, mir alles noch einmal in Ruhe und der Reihe nach vorzunehmen. Keine Bewertungen, nur die Fakten.Erster Toter: Maik Annabellsmann, alles in seinem Körper wurde sozusagen durchgegart.Zweiter Toter: Wolf Sabinesmann und sein geplatztes Herz.Dritter Toter: Sebastian, Stiche aus Eismagie.Vierter Toter: Martin, der erstickt wurde.Fünfter Toter: Pedro mit Haaren in der Lunge.Sechster Toter: der erschlagene Lukas Abbigailsmann.Siebter Beinahe-Toter: Vlademir Valentinajewitsch, der nach dem Brand, aus dem ich ihn rettete, noch immer bewusstlos ist und von dem die Ärztinnen nicht wissen, ob er durchkommen wird.Kommen wir zurück zu der Idee der Magie, die vorgibt, eine andere Magie zu sein. Angenommen, keine der Ehefrauen oder Chefinnen ist eine Mörderin. Vieles spricht dafür. Aber das bedeutet im Grunde doch nur, dass es andere Frauen gibt, die die Männer getötet haben. Lediglich das Motiv verschiebt und erweitert sich.Worum geht es den Mörderinnen? Ist ihr oberstes Ziel, die Männer auszuschalten? Das kann ich mir kaum vorstellen. Bei den Toten handelte es sich samt und sonders um etwas aufmüpfige, aber im Grunde harmlose Hausmänner.Ging es ihnen um das Töten an sich? Verspüren die Mörderinnen Freude dabei?Möglich, aber auch diese Motivation will mir nicht so recht zur Vorgehensweise passen. Es schließt sich doch kein geheimer Club aus Frauen zusammen, die Mordlust als Gemeinsamkeit entdeckt haben und dann jede für sich nach einem zuvor festgelegten Modus Operandi zu Werke gehen. Nein, hier steckt etwas anderes dahinter!Bleiben die Frauen. Will es eine einer Frau heimzahlen, fügt sie deren Familie Leid zu. Eine unschöne, aber simple Sache. Es ist logisch.Dumm nur, dass alle Frauen, die bisher einen Mann in ihrem näheren Umfeld verloren haben, nicht wirklich etwas gemeinsam haben, geschweige denn miteinander verkehren. Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass einzelne Frauen anderen Frauen schaden, ohne dass es auch nur den kleinsten Zusammenhang gibt.Die Konsequenz daraus ist, dass es jetzt zwei Möglichkeiten gibt: Erstens könnte es etwas mit der Verbindung der Männer untereinander zu tun haben. Zweitens - und diese Variante ist mehr als unwahrscheinlich - müssen wir langsam in Betracht ziehen, dass es sich um eine Einzeltäterin handeln könnte, die aufgrund ihrer Magie in der Lage ist, andere Magien zu imitieren. Ich kann mir nur beim besten Willen nicht vorstellen, wie das gehen soll.Die Erkenntnis bohrt sich mit der glühenden Hitze eines Feuerstrahls in meinen Nacken.Verflixt! Verdammt! Bei den Sieben Finsterhexen, ich war so blind! Da rätsele ich wochenlang, wie so unterschiedliche Morde zusammenhängen, dabei habe ich die Lösung doch direkt vor Augen. Es ist so einfach, wieso bin ich nicht schon viel früher darauf gekommen?Es ist alles da!Eine braucht nur ein bisschen Hilfe, einen kleinen Gefallen hier und da. Verschwiegenheit und ein wenig Magie. Eingespeist in speichernde Steine. Und schon kann eine töten, welche und wie sie will.Kapitel DreissigWir müssen uns noch mal die Männer vorknöpfen!«Auf meine Ansage, kaum dass ich wieder das Gardegebäude betreten hatte, hatten meine Frauen prompt reagiert. Und mir besagte Männer herangeschafft: alle, die damals bei dem unschönen Vorfall mit Dennis Margotsmann dabei waren. Hinzu weitere Mitglieder des Freundinnenkreises.»Uff. Also, das sind Franko Cordes, Johann Milasmann, Konrad Julesmann, Dennis Margotsmann selbst-«»Ist ja gut, Diana, du musst mir jetzt nicht alle Namen aufzählen!«Sie alle zu vernehmen, wird allein schon eine Herausforderung.»Wie wollen wir es machen?«»Wir sortieren die Jungs alphabetisch nach Nachnamen und teilen sie dann auf. Diana, du fängst vorne an, Kathi startet sagen wir beim Buchstaben L und Maike arbeitet sich von hinten nach vorn. Maike, du führst zusätzlich eine Liste, in der wir die Ergebnisse grob festhalten können, um sie besser miteinander vergleichen zu können.«Diana reibt sich das Kinn. »Woran hast du gedacht?«»Keine Ahnung. Aber etwas muss es ja geben, was die Männer gemeinsam haben! Familienstand, außerhäusliche Tätigkeit, falls vorhanden. Wie sind sie damals zusammengekommen? Wie kam es dazu, dass sie ausgerechnet an dem einen Brunnen Wasser geholt haben? Nicht für alle, aber für einige ist das ein Umweg. Wie alt sind sie, haben sie Kinder? Falls nein, fragt, ob sie keine wollten. Wie sind ihre Ansichten, so sie denn überhaupt welche haben? Womit beschäftigen sie sich in ihrer Freizeit? Haben sie ihren Haushalt gut im Griff?« Das klingt selbst in meinen Ohren dünn. Doch was um der Göttin Willen sollten ganz normale Hausmänner schon groß zu erzählen haben?Ich mustere die Namen auf der Liste. Irgendwo dort, zwischen all diesen Männern und in all den Leben, versteckt sich die Information, die wir benötigen. Es nützt nichts. Ich atme tief durch.»Macht ihnen Angst!«, sage ich. Meine Magie weist mich netterweise darauf hin, dass das nicht in Ordnung ist. Doch was sollen wir sonst machen? Das ist die einzige Spur, die wir haben. Oder fast. Und da draußen läuft noch immer mindestens eine Mörderin herum. »Macht ihnen klar, dass jeder von ihnen das nächste Opfer sein könnte. Befragt sie eingehend zu ihren Verhältnissen zu ihren Ehefrauen oder ihrem nächsten Vormund. Hakt nach, wenn ihr merkt, dass es ihnen unangenehm wird.« Die Frauen vor mir strömen pures Unbehagen aus. Kein Wunder, welcher gefällt schon die Idee, einem Mann zuzusetzen? »Es muss sein! Haltet euch daran fest, dass es die Wahrheit ist. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir diese Männer nur beschützen, indem wir die Mörderin oder die Mörderinnen dingfest machen, bevor sie ein weiteres Opfer finden.«Diana räuspert sich. »Alles klar, Dritte. Aber, äh... Du befragst keinen?«»Nein. Ich gehe einer anderen Spur nach.«Ich ignoriere die fragenden Blicke meiner Frauen. Als Heidruns Stellvertreterin brauche ich mich ihnen gegenüber nicht zu rechtfertigen. Dennoch lege ich für gewöhnlich großen Wert darauf, dass meine Leute wissen, was ich aus welchen Beweggründen mache. Dass ich sie heute im Dunklen lasse, gefällt mir ebenso wenig wie ihnen. Aber nun, es muss sein.»So. Jede weiß, was sie zu tun hat. Ab an die Arbeit. Denkt daran, eure Ergebnisse in die Tabelle einzutragen. Wir treffen uns später wieder und besprechen alles. Sollte ich früh genug wieder hier sein, schaue ich bei euren Verhören mit rein.«Ich scheuche die drei Frauen fort.Kathi hält allerdings inne und dreht sich dann zu mir um.»Dritte, ich wollte hier sein, wenn du aus dem Krankenhaus kommst, aber...«»Aber?«»Nun ja, ich habe eigentlich seit heute meine magiefreien Tage...«Die Formulierung bringt mich zum Schmunzeln.»Eigentlich? Hast du oder hast du nicht?«An ihrer verdrießlichen Miene kann ich ablesen, dass dem so ist.»Soll ich trotzdem die Verhöre führen?«»Wenn es dich nicht stört.« Wir tauschen einen wissenden Blick. Eine Gardistin hat während der Woche im Monat, während der sich ihre Magie erneuert und sie so schwach ist wie ein Mann, frei und bleibt normalerweise zuhause. Kathi hängt sich dieses Mal voll rein.Kurz erwäge ich, sie dennoch nach Hause zu schicken. Im Außeneinsatz kann ich sie in dem Zustand nicht gebrauchen. Jetzt allerdings eine andere in den Fall einzuführen, würde kostbare Zeit kosten. Verhöre kann Kathi auf jeden Fall führen. Die Männer ahnen ja nichts davon, dass sie ihr körperlich ausnahmsweise überlegen sind. Ich ringe mich zu einer Entscheidung durch.»Na schön. Aber von allem anderen hältst du dich fern, verstanden?«Kathi nickt. »Verstanden.«Sehr gut. Oder auch nicht. Es gab mal eine Zeit, da ich immer gewusst habe, wann mir welche Mitarbeiterin zur Verfügung steht. Wann eine ihre magiefreie Zeit hat, verschiebt sich ab und an um ein paar Tage. Auch habe ich schon erlebt, dass Frauen, die unter enormem Druck standen, einige Wochen ganz ohne Magieerneuerung ausgekommen sind. Das sind aber Ausnahmen. Fakt ist, es wird endlich Zeit, meine Abteilung und mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Zu meiner alten Form zurückzufinden.Nur - möchte ich das überhaupt?Kapitel 31EinundDreissigGestern habe ich noch bis tief in die Nacht über dem Fall gebrütet. Meine innere Ahnung hat sich immer mehr verstärkt. Es kann sein, dass an der Sache mit den Männern etwas dran ist. Viel wahrscheinlicher aber ist es, dass ich mit meiner anderen Vermutung richtig liege.Nur mit welcher soll ich meinen Verdacht teilen? Die Einzigen, die Bescheid wissen, sind Frenja und die Goldene Frau. Zumindest offiziell fällt selbst Heidrun weg, sollte es der Goldenen nicht in den Sinn kommen, sie einzuweihen. Nein, das muss ich direkt mit ihr besprechen.»Gehe nie mit einem Problem zu deiner Vorgesetzten, für das du noch keine Lösung hast!« - diesen weisen Rat hat mir einst meine Tante gegeben. Wann immer ich konnte, habe ich mich daran gehalten und im selben Atemzug mit dem Problem mindestens einen Lösungsansatz genannt. Heute nicht. Sollte sich meine Vermutung bewahrheiten, habe ich nicht die geringste Ahnung, wie wir diese gefährliche Serienkillerin ausfindig machen.Müde reibe ich mein Gesicht. Karrieretechnisch wäre es vernünftiger, ich würde die Sache noch einmal in Ruhe überdenken. Mir etwas einfallen lassen. Mich erst an die Goldene Frau wenden, wenn ich konkrete Ideen habe. Doch das würde die Gardistin in mir niemals erlauben: Je schneller wir dem Rätsel auf die Spur kommen, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir Leben retten. Nichts ist wichtiger, nichts zählt mehr.Die wachehabende Gardistin gibt mir ein Zeichen, einzutreten. Wie immer ist mir ein bisschen mulmig, vor die höchste und mächtigste Hexe des Reiches zu treten. Ich bewundere die Goldene Frau maßlos. Wie kann ich da zu ihr sprechen, als wären wir Gleichgestellte?Und doch ist sie die Einzige, an die ich mich in dieser heiklen Lage wenden kann.Wort- und bewegungslos hört sie an, was ich zu sagen habe. Als ich verstumme, bedeutet sie mir, mich auf einen von zwei an einem kleinen Tisch stehenden Stühle zu setzen. Sie selbst steht auf, durchschreitet den Raum und nimmt mir gegenüber Platz. Ich halte den Atem an.»So. Du denkst also, es gibt eine weitere Person, die um das Geheimnis der magiespeichernden Steine weiß. Diese Frau hat wiederum andere Frauen dazu gebracht, ihre Magien in einen solchen Stein einzuspeisen und benutzt sie nun, um unschuldige Männer in Annaburg zu töten.«Mit wenigen Worten fasst sie zusammen, was ich ihr minutenlang zu erklären versucht habe.»Ja.«»Bei den Morden bedient sie sich dabei stets einer Magie, die der Magie der Gattin oder Chefin des Toten ähnlich ist.«»Genau. So lautet zumindest meine Theorie.«Die Goldene Frau nickt.»Wieso?«Nun kommt der ungemütliche Teil. Fast bin ich froh, dass meine Magie gefesselt ist.»Das weiß ich nicht.«»Ihr habt keinerlei Motiv herausfinden können? In all der Zeit?« Die Stimme der Goldenen klingt seltsam emotionslos. Dennoch gehe ich keine Sekunde davon aus, dass sie das Ganze kalt lässt.»Nein. Alles, was wir haben, sind quasi Gründe, aus denen die Morde nicht verübt worden sind.«»Die wären?«»Nun, da hätten wir einmal, dass keine der Frauen besonders viel mit den anderen zu tun hatte. Keine hat oder hatte so etwas wie eine Erzfeindin oder eine, deren negative Gefühle über gesundes Konkurrenzdenken hinaus geht.«Die Goldene Frau runzelt die Stirn. »Die Stellungen?«Ich winke ab.»Bei der Ärztin würde es sich vielleicht lohnen, ihr ihren Job streitig zu machen. Aber in der Praxis ist Heilmagie viel zu begehrt. Welche Heilmagie hat, bekommt immer eine gute Stelle. Nein, da lohnt sich so ein Aufwand nicht. Die anderen haben normale Berufe, mal besser, mal schlechter. Aber nichts, was einen Mord lohnen würde. Keine im Umfeld der geschädigten Frauen würde einen größeren Vorteil daraus ziehen, sie hinter Gitter zu bringen.«»Sollte sich deine Theorie über eine Einzeltäterin als wahr erweisen, so müsste sie auch andere ins Vertrauen gezogen haben.«Die Stimme der Goldenen Frau klingt wie immer ruhig, fast stoisch. Als stünden wir nicht vor dem Ende der uns bekannten Welt.Ich bemerke erst, dass ich mein Armband reibe, als ich dem Blick der Goldenen Frau bemerke. Schnell lasse ich die Hand sinken.»Ja, das denke ich auch. Sie muss ja Frauen gefunden haben, die ihre Magie in den Speicherstein eingespeist haben.«»Ich verstehe.« Die Goldene Frau schaut an mir vorbei ins Leere, wirkt aber dennoch hochkonzentriert. »Mit wie vielen unterschiedlichen Magien wurden die Männer bislang getötet?«Ich zähle rasch nach.»Sechs beziehungsweise sieben.«»Das bedeutet, dass außer dir, Frenja und mir mindestens sechs weitere Frauen Kenntnis darüber erlangt haben, dass sich Magie speichern lässt.«Sie dreht den Kopf und schaut mich direkt an, dabei bohren sich ihre Augen tief in meine.Ich muss sämtliche Impulse unterdrücken, nicht davor zurückzuweichen. Sie will mich prüfen und das ist ihr gutes Recht. Hätten wir das Geheimnis meines Armbandes früher gelüftet, würde sie Frenja oder mich sogar verdächtigen, die Kunde der Magiespeicherung weiter erzählt zu haben.Endlich schweift ihr Blick wieder ab. Sie seufzt, steht auf und geht zum Fenster.»Irgendwo dort draußen«, murmelt sie. Dann dreht sie sich ruckartig um. »Finde mir diese Frau, Magret Beatesdother! Finde sie und wenn du sie dafür umbringen musst!«»Ja, Goldene.«»Wir können nicht zulassen, dass eine da draußen herumrennt und unsere Männer tötet. Genau so wenig können wir es zulassen, dass sie unser Geheimnis offenbart.«»Ja, Goldene.«»Bring sie mir, Magret«, stößt sie hervor, »bring sie mir alle!«Ich nicke.Die Goldene dreht sich wieder zum Fenster. Obwohl sie mich nicht sehen kann, verbeuge ich mich und verlasse den Raum.Es gibt Tage, an denen wünschte ich, der Weg vom Goldenen Schloss zum Gardegebäude würde nicht bloß wenige Meter betragen. Ich brauche Zeit, um nachzudenken. Wie um Göttins Willen soll ich diese Mörderin finden? Normalerweise klären wir solche Verbrechen schnell auf: Welche das Motiv findet, findet in der Regel die Täterin. Nur dieses Mal ist alles wie verdreht. Nichts passt zusammen und immer, wenn ich denke, einen Schritt weitergekommen zu sein, stehe ich wieder vor einer Mauer. Vielleicht hat ja einer der Männer etwas zu berichten. Das Muster, das wir in den Morden zu sehen glauben, ist zu konstant, um es als einen Zufall abzutun. Gut möglich also, dass wir heute mit demjenigen sprechen, den die Mörderin bereits als ihr nächstes Opfer auserkoren hat. Diese Morde - sie haben etwas Persönliches an sich. Auch wenn wir das Motiv nicht kennen, so wissen wir doch, dass die Mörderin immer sehr nah an ihre Opfer herangekommen ist. Es besteht also die winzige Chance, dass die Männer ihre Mörderin kannten und somit auch, dass einer der Männer, die gerade bei uns sind, die Mörderin kennt.Kapitel ZweiunddreissigZurück im Gardegebäude schaue ich als erstes nach der Liste, die Maike anfertigen sollte. Sie hat dafür gleich mehrere Zettel an die Nordwand gepinnt, unsere bevorzugte Stelle für derlei. Wenn wir gerade an keinem großen Fall arbeiten, ist hier der Ort, an dem wir Kleinkram wie Speisekarten der Annaburger Gaststätten und Weiteres aufbewahren.Maike hat links fein säuberlich die Namen der Männer notiert. Es folgen Spalten für Ehefrau beziehungsweise weiblichen Vormund, ihren Beruf und ihre Magie. Dann das Alter des Mannes und Angaben zu einer potentiellen außerhäuslichen Tätigkeit. Ich erwische mich dabei, wie ich den Kopf schüttele. Wieso können die Männer nicht da bleiben, wo sie hingehören? So ein Haushalt führt sich schließlich nicht von allein!Drei weitere Spalten sind noch unbeschriftet. So können die Frauen alle Auffälligkeiten eintragen, sehr schön.Bislang ist in noch keiner Zeile etwas eingetragen, meine Frauen befinden sich also noch in ihren ersten Verhören.Ich überfliege die Liste der Namen. Bei einem werde ich stutzig. Lars Marburger. Ist das nicht...?Natürlich. Ich unterdrücke ein Stöhnen. Wieso muss von all den Männern Annaburgs ausgerechnet einer in den Fall verwickelt sein, mit dem ich etwas hatte?Vermutlich eine reine Frage der Wahrscheinlichkeit, würde Frenja sagen. Ob ich Lars selbst übernehmen soll? Besser wäre es wohl; er weiß schließlich, wer ich bin. Nicht, dass er gegenüber einer der anderen eine dumme Bemerkung fallen lässt. Männer sind geradezu süchtig nach Klatsch und Tratsch und damit, sich mit Neuigkeiten wichtig zu tun. Was wäre pikanter als von einem Abenteuer mit einer hochstehenden Goldenen Gardistin zu erzählen?Auch hier hat Lars als Nachnamen wieder »von Marburger« angegeben. Daher fällt er in Kathis Zuständigkeit, welche wiederum, sofern sie der Reihe nach vorgeht, derzeit mit Herrn Larasmann beschäftigt ist.»Hey!«, rufe ich zu Lydia hinüber. »Wo sind die Männer, die zur Befragung hergebracht worden sind?«»Oben!«»Echt jetzt?«Sie zuckt mit den Schultern.»Wir hatten hier unten keinen Platz für so viele Kerle. Da dachten wir, die Damen von der persönlichen Garde würden sich über ein bisschen männliche Gesellschaft freuen.«Wir grinsen uns an. Dass die Leibgarde der Goldenen Frau öfters nicht viel zu tun hat, dient uns immer wieder als Anlass für Frotzeleien. So lange sich die oberste Hexe unseres Reiches im Goldenen Schloss aufhält und keine zu Besuch ist, reichen einige wenige Wächterinnen aus.Ich bin noch nicht ganz oben, als ich bereits Gemurmel höre. Was mich wundert, da Zeuginnen in der Regel nicht miteinander reden dürfen. Nun, welche auch immer die Männer beaufsichtigen, sorgen sicher dafür, dass sich die Gespräche nur um Banalitäten drehen.Marianne und Hanni haben die Männer im Speiseraum untergebracht. In einer Ecke entdecke ich Francesca, die mit grimmiger Miene Essen in sich hinein schaufelt. Sie ist offenbar wenig angetan von der männlichen Gesellschaft und hätte lieber ihre Ruhe. Ich kann es ihr nicht verdenken.Die beiden anderen Gardistinnen dagegen haben sich in Positur geworfen. Einige der Männer werfen ihnen verstohlene Blicke zu. Oh je, da habe ich ja was angerichtet! Zweifellos ist eine Goldene Gardistin ein guter Fang und ein paar der Herren sind noch unverheiratet. Dennoch hatte ich mir im Zuge einer Mordermittlung etwas mehr Professionalität erhofft.»Ihr lasst sie miteinander sprechen?«, raune ich meinen Gardeschwestern zu.»Ach, die reden nur über Männerzeugs.« Marianne zuckt mit den Schultern. »Kinder, Haushalt, hübsche Frauen. Das Übliche eben.«Hanni nickt.»Keine Sorge, wir passen auf!«»Na gut.«Lars sitzt natürlich mittendrin. Unsere Blicke treffen sich. Er sieht überrascht aus, fängt sich aber schnell wieder. Ich winke ihn heran.»Lars? Komm bitte mit mir.«Wortlos steht er auf und folgt mir nach unten. Erst als ich ihn angewiesen habe, in dem Verhörraum Platz zu nehmen, macht er den Mund auf.»Hallo Magret, es ist schön, dich wiederzusehen.« Das sehe ich anders, doch er strahlt eine solche Aufrichtigkeit aus, dass ich mir den Kommentar verkneife. »Ich wünschte nur, die Umstände wären andere.«»Du bist hier, weil ich dich als Zeuge vernehmen möchte. Ist es richtig, dass du in Annaburg keinen weiblichen Vormund hast?«Sofort geht er in die Defensive, schieb die Unterlippe vor und verschränkt die Arme vor der Brust.»Ist das ein Verbrechen?«»Nein. Aber normalerweise spreche ich, wenn möglich, immer erst mit dem Vormund eines Mannes, bevor ich ihn befragte. Eine Sache der Höflichkeit.«Ich mache den Fehler, Lars in die Augen zu schauen. Sein kindisches Benehmen ist wie weggeblasen. Ein leichter Schwindel ergreift mich. Oh Frau, rein optisch ist der Kerl der absolute Hammer! Sofort fällt mir ein, was wir in jener Nacht alles miteinander veranstaltet haben. Ich war ziemlich betrunken. Trotzdem. War es danach wirklich so schrecklich? Oder habe ich etwas falsch verstanden? Überreagiert, weil ich zu viel getrunken hatte? Schnell lasse ich unser anschließendes Gespräch noch einmal Revue passieren. Aber nein, ich würde jetzt genau so reagieren. Diese seltsamen Reden, allein die völlig verdrehte Geschichte der großen Anna von Katzenelnbogen! Da lässt sich nichts beschönigen, auch nicht, wenn mir der Blick dieses Mannes den Atem raubt.Ich zwinge mich, mich wieder zu konzentrieren.»Also gut, kommen wir gleich zur Sache. Es geht um verschiedene Todesfälle, die in Annaburg in der letzten Zeit stattgefunden haben.« Tut mir leid, Heidrun, aber wir können keine Zeuginnen befragen, ohne den Kater aus dem Sack zu lassen. Uns bleibt nur zu hoffen, dass die Männer nichts davon weitererzählen.Eine lächerliche Hoffnung. Dennoch versuche ich es.»Nichts, was ich dir erzähle, darf diesen Raum verlassen, hörst du? Du bist zur strengsten Geheimhaltung verpflichtet! Ein Verstoß dagegen würde eine schwere Strafe nach sich ziehen.«Lars zuckt mit den Schultern. Ich schaue ihn streng an und er nickt sichtlich widerwillig.»Also schön. Von mir erfährt keine etwas.«»Sehr gut.« Magret schwieg für einen Moment. »Die ganzen Toten - kanntest du einen der Männer?«Der Kellner nickt.»Ja, klar, alle!«Jetzt bin ich ehrlich überrascht. Die werden doch nicht etwa alle regelmäßig in der Gaststätte verkehrt haben?»Woher?«Er schaut mich verständnislos an.»Ich habe dir doch von uns erzählt!?«Blitzschnell gehe ich unser Geplänkel noch mal durch. Göttin, ich habe keine Ahnung, was er meint! Gebe ich aber zu, ihm nicht genau zugehört zu haben, riskiere ich, dass er beleidigt ist. Ich kann schon froh sein, dass er überhaupt noch mit mir spricht, nachdem ich mich nach unserer gemeinsamen Nacht nie wieder bei ihm gemeldet hatte. Ach Göttin, wieso müssen Männer immer so schwierig sein?Ich räuspere mich.»Welche genau meinst du mit »uns«?«»Na, unsere Gruppe.« Lars bläst die Wangen auf und atmet dann hörbar aus. »Ich habe dir doch von uns erzählt, von unseren Ansichten, was mir machen und so...«Ja, da war was, etwas Schräges, klassisch Männliches, was ich schnell abgehakt hatte. Ich rette mich in eine Lüge.»Tut mir wirklich leid, aber ich fürchte, der schöne Anblick an jenem Abend hat mich leicht abgelenkt...«Ich versuche es mit einem Lächeln, welches Lars nach einem Augenblick erwidert.»Ja, na ja, das war aber auch wirklich... Schade, dass du dich nie wieder hast blicken lassen!?«»Viel zu tun. Und dann habe ich mir noch das hier zugezogen.« Ich halte ihm meinen noch immer verbundenen Fingerstupf hin.Statt zurückzuschrecken, beugt sich Lars vor.»Ohhhh«, sagt er, »wie ist das denn passiert?«Nicht zuletzt, weil meine beiden Ausweichlügen meine Magie bereits geärgert haben, entschließe ich mich, die Wahrheit zu sagen. Wieso auch nicht?»Ich habe einen Mann aus einem brennenden Haus gerettet.«Die Augen des Kellerns weiten sich.»Wahnsinn!«, haucht er. »Ich wusste, dass du etwas ganz Besonderes bist. Eine echte Heldin!«»Ich bin Goldene Gardistin, Leben zu retten ist mein Beruf.«»Trotzdem. Wenn du Lust hast, komm doch gern mal wieder vorbei, dann spendiere ich dir einen Drink und wir schauen, was der Abend noch so mit sich bringt...«Sein Lächeln lässt keine Fehlschlüsse zu. Auch wenn ich nie wieder mit ihm ins Bett gehen werde, muss ich gestehen, dass mir sein Angebot schmeichelt.»Danke für das Angebot, Lars, aber lass uns jetzt bitte zurück zum Thema kommen. Also, welche meintest du mit »wir«?«Kapitel DreiunddreissigNachdem ich Lars habe gehen lassen, sitze ich wie versteinert da. Ich fasse es nicht! Es war die ganze Zeit direkt vor meinen Augen. Lars hatte es mir gesagt!Nach meiner Rettungsgeschichte war er wie Wachs in meinen Händen und hatte mir bereitwillig Auskunft gegeben. Die Marburger. Eine lockere Gruppe Annaburger Männer, die sich meist ohne das Wissen ihrer Frauen unter dem Banner der vermeintlichen Unterdrückung und Diskriminierung des Mannes zusammengetan hat. Tratschende Kerle, Hausmänner und Aushilfen, die in ihrer Freizeit gern große Reden schwingen, die Umbenennung der Stadt nach der großen Anna ablehnen und sich voreinander wichtigtun. All unsere Toten gehörten der Vereinigung an, ebenso ein paar unserer einbestellten Zeuginnen. Insgesamt gibt es ungefähr vierzig »Marburger«, von denen etwa zwanzig zum harten Kern gehören. Von diesen zwanzig sind bereits sechs tot. Lars könnte der Nächste sein. Das Morden wird weitergehen. Und doch verspüre ich zum ersten Mal seit Wochen Hoffnung: Jetzt haben wir die Gemeinsamkeit zwischen den Mordopfern. Damit haben wir endlich ein Motiv, wenn auch ein dürftiges: Weshalb sollte sich eine Frau herablassen, aufmüpfige Männer umzubringen?Dennoch, wir haben einen Durchbruch erzielt.Aufregung kribbelt in meinen Gliedern. Jetzt, da wir wissen, welche noch alle auf der Todesliste der Mörderin stehen, hat der Wettlauf gegen die Zeit begonnen. Nur, dass wir der Täterin dieses Mal einen Schritt voraus sind. Sie hat nämlich einen Fehler gemacht: sie hat ein Opfer am Leben gelassen!Meine Mutter hat immer gesagt, es gibt zwei Arten von Menschen. Einmal die, die, bevor sie sich an einen Tisch setzen, schauen, ob eine Spinne darunter ist und jene, die das nicht tun. Letztere unterscheiden sich wiederum in die Personen, die es nicht überprüfen, weil sie Spinnen nicht fürchten, und solche, die eben aus dem Grund nicht genauer hinschauen, denn sie fürchten, was sie sehen könnten.Und die, die nachschauen? Das sind einmal diejenigen, die sich vergewissern wollen, dass keine Spinne dort ist. Sie schauen also nicht nach, ob ein Tier lauert, sondern möchten im Grunde nur sehen, dass dem nicht so ist. Die andere Art sieht nach, um eine Spinne, die dort ist, rauszubringen oder sogar zu töten. So unterscheiden sich die Menschen immer in mindestens zwei unterschiedliche Arten. Wenn also zwei auf den ersten Blick gleich handeln, bedeutet das nicht unbedingt, dass ihrem Verhalten auch dieselbe Motivation zugrunde liegt. So kann Feigheit wie Mut wirken und Mut wie Feigheit. Eine muss genauer hinschauen, um beides auseinanderhalten zu können.Dann hat mich meine Mutter immer gefragt: Welche möchtest du sein? Eine, die unter den Tisch schaut, weil sie die verborgene Gefahr fürchtet oder eine, die nachschaut, um sich ihr zu stellen und sie zu beseitigen?Daran denke ich die ganze Zeit. Es gibt so vieles, bei dem ich nicht genauer hingeschaut habe. Angefangen mit meinem Armband. Mir hätte länger klar sein müssen, was es damit auf sich hat. Dass Magie in einem Gegenstand gespeichert werden kann, ist noch nie dagewesen, wäre mir noch vor Kurzem vollkommen absurd erschienen - doch ist das nicht immer so? Meine Angst vor Bindung. Frenjas ungesundes Verhältnis zu ihrer Schwester, ja selbst, was sie mit der Mondhexe angestellt hat: Ich habe mich geweigert, genauer hinzuschauen, weil ich Angst hatte, etwas zu entdecken. Das ist die traurige Wahrheit. Ich war feige. Aber das ist nun vorbei!Was mich erwartet, ist nicht einfach und wird mich bis in meine Träume verfolgen. Dennoch werde ich mich dem stellen. Ich muss. Etwas sagt mir, dass es enorm wichtig ist und dass hier der Schlüssel zu allem liegt. Ein Mann ist fast verbrannt. Es ist nicht einmal sicher, ob er überleben wird. Laut Ärztin wurden bereits Frauen mit Heilmagie aus umliegenden Städten angefordert. Ständig müssen mindestens zwei Ärztinnen ihre Magie in dem Mann aufrechterhalten, sonst hat er keine Chance. Das Ganze wird sich über Tage hinziehen, vielleicht sogar Wochen. Unmöglich, das nur mit den hiesigen Ärztinnen zu bewältigen!So aber, durch den Zusammenschluss vieler, ist es möglich, das Leben dieses armen Mannes zu retten. Sie haben mir gesagt, er sei ansprechbar. Sie haben mir erlaubt, zu ihm zu gehen. Dennoch zögere ich, die Tür zu öffnen. Das wird kein schöner Anblick sein. Verbrennungen sind so schmerzhaft wie sonst kaum etwas. Ich weiß, es ist egoistisch, doch ich hoffe um meinetwillen, dass sie den Mann bereits zum Teil heilen konnten.Er könnte die Lösung sein. Wenn ich richtig liege, könnte der Mann das Wissen in sich tragen, das ich brauche, um die ganze verzwickte Angelegenheit endlich aufzulösen. War es ein Unfall? Hat hier lediglich ein unerfahrener Hausmann das Herdfeuer nicht gelöscht oder sonst wie damit rumhantiert? Oder steckt mehr dahinter, wie ein Teil von mir beharrlich sagt? Hätte dieser Mann das nächste Opfer der Mörderinnen sein sollen? Alles passt: Seine Frau hat Feuermagie. Wenn ich richtig liege, haben sie zum ersten Mal einen Fehler gemacht. Wenn ich richtig liege, bin jetzt ich am Zug.Kapitel VierunddreissigDer Mann sieht schrecklich aus. Ich zwinge mich, ihm in die Augen zu schauen, das Einzige an ihm, das normal aussieht. Die zahlreichen Verbände machen jene Stellen, die nicht bandagiert sind, umso deutlicher. Dieser Mann hat ein Feuer überlebt, mehr noch, er war das Feuer. Unglaublich, dass er noch atmen und mich anschauen kann.»Hallo«, sage ich. Sein Blick flattert zu mir. Er blinzelt.Die beiden Ärztinnen, die Dienst haben, sitzen auf unbequem wirkenden Stühlen neben dem Bett. Sie wirken erschöpft, beide haben unschöne Schweißflecken am Bauch und vermutlich auch woanders. Die Aufgabe, ununterbrochen Heilmagie in dem Mann aufrecht zu erhalten, verlangt ihnen einiges ab. Ich nicke ihnen zu. Dann ziehe ich mir den einzig leeren Stuhl heran und setze mich so, dass der Mann mich im Liegen anschauen kann.»Hallo Vlademir, mein Name ist Magret Beatesdother. Ich bin gekommen, um dir ein paar Fragen zu stellen. Ist das in Ordnung?«Er nickt schwach. Dann flüstert er etwas. Ich beuge mich vor, um ihn besser zu verstehen.»... mich aus Feuer?«»Ob ich dich aus dem Feuer rausgeholt habe?«Erneutes Nicken.»Ja, tatsächlich war ich es, die dich aus dem brennenden Haus gezogen hat. Ohne die Ärztinnen hier allerdings...«Ich zucke mit den Schultern.Der Mann schließt die Augen. Haben ihn diese wenigen Worte bereits so sehr erschöpft?»Vlademir?«Er murmelt etwas, das ich nicht verstehen kann. Eine der Ärztinnen steht auf, tritt ans Bett und legt ihre Hand auf die seine. Er schlägt die Augen wieder auf.»Danke«, krächzt er.»Schon gut!«Die am Bett stehende Ärztin hat sich gut unter Kontrolle; dennoch entgeht mir nicht, dass sie leicht zittert.Ich sollte mich kurzfassen.»Vlademir, du bist angegriffen worden. Kannst du dich erinnern, von welcher? Kanntest du die Angreiferin? Und falls nicht, kannst du sie mir beschreiben?«Der Mann blinzelt. Selbst das sieht gequält aus.»Schmerzen. Tut so weh...«»Ich weiß. Es tut mir leid.« Wie ich es hasse, so hilflos zu sein! Aber ohne Heilmagie kann ich nichts machen. Im Gegenteil muss ich alle Disziplin aufwenden, um nicht schreiend aus dem Raum zu rennen. Die Verbrennungen, obschon von den Ärztinnen gemildert, fühlen sich so falsch an wie nur was.»Bitte, konzentrier dich! Ich muss wissen, welche dir das angetan hat. Allein schon, damit sie das nie wieder tut. Ich muss die Täterin finden, verstehst du?«»Täterin?«Vlademir hustet. Es klingt entsetzlich trocken. Dann stöhnt er. Tränen laufen über seine aufgeplatzten Wangen. In dem Rest meines linken kleinen Fingers schreit Schmerz auf. Unmöglich, eigentlich, die Wunde ist gut abgeheilt. Übrig geblieben ist nur ein Stummel, den Rest hat das Feuer sich geholt. Doch wann immer ich nach meinem Finger spüre, könnte ich schwören, dass er noch dort ist. Seltsam. Nun, es ist, wie es ist, und einen kleinen Finger zu opfern, um einem Mann das Leben zu retten, scheint mir kein allzu hoher Preis zu sein. Fragt sich nur, ob dieser gezeichnete Mensch vor mir überhaupt überleben wird. Ich weiß, wozu gute Ärztinnen imstande sind. Allein dass der Mann noch atmet, grenzt an ein Wunder. Aber wir sind nicht allmächtig.»Vlademir«, sage ich, so behutsam ich kann. Zeitgleich lasse ich meine Magie sich verteilen, ihn einhüllen, sanfter noch als der Flügelschlag eines Schmetterlings. Nichts Übles dringt mehr zu ihm vor. Gleichzeitig passe ich auf, den hellen Strahl der Heilmagie, der pausenlos von der Ärztin an den Mann ausgesandt wird, nicht zu unterbrechen.»Kanntest du die, die dir das angetan hat?«»Ob ich sie kannte?« Sein Mundwinkel zuckt. »Natürlich kenne... ich sie! Und sie... mich!«»Du kennst sie also und sie kennt dich.«»Nicht... sie...«Ich tausche einen ratlosen Blick mit der Ärztin.»Was meinst du damit?«»... aufgewacht... dachte nicht... dass es so weh tun wird...«»Du bist vom Schmerz aufgewacht? Heißt das, sie hat dich im Schlaf überrascht?«Sein Blick wird starr. Ich beschließe, meine Karten auf den Tisch zu legen.»Ich weiß, dass du ein »Marburger« bist. Bist du deswegen angegriffen worden?«Die Augen des Mannes weiten sich für einen winzigen Augenblick. Dann schließt er sie.»Vlademir, bitte, ich muss es wissen!«, frage ich, so ruhig ich kann. »Welche hat dir das angetan? Welche hat dich angegriffen?«Er rührt sich nicht, hat die Augen weiterhin geschlossen, nicht das kleinste Zucken huscht über seine Lider.Die Ärztin schüttelt den Kopf.»Er hat das Bewusstsein verloren. Ich weiß nicht, wann er wieder aufwachen wird.«»Hm. Hat er denn sonst noch etwas gesagt? Bevor ich da war? Zu Ihnen, einer Kollegin oder vielleicht einem Krankenbruder?«Erneutes Kopfschütteln.»Nicht, dass ich wüsste. Er hat über die Schmerzen geklagt, was kein Wunder ist. Ansonsten hat er nichts gesagt. Er war aber auch die meiste Zeit ohne Besinnung.«»Na schön.« Ich seufze. Wieso konnte er mir nicht einfach den Namen sagen? Wenn er sie doch offenbar kannte? Und jetzt? Gehe ich wieder ins Büro und drehe Däumchen, bis er aufwacht und mir sagt, wer ihn angegriffen hat? Und dann ist der Fall gelöst? Göttin, kann es so simpel sein?Natürlich nicht. Als Diana mein Büro betritt, weiß ich schon Bescheid.»Vlademir hat es nicht geschafft.«Verbitterung. Das ist genau das Gefühl, das in mir tobt. Göttin, wofür habe ich mein Leben riskiert? Wozu meinen Finger verloren? Wozu haben die Ärztinnen den Mann gerettet und so viel Magie und Mühe auf sich genommen? Wozu war es gut, ihn länger unter Schmerzen und Qualen am Leben zu erhalten, wenn es ihm dann doch versagt blieb, zu überleben?Die Fragen sind müßig, keine wird sie mir je beantworten können. Ich habe den armen Mann gerettet, nur dafür, dass er noch länger gelitten hat. Bewusstlos im Feuer wäre er eingeschlafen, erstickt, und hätte nicht mehr viel mitbekommen. Oder doch? Wenn ich ihn richtig verstanden habe, war Vlademir von dem Angriff auf ihn geweckt worden. Weil es so weh tat? Welche greift denn bitte einen schlafenden Mann an? Meine Magie zupft und zerrt. Nein, da stimmt was nicht. Laut meiner Magie meinte er etwas anderes damit. Aber was? Eine schläft, eine wird angegriffen und wacht davon auf. Oder war er vorher bereits angegriffen worden und hatte das Bewusstsein verloren? Oder war anderweitig betäubt worden? Und dann erst benutzte die Angreiferin die Feuermagie? Könnte es so gewesen sein?Ein verheißungsvolles Kribbeln durchfährt mich. Ich weiß einfach, dass ich auf der richtigen Spur bin!Ich stehe auf und gehe ans Fenster. Starre hinaus und ins Nichts. Noch mal von vorne! Vlademir ist zuhause. Er lebt allein in einer von sechs Wohnungen. Sein voller Name ist... war Vlademir Valentinajewitsch. Laut der Aussage einer Nachbarin hat ihn seine Familie verstoßen, weil er etwas mit einem Fräulein angefangen hatte. Er kam nach Annaburg, um hier eine Frau zu finden. Er fand Unterschlupf bei einem Mann namens Dieter Martassen. Dieter war in der Nacht, in der das Feuer ausbrach, auf Nachtschicht. Er betreut Kinder verwitweter Frauen. Auch Vlademir hat eine Weile in dem Hort gearbeitet, kam aber offenbar nicht damit zurecht, sich immer wieder von den Kindern trennen zu müssen. Er begann als Aushilfe in einem Restaurant zu arbeiten. Hier wird es interessant: Die einzigen beiden Frauen in seinem näheren Umfeld, die über Feuermagie verfügen, sind eine Nachbarin und die Chefköchin in besagtem Restaurant.Die Nachbarin war in der fraglichen Nacht zu Besuch bei ihrer Schwester in Schwalmstadt. Die Chefköchin hatte angeblich Dienst. Beide Frauen können mit Zeuginnen aufwarten, allerdings handelt es sich bei denen der Köchin allesamt um Angestellte, während die Nachbarin auch von der Dorfältesten im Wohnort ihrer Schwester gesehen worden ist.Die Chefin also. Wieder einmal.Jetzt muss ich die neuen Informationen mit dem verknüpfen, was mir Lars erzählt hat und was wir zu wissen glauben.Vlademir war Teil einer maskulistischen Gruppe namens »Die Marburger«, deren Mitglieder der Reihe nach angegriffen werden. In Vlademirs Fall wurde die Magieart seiner Chefin benutzt oder imitiert. Leider kommt dafür mindestens jede zweite Frau in Frage: Ein kleines Feuer bekommen die meisten zustande. Es wachsen zu lassen, dürfte kein großes Problem sein.Oder doch?Meine Magie sagt mir, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt. Aber was?»Was es braucht, um ein Haus abzufackeln?« Gisela von Siegen, Zweite der Feuerbekämpferinnen, zuckt mit den Schultern. »Leider erstaunlich wenig. Im Grunde kommt es nur auf die Vorhänge an.«»Die Vorhänge?«, wiederhole ich.Die Frau nickt heftig. »Ja.«Diana und ich wechseln einen Blick.»Wenn du die Güte hättest, das Magret und mir etwas genauer zu erklären?«»Klar! Brennen die Vorhänge, brennt das Zimmer. ZACK! Und BUFF!« Die Frau untermalt ihre Worte mit dramatischen Gesten. »Wenn eine dann noch so dumm ist - und glaubt mir, das trifft auf die meisten Männer zu - und macht ein Fenster oder eine Tür auf, dann...«Ich beuge mich vor.»Dann was?«»Dann ganz großes PUFF! FAUCH! PUFF! Alles weg, finito. Ist klar?«»Ah ja.« Dianas Augenbrauen wandern nach oben. »Danke für diese sehr, äh, anschauliche Erklärung.«»Kein Problem.« Ihrem Lächeln nach zu urteilen, tut sie nichts lieber, als den ganzen Tag lang hier mit uns rumzustehen. Dafür fehlt uns allerdings entschieden die Zeit!»Also könnte so gut wie jede Frau das Feuer gelegt haben?«Gisela nickt und schüttelt dann den Kopf.»Könnte, ja, hat aber nicht. Wenn ihr mich fragt - und das tut ihr ja - dann kommt eine mit Feuer- oder sonst einer Hitzemagie nicht in Frage.«Das ist interessant!»Wieso nicht?«»Wegen der Spurenlage!« Die Feuerbekämpferin hält uns eine flache Hand hin. Die andere ballt sie zur Faust und schlägt sich damit auf die offene Handfläche.»Wird ein Feuer durch starke Magie erzeugt, dann haben wir einen sogenannten Brandquell, also eine Stelle, an der das Feuer mit immenser Wucht, mit der Macht der Magie also, entstanden ist. Die Stelle würde sogar ein Mann erkennen. Dort ist alles einfach wegexplodiert. Der Brandquell breitet sich dann aus, wenn ihn keine löscht. Je nachdem, was rumsteht, ist klar, versteht ihr? Und wenn nichts rumsteht, na ja, dann halt so ungefähr ringförmig.« Diana und ich verfolgen gebannt die schwimmartigen Bewegungen der Frau. »Es breitet sich aus und irgendwann, nun, also wenn alles gleich wäre, was es nicht ist, aber wenn es so wäre, dann würde es sich irgendwann beruhigen. Das Feuer. Es würde weiter Sachen verbrennen und so, ist klar, aber eben nicht mehr mit so einer Wucht. Ist ein bisschen so, wie wenn ihr einen Stein ins Wasser schmeißt. Gibt Kreise und so, Ringe halt, aber das große PLATSCH, also das gibt`s nur einmal. Ist klar?«Wir nicken. Zumindest habe ich eine ungefähre Ahnung von dem, was sie uns sagen möchte.»Das bedeutet also, das Fehlen eines solchen heftigen Brandquells deutet auf eine schwächere Feuermagie hin?«»Ganz genau. Ist klar, ne? Stattdessen haben wir es hier mit schwächeren Brandquellen zu tun. Mehrzahl. Also wenn ihr mich fragt, also immer noch, und das tut ihr ja, haha, würde ich sogar sagen, da waren hier gleich mehrere Frauen am Werk.«Kapitel FunfunddreissigDiana beugt sich vor.»Wie meinst du das? Woher willst du das wissen?«»Na, weil ich hier die Expertin bin, oder nicht?«Zeit, einzuschreiten!»Aber natürlich bist du das, deswegen sind wir ja überhaupt hier! Was Diana meint ist, könntest du uns bitte erklären, wie du darauf kommst?«Sofort weicht der beleidigte Ausdruck auf Giselas Gesicht sachlicher Souveränität.»Aber gerne doch. Das mit dem Brandquell ist klar? Der ist nicht da. Stattdessen haben wir verschiedene, äh, wie soll ich sagen, »Miniquellen«. Da weist nichts auf Magie hin oder so, aber bei der wenigen Magie, die für ein kleines Feuer nötig ist, kein Wunder. Das hat eine dann wiederum gefüttert.«»Gefüttert?«, frage ich skeptisch.»Ja, und zwar mit Speiseöl.«»Speiseöl?«Langsam komme ich mir vor wie ein Echo.»Jawohl, die Damen Goldene Gardistinnen! Verschiedene kleine Brandquellen und dann schön Öl drauf gekippt. Gibt nicht viel Wumms, aber das Feuer hält. So kann eine dem Feuer quasi Zeit verschaffen, versteht ihr?«Ich schüttele den Kopf. »Nicht so richtig.«»Ja, schaut doch mal, wenn ihr jetzt so ein Feuer macht - oder habt ihr Feuermagie?« Kopfschütteln. »Na eben. Also, ihr macht so ein kleines Feuer und dann wollt ihr ja nicht, dass das ausgeht. Also braucht ihr erstmal irgendwas, das ihr anzündet. Eine Kerze oder so. Dann brennt die und gut ist. Wollt ihr jetzt aber ein ganzes Haus abfackeln, wird es brenzliger, haha! Ihr müsst ja das Feuer am Leben halten, bis es sich quasi wo festgebrannt hat. Ist ja nicht so, also würde überall was rumliegen.«»Was ist mit dem Boden an sich? Der ist doch oft aus Holz und Holz brennt?«Dianas Einwand entlockt der Frau ein müdes Lächeln.»Dauert viel zu lange, versteht ihr, so lange hält das Feuer meistens nicht durch. Wenn es also Absicht war - und davon gehe ich aus bei mehreren Brandquellen, das könnt ihr mir ruhig glauben - dann wurde unser liebes Feuerchen danach ordentlich gefüttert. Es wurden sogar Spuren gelegt, also, das ist, als würdet ihr Brotkrumen auf einem Weg verteilen. Und dann ist es hübsch brav diesen Brotkrumen gefolgt. Also das Feuer. Also dem Öl. Sagte ich das schon? Öl wurde vergossen. Bis zu den Vorhängen. Ist klar?« Zufriedene verschränkt Gisela die Arme vor der Brust. »Ich sag`s ja immer: Brennen die Vorhänge - PUFF!«»Und diese Brandquellen, wurden die zeitgleich entzündet? Könnt ihr das herausfinden?« Aufregung kribbelt in mir: Stehen wir hier kurz vor einem Durchbruch?»Haben wir schon, Magret. Theoretisch sage ich mal, ist es möglich, dass alle von einer einzigen Frau gelegt worden sind. Und ja, bevor ihr fragt, natürlich könnte das auch von einer mit Feuermagie so gemacht worden sein. Glaube ich aber nicht, denn mal ernsthaft: Wieso sollte sie? Nee, ich sage euch, da war etwas anderes am Werk. Könnte theoretisch wie gesagt von einer einzigen Frau so gemacht worden sein, also ohne Magie. Ich sage bewusst theoretisch, weil das absoluter Blödsinn wäre. Von der Anordnung her, versteht ihr? Na, ich sehe schon. Also passt auf: So wie die Feuer platziert worden sind und so wie das Öl vergossen wurde, um unserem Feuerchen den Weg zu weisen... Da müsste eine schon hübsch blöd sein, das alleine zu machen. Weil mit dem ersten Feuer bereits, also Sekunden nach Entzünden, in dem Zimmer das absolute Chaos ausgebrochen ist. Ist klar? Ein Weg zu den Vorhängen Richtung Süden, ein Weg zu denen Richtung Osten. Dann zum Bücherregal. Ich meine, es tut mir ja in der Seele weh, aber zusätzlich noch mit dem Öl brennt Literatur wie Zunder, da kennt die nichts, ist klar? Ein Weg dann...«»Jaja«, unterbricht Diana die Feuerbekämpferin ungeduldig. »Aber wie viele waren es denn nun? Oder nein, warte: Wie viele Frauen waren deiner Meinung nach mindestens daran beteiligt?«Ich erwarte wieder eine ausschweifende Antwort, doch zu meiner Überraschung nimmt sich die Fachfrau Zeit.Schließlich nickt sie.»Ja. Ich bin mir ziemlich sicher: Es waren mindestens drei.«Meine Frauen haben alle Männer befragt, die bei jener fragwürdigen Dinnerparty mit dabei waren. Zig Namen von Frauen aufgeschrieben und die Listen dann miteinander verglichen. Abgesehen von ein paar Überschneidungen hier und da, wie sie normal sind, haben wir keine einzige Frau getroffen, die auch nur annähernd im Leben mehrerer, geschweige denn aller Männer eine Rolle gespielt hätte.Alles schwirrt um mich herum, nichts scheint einen Sinn zu ergeben. Doch ich weiß ganz genau, dass da einer ist! Irgendwas ist da, was all die Teile zusammenhält. Nur warum bekommen wir sie nicht zusammen? Fehlt uns ein wichtiges Teil? Stellen wir die falschen Fragen? Haben wir etwas übersehen?Normalerweise würde ich mir jetzt einen Met gönnen. Oder zwei.Mit leicht mulmigem Gefühl betrete ich den Gasthof. Das letzte Mal, als ich hier war, war ich ein anderer Mensch. Oder doch nicht? Ich habe seitdem viele Entschlüsse gefasst. Nichts mehr zu trinken. Mich meinen Ängsten zu stellen. Das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Privatleben besser zu wahren. Überhaupt wieder ein Privatleben zu haben.Nichtsdestotrotz bin ich jetzt hier, und es ist definitiv Feierabend. Nur, wann soll ich sonst mit Lars reden? Ich werde die Teufelin tun und ihn bei sich zuhause aufsuchen. Welche weiß schon, wie das enden würde? Nicht, dass ich mich wieder am nächsten Morgen in seinem Bett wiederfinde und mir seine abstrusen Geschichten anhören muss. Nein, danke, ich habe genug mit mir selbst zu tun! Daher treffe ich ihn lieber hier in der Öffentlichkeit. Irgendwann werde ich lernen müssen, der Versuchung eines Becher Mets zu widerstehen - wieso nicht direkt damit anfangen?Immerhin ist es so früh, dass die abendlichen Trinkerinnen noch nicht da sind. Es ist kaum etwas los. Im ersten Moment sehe ich nur einen Kellner und befürchte schon, dass Lars heute keine Schicht hat. Dann entdecke ich ihn: Er hat sich zu einem anderen Mann an den Tisch gesetzt. Ihre Köpfe sind nah beieinander und ich kann nichts von ihrer Unterhaltung verstehen. Der mir unbekannte Mann sitzt mit dem Rücken zu mir. Er gestikuliert mit knappen Gesten. Lars` Miene wirkt verschlossen, aber nicht unfreundinlich.Als er mich entdeckt, lächelt er und hebt eine Hand.»Magret! Hallo!«Sämtliche Personen im Raum drehen sich zu mir um. Zum Glück sind es nicht allzu viele. Wieso machen Männer immer so ein Gewese?»Jaja, schon gut bleib ruhig sitzen«, sage ich betont mürrisch. Er soll ja nicht denken, ich sei aus einem romantischen Grund hier.»Komm, setz dich!«Lars schiebt einen Stuhl zurück.»Das hier ist Oliver. Olli, das ist Magret Beatesdother. Eine Goldene Gardistin.«Oliver weicht meinem Blick aus.»Guten Tag«, murmelt er. Von seiner eben noch so eleganten Körperhaltung ist nichts mehr übrig. Ein Mann in seinem Alter sollte auf seine Haltung achten. Vor allem, wenn er, wie Oliver, keinen Ehering am Finger trägt.»Hallo!«, sage ich dennoch freundinlich. »Oliver und wie weiter?«Er hebt den Kopf, sein Blick geht zwischen Lars und mir hin und her. Aus den Augenwinkeln erkenne ich, dass der Kellner nickt. Aha?»Oliver von Marburg«, sagt der Mann schließlich. Nur mit Mühe kann ich einen Seufzer unterdrücken. Also noch einer von der Sorte! Eigentlich gut für mich, ich bin ja nicht zum Spaß hier.»Du bist unverheiratet?«»Spielt das eine Rolle?«, fragt er in einem Ton zurück, der zwischen Trotz und Frechheit schwankt.Ich öffne den Mund, doch bevor ich etwas sagen kann, fährt Lars dazwischen.»Oliver ist ein sehr guter Freund von mir. Er lebt auch hier in Annaburg, überlegt aber gerade, fortzugehen.«»Ach ja? Wieso?«, frage ich.»Nun, sagen wir mal: Ich sehe hier derzeit keine Perspektive mehr für mich.« Er zuckt mit den Schultern. »Eine Zeitlang dachte ich, dass... Aber nein, ich habe mich... Sagen wir, ich habe mich in einigen Menschen geirrt.«Die beiden Männer tauschen einen vielsagenden Blick. Leider sagt mir das gar nichts.»Und du, Lars?«, frage ich betont beiläufig.»Ich? Nein, ich bleibe!«»Nun, Oliver, dem Nachnamen, den du dir selbst gegeben hast, entnehme ich, dass auch du zur Gruppe jener gehörst, die sich »Die Marburger« nennen.«»Ihr wisst davon?« Sein Tonfall klingt alarmiert.Ich lehne mich bewusst im Stuhl zurück, lasse die Hände locker in meinem Schoß liegen, versuche die aufflammende Panik in ihm zu ignorieren. Lächle mit zusammengepressten Zähnen.»Schon gut, da ist ja nichts dabei, oder? Im Gegenteil, ich finde es immer schön, wenn sich Männer in ihrer Freizeit Freundinnen suchen, mit denen sie Zeit verbringen können.«Den Tritt, den mir meine Magie wegen meiner Lüge verleiht, wird dadurch mehr als ausgeglichen, dass sich Olivers Angst sofort wieder legt.»Ja. Gut. Aber... Also ja, ich war dabei. Bin dabei. Aber... ich werde weggehen. Es ist einfach nicht mehr...« Er ringt sichtlich nach Worten. »So wie früher eben.«Ich brauche meine Magie nicht, um zu wissen, dass ich hier etwas auf der Spur bin. Es scheint, als hätte die Göttin selbst meine Schritte genau zur richtigen Zeit in den Gasthof gelenkt.»Du meinst eure Gruppe? Nun, nichts bleibt wie es war und es ist ganz natürlich, dass sich einige Dinge weiterentwickeln, verändern, sich neue Interessen, kleinere Gruppen bilden, andere Themen in den Mittelpunkt rücken, sich Vorgehensweisen verändern, Menschen das Interesse verlieren...«Während meiner scheinbar willkürlichen Aufzählung habe ich den Mann keine Sekunde aus den Augen gelassen. Winziges Zucken bei der Erwähnung kleinerer Gruppen, eine deutliche Welle des Unwohlseins bei den veränderten Vorgehensweisen. Sehr interessant. Spontan beschließe ich, meine Magie auszufahren.Ich bitte Lars um einen Kräutertee. Während er meiner Bitte eifrig nachkommt und Oliver ihm hinterherschaut, nutzte ich die Zeit, blitzschnell ein magisches Netz zu knüpfen und auszuwerfen. Der Göttin sei Dank, habe ich es hier nicht mit einer Frau zu tun. Dennoch zwinge ich mich, die Maschen erst zu verfeinern, bevor ich es langsam um Oliver zuziehe. Männer sind oft erstaunlich sensibel für Magie. Kein Wunder, da sie ja von Natur aus viel empfindlicher als wir Frauen sind. Als Lars mit meinem Tee und zwei weiteren Bechern zurückkommt, habe ich Oliver fest im magischen Griff.»Hier, Olli, geht aufs Haus«, sagt Lars und stellt erst ihm, dann auch mir einen Becher hin.»Danke.«Wir nippen an unseren Getränken. Dann ist es an der Zeit, das Gespräch wieder in die richtige Richtung zu lenken. Mein Gefühl sagt mir, dass ich bei Oliver weder zu behutsam noch zu forsch an die Sache herangehen darf. Zu viel Interesse und er wird vermuten, dass ich als Goldene Gardistin hier bin; zu wenig, und seine schüchterne Seite wird Oberhand gewinnen. Schätze ich ihn dagegen richtig ein, ist er einer jener Männer, die es zum einen allen recht machen, aber zeitgleich immer auch ihre eigene Meinung sagen wollen. Schlecht für ihn und seinen Seelenfrieden, gut für mich.»Also, Oliver, du sagtest, dass es in eurer Gruppe nicht so gut läuft?«Er runzelt die Stirn.»Habe ich das gesagt? Nun, ja, also, na ja. Die einen wollen dies, die anderen das. So ist das schonmal, das haben Sie ja eben selbst gesagt.«»Ja schon. Nur kam es mir bisher immer so vor, als wärt ihr alle eine richtige, wie soll ich sagen, Einheit?«»Ach, das war einmal. Mittlerweile... Wir stehen alle für das selbe ein, verstehen Sie? Wir alle... Lars hat Ihnen ja vielleicht schon erzählt«, ich nicke, »dass wir dafür sind, mehr Rechte zu bekommen. Nicht nur für uns Männer, wissen Sie, auch für Fräulein und so, aber eigentlich schon erst mal für uns Männer halt.«»Ja, Lars hat mir da einige interessante Theorien erzählt«, sage ich und ignoriere erneut den Schmerz, den mir meine eigene Schönrederei einhandelt. All die Lügen und Halbwahrheiten werden dieses improvisierte Verhör zu einer Tortur machen. Doch das ist es mir wert: Von Oliver kam bislang nichts als kristallklare Aufrichtigkeit. »Und wieso hat sich das jetzt geändert? Wollen einige etwa aufgeben?«»Nein, nein, das nicht, also eher das Gegenteil! Aber da mache ich nicht mit! Nein, niemals!«»Oliver!«, sagt Lars scharf.»Was denn? Du hast doch auch keine Lust auf diesen Mist, oder? Ich meine, du musst dir ja nur anschauen, was-«»Du weißt ja nicht, wovon du sprichst!«, fährt ihm Lars über den Mund. »Du weißt genau so wenig wie ich! Alles, was wir tun können, ist zu raten. Wir sind raus und damit hat es sich.«»Ach, du auch?« Jetzt bin ich ehrlich erstaunt. »Ich dachte...«»Ja«, sagt er bitter, »das dachte ich auch. Aber wie es scheint ist genau das passiert, was du eben erwähnt hast: Es hat sich eine neue Gruppe gebildet. Und die hat nichts mit dem »harten Kern« zu tun.« Sein Schmerz bereitet mir Qualen. Eine Mischung aus Enttäuschung, Wut und Fassungslosigkeit. Was immer da innerhalb der Marburger vorgefallen ist. Dass er nicht mehr dazu gehört, nicht mehr Teil der Gruppe ist, bereitet Lars anscheinend tiefen Kummer und Schmerz.»Soll das heißen, es wurden, hm, neue Ziele anvisiert, ihr wart nicht einverstanden, und dann wurdet ihr aus der Gruppe ausgestoßen?« Ich stochere im Nebel, aber vielleicht habe ich ja Glück.»So ungefähr. Nur etwas komplizierter.« Oliver seufzt. »Ich weiß nicht, ob Sie als Frau das verstehen können, aber die Marburger... Für uns Männer, die wir ja sonst oft nur zuhause sind oder hier und da mal einkaufen gehen... da waren unsere Treffen immer etwas ganz Besonderes. Und jetzt ist alles weg.«»Aber wenn es doch nur eine Gruppe ist, wieso könnt ihr anderen Männer dann nicht euer Ding weitermachen?« So einen Zerfall habe ich schon öfters am Rande mitbekommen - persönlich involviert war ich nie - und bin jetzt auch als Privatperson neugierig. »Gerade wenn es um neue Sachen geht, sind die meisten doch eher konservativ oder nicht? Oder genau andersherum: Wenige möchten etwas Neues, während die meisten beim Althergebrachten bleiben wollen. So oder so, diejenigen, die dann ernst machen, sind doch meist in der absoluten Minderheit. Also wieso kickt nicht ihr die raus, anstatt dass es umgekehrt läuft? Wieso soll eine Mehrheit unter einer Minderheit leiden?«Kapitel SechsunddreissigSo einfach ist das nicht, Magret. Es ist ja nicht so, als hätte es eine Abstimmung gegeben und die einen wären dafür und die anderen dagegen und dann hätten wir uns in zwei Gruppen aufgespalten. Nein, das hier war von langer Hand vorbereitet. Die Leute haben untereinander geredet, haben nach und nach diese und jene auf ihre Seite gezogen. Oder schlecht über sie geredet, wenn sie merkten, dass da nichts zu machen war.«Ich kann förmlich vor mir sehen, wie die einst so - für Männer - starke Gruppe langsam begann innerlich zu bröckeln. Der Zerfallsprozess wurde nicht von außen, sondern von innen heraus in Gang gesetzt.»So ging das immer weiter«, fährt Oliver fort, »so dass sich am Ende auch die, die dagegen waren, uneins waren.«»Genau, die Einen fanden es im Prinzip richtig, nur die Umsetzung zu radikal, die Anderen wiederum wollten damit nichts zu tun haben, andere wiederum hatten eine andere Idee und so weiter und so fort.« Lars schüttelt den Kopf. »Übrig geblieben ist ein Haufen Männer, der keine Unterhaltung mehr führen kann, ohne sich in die Haare zu kriegen. Selbst Olli und ich sind unterschiedlicher Meinung. Was soll ich sagen? Diese Debatte hat uns gespalten.«Von beiden Männern gehen Trauer und Enttäuschung aus. Da ich Oliver mit meiner Magie umklammere, spüre ich seine Fassungslosigkeit und seine ohnmächtige Verzweiflung noch deutlicher. Zweifellos hatte er in den Marburgern eine Art Familie gefunden. Kein Wunder, dass er Annaburg nun den Rücken kehrt. Wenn ich die Männer doch nur direkt fragen könnte, worum es geht. Sie würden mir allerdings kaum antworten.»Was wirst du nun tun, Oliver?«, frage ich daher behutsam.»Ich, äh, also, ich weiß noch nicht genau.«Die erste Lüge.»Ich kenne da eine, die mir vielleicht eine Arbeit vermitteln kann.«Immerhin nicht ganz gelogen.»Und dann muss ich sehen, wie es weitergeht.«Wahrheit.»Diese Bekannte, von der du sprichst«, frage ich, »wo lebt sie denn?«»Das weiß ich auch nicht so genau. Ich glaube, mal hier, mal da.«Die Wahrheit. Soso.»Hör mal, Oliver: Du wirst doch wohl keinen Unfug anstellen?«Er zuckt leicht zusammen.»Nein, natürlich nicht!«Was immer der Kerl vorhat, er hat ein verdammt schlechtes Gewissen deswegen. Ich mache mir eine gedankliche Notiz. Vielleicht lohnt es sich, den Burschen im Auge zu behalten. Zu schauen, wohin er geht. Nur für den Fall.Was mich aber viel mehr interessiert, sind die Unstimmigkeiten, die es in der Gruppe gegeben hat. Lars und seinen Freund werde ich nicht zum Reden bringen, so viel ist klar. Höchstens wenn... Aber nein. Ich hatte mir versprochen, nicht noch einmal mit Lars ins Bett zu gehen. Zu schade, dass bei den ganzen Befragungen meiner Frauen mit den anderen Männern nichts herausgekommen war. Aber Moment mal: Wieso war Oliver eigentlich nicht mit dabei gewesen? Wir hatten alle Männer zur Befragung hergeholt, die damals bei jener schicksalhaften Dinnerparty mit dabei waren. Die untereinander befreundet waren. Ich war davon ausgegangen, dass diese Liste mit derer der Marburger deckungsgleich war.»Oliver, wann bist du eigentlich zu den Marburgern gestoßen?«Seine Augen weiten sich. Wieder schnellt sein Blick zu Lars und wieder gibt der ihm durch ein Nicken zu verstehen, dass es in Ordnung ist, mir zu antworten.»Vorletzten Herbst. Es muss Anfang September rum gewesen sein.«Also rund zwei Jahre später. Ich Närrin! Wieso hatten wir das nicht vorher überprüft? Welche weiß, wie viele Männer uns so noch durch die Lappen gegangen sind?Lars hat sich schließlich doch noch bereit erklärt, mir die Namen der übrigen Marburger zu nennen. Nicht, dass ich darauf angewiesen wäre, aber es erspart meinen Mädels und mir viel lästige Recherchearbeit.Außerdem hat mir Lars zusätzlich die Namen derer aufgeschrieben, die bereits aus der Gruppe ausgeschieden sind. Es sind glücklicherweise nicht viele, bloß sechs, und ein Name ist mir dabei sofort ins Auge gestochen.»Robert? Ja, der war tatsächlich in dieser Männergruppe drin.« Irene Tamarasra zuckt mit den Schultern. »Sie haben ihn aber vor einer Weile ausgeschlossen. Fragen Sie mich nicht, wie lange ich mir dieses armselige Gejammer anhören musste.«Das muss ich genauer wissen! »Er ist also nicht freiwillig gegangen?«»Nein. Aber dieses Schicksal teilt er mit fast allen Männern von Lügenleserinnen. Die will auf Dauer keine dabeihaben. Absolut lächerlich, wenn Sie mich fragen. Es ist ja nicht so, dass sich meine Magie auf meinen Mann übertragen würde.« Sie lacht. Auch meine Mundwinkel wandern bei der wahnwitzigen Vorstellung nach oben. Ein Mann mit Lügenlesemagie, was wäre das für eine verrückte Welt! »Wenn Sie mich fragen, kein großer Verlust. Weder für Robert noch für die anderen Männer.«»Wäre es denn möglich, Frau Tamarasra, wenn ich Ihren Robert dazu kurz befragen dürfte? Es dauert auch nicht lange.«Sie mustert mich kurz, zuckt dann mit den Schultern und zieht die Tür ganz auf.»Komme Sie ruhig herein. Ich dachte zwar immer, die Goldene Garde hätte Wichtigeres zu tun, aber wenn Sie meinen...«Ich lasse mich von der Frau nicht provozieren. Sie ist nicht immer einfach und nicht jede kommt mit ihrer Art zurecht. Ihre Magie dagegen hat uns schon zig Mal geholfen. Zudem wären wir ohne sie nie auf diesen Fall gestoßen.Während sie mich in das Wohnzimmer führt, ruft sie nach ihrem Mann. Der erscheint prompt. Offenbar war er gerade dabei, Gemüse zu schneiden. Er hat eine Schürze umgebunden, hält in einer Hand ein kleines Schälmesser, in der anderen eine Karotte.»Ja, Irene?«, fragt er mit nervösem Blick.»Setzen Sie sich doch«, sagt Frau Tamarasra zu mir und deutet auf ein bequem aussehendes Sofa. Dann erst wendet sie sich an ihren Gatten. »Robert, das hier ist Frau Beatesdother. Sie ist eine sehr ranghohe Goldene Gardistin. Sie möchte dir einige Fragen stellen. Es versteht sich sicher von selbst, dass du hier die Wahrheit sagst.«»Selbstverständlich?«So wie er spricht, klingt es eher wie eine Frage, denn wie eine Antwort. Doch das ist nicht das, was mich am meisten irritiert.»Nun, Ihr Gatte wird in Ihrer Gegenwart wohl kaum eine Lüge riskieren, nicht wahr?«Der Blick, mit dem die Lügenleserin mich bedenkt, trieft geradezu vor Verachtung.»Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich dafür Magie verschwende? Für die Worte eines unbedeutenden Mannes? Pff!«Spricht`s, kehrt mir den Rücken zu und verlässt den Raum. Charmant war das nicht.Ihr Mann scheint derlei Verhalten gewohnt zu sein. Er steht mit leicht vornübergesunkenen Schultern da, macht keinerlei Anstalten, sich ebenfalls zu setzen, und wirkt insgesamt nicht trauriger als zuvor. Vielmehr macht er auf mich den Eindruck permanenter Verdrießlichkeit. Er richtet den Blick seiner braunen Augen ständig woanders hin, weicht meinem dabei aber konsequent aus. Seine Augenbrauen sind etwas buschig für meinen Geschmack, doch die Körperhaltung hat etwas Devot-Männliches, auf das viele Frauen anspringen. Kein Zweifel: Dieser Mann weiß, wo sein Platz ist. Mein Gefühl sagt mir, dass ich hier besonders behutsam vorgehen sollte.»Hallo Robert, deine Frau hat mich ja schon vorgestellt. Du musst keine Angst haben, du hast nichts falsch gemacht oder so! Ich habe lediglich ein paar Fragen an dich, dann bin ich schon wieder weg. In Ordnung?«Er nickt.»Ja, in Ordnung?«Wieder diese seltsame Betonung einer Antwort als Frage. Das scheint wohl einfach seine Art zu sein.Robert wechselt das Messer in die linke Hand und zupft sich dann am rechten Ohrläppchen.»Was kann ich für Sie tun?«»Es geht um eine Gruppe namens »Die Marburger«, der du für einige Zeit angehört hast. Keine Angst, das ist nicht verboten oder so. Im Gegenteil, ich bin hier, um sie zu beschützen. Dafür brauche ich aber deine Hilfe! Also, ist es richtig, dass du einmal Mitglied dieser Gruppe warst?«Er schaut sich nach allen Seiten um, bevor er eifrig nickt.»Ja, ich war sogar Gründungsmitglied?«»Ach ja? Das ist ja interessant! Bis wann warst du in der Gruppe?«Sein Blick geht nach rechts oben.»Bis vor einem halben Jahr?«»Bist du freiwillig aus der Gruppe ausgetreten?«Ich bin dem Strom an dunklen Gefühlen gewappnet. Allerdings überrascht mich ihre Stärke. Männer sind emotionaler als weibliche Menschen; dennoch hatte ich nicht mit einer solch heftigen Reaktion gerechnet. Ich zwinge mich, langsam durch die Nase ein- und den Mund wieder auszuatmen.»Nein«, sagt er, »ich bin nicht freiwillig gegangen? Sie wollten mich nicht mehr dabeihaben?«»Weißt du auch wieso?«Kopfschütteln. Das ist nicht die Wahrheit.»Du hast aber eine Vermutung?«»Vielleicht?« Er wechselt Gemüse und Messer jetzt immer von einer Hand in die andere. Mache ich ihn so nervös oder ist das auch das Teil seines Wesens?»Und die wäre?«Bewusst lehne ich mich etwas zurück. Er soll nicht merken, wie gespannt ich bin. Zum Glück ist das Sofa eher hart als weich, so dass ich nicht drohe in den Polstern zu versinken.Robert nimmt wieder beide Gegenstände in eine Hand und zupft sich am Ohrläppchen. Die Gefühle, die von ihm ausgehen, werden stärker, verdichten sich zu einer dunklen Masse, die sich in die feinen Maschen meines Magienetzes setzt und sie zu verkleben droht. Obwohl ich weiß, dass ich nicht ersticke, fühlt es sich so an. Schnell schotte ich einen Großteil meiner Magie ab. Ich glaube nicht, dass ich sie bei Robert benötigen werde. Mit der Körpersprache und Mimik ist der Mann ein offenes Buch. Dank Antje bin ich so weit abgehärtet, dass mir das Gefühl der Falschheit, das der Mann wellenartig ausstrahlt und das mich trotz Abschottung weiterhin zum Teil erreicht, bloß eine leichte Übelkeit verursacht. Nichts, was ich nicht unter Kontrolle hätte.»Sie wollten nicht, dass ich mitbekomme, was sie vorhaben?«Wahrheit.»Weil deine Frau eine Lügenleserin ist?«»Ja?« Hoffentlich merkt er mir nicht an, wie sehr mir seine fragende Art auf die Nerven geht.»Was hatten sie denn vor? Hast du eine Ahnung?«»Äh, nein?«Dieser Mann ist ein wahrhaft schlechter Lügner.»Und wenn du raten müsstest?«»Nein?«Ich beschließe, ihm ein wenig auf die Sprünge zu helfen.»Laut Aussage einiger Mitglieder kam es zu einer Art Zerwürfnis innerhalb der Marburger. Weißt du etwas davon?«»Ja?« Wieder dieser hin- und her schweifende Blick. »Es ging darum, wie wir unsere Ziele durchsetzen? Etwas bewegen?«»Die Sache mit den Männerrechten?«Ich kann Robert ansehen, dass es mir nicht gelungen ist, diesen lächerlichen Begriff wertfrei auszusprechen. Ja nun, ich bin schließlich auch nur ein Mensch.»Ja? Nein? Im Grunde schon, sicher, aber einige hatten etwas Radikaleres vor?«»Und was?«Ein Ausdruck, den ich nicht deuten kann, huscht über sein Gesicht.»Das weiß ich nicht sicher?«Seit ich mir einen ersten Eindruck über den Mann verschaffen konnte, war meine Hoffnung, er könne mir brauchbare Hinweise liefern, immer mehr geschwunden. Dieses Männchen wird kaum über wichtige Informationen verfügen, geschweige denn dass irgendeine so unvorsichtig wäre, ihn in etwas Wesentliches einzuweihen. Und zwar nicht nur, weil seine Frau Lügenleserin ist und ihm so jede Wahrheit entlocken könnte.Dennoch möchte ich einen letzten Versuch wagen.»Hör mal Robert, ich möchte ehrlich sein: Etwas Schreckliches geht in Annaburg vor! Ich weiß noch nicht welche oder warum, aber Tatsache ist, dass eine Männer ermordet. Und das auf abscheulichste Art. Alle bisherigen Opfer waren sogenannte Marburger. Also, was auch immer deine Freunde geplant haben oder hatten, es scheint ihnen eine mächtige Feindin eingebracht zu haben, vielleicht sogar eine ganze Truppe. Wenn du also etwas weißt oder auch nur vermutest, dann sag es mir bitte!« Soll ich es wagen? Verflixt, ich sehe keine andere Möglichkeit. »Ihr letztes Opfer, Vlademir, konnte uns vor seinem Tod noch einige Fragen beantworten.« Irre ich mich, oder ist Robert leicht zusammengezuckt? Bestimmt kannte er Herrn Valentinajewitsch. »Wir wissen jetzt, dass er seine Mörderin kannte. Wir fürchten, dass noch mehr Männer in Gefahr sind. Also bitte, wenn du irgendetwas weißt oder weißt, welche etwas wissen könnte, sag es mir!«Aus einem Bauchgefühl heraus lasse ich meine Magie wieder fließen. Lasse sie durch den noch von nachklingender Falschheit durchwobenen Raum streichen und sich sanft um den Mann legen.Er sieht mir nicht in die Augen, sondern knapp an mir vorbei.»Seit ich nicht mehr dabei bin, habe ich keinerlei Kontakt mehr zu den anderen. Was immer sie vorhaben, ich bin nicht mehr eingeweiht. Ich weiß auch nicht, welche Frau hinter den Morden steckt?«Er fühlt sich wie die vollkommene Wahrheit an.Kapitel SiebenunddreissigEtwas ist nicht richtig. Eine andere Präsenz befindet sich in meinem Raum. Sie ist voller Unbehagen. Kein Grund, die Augen zu öffnen. Kein Grund, den Reflexen das Feld zu überlassen. Seit wir zusammenleben, kommt Frenja nachts ständig in mein Zimmer. Anfangs hat mich das irritiert; es schien ihr jedoch zu helfen, also habe ich sie gelassen. Sie schleicht sich leise an meine Zimmertür. Dabei werde ich zum ersten Mal hellhörig. Selbst wenn ich schlafe, bin ich es gewöhnt, ein leichtes Knarren zu hören, wenn eine durch den Flur geht. Schleichen dagegen erweckt meine Aufmerksamkeit.Dann die Türklinke: Nahezu unhörbar, wenn Fran unter Magie ist, ansonsten einen Hauch lauter.Sie schiebt die Tür sachte auf, ganz langsam, nur so weit, dass sie sich halb ins Zimmer schieben kann. Sie hält inne. Ein paar Mal habe ich geblinzelt, geschaut, was Fran macht.Gar nichts. Sie steht nur da und schaut mich an. Ob ich noch da bin? Ob ich allein bin? Ob ich noch atme?Nach einer Weile geht sie wieder. Schließt die Tür so hauchzart hinter sich, wie es gar nicht so recht zu ihr zu passen scheint. Als wäre jetzt endlich alles wieder in Ordnung. Bin ich unter Magie kann ich dabei stets ihre Erleichterung spüren. Oder eher das Versickern ihrer Besorgnis.Auch jetzt liege ich da und halte den Atem an. Gebe vor, weiterhin tief und fest zu schlafen, halte die Augen geschlossen. Ich gönne meiner Freundin diesen Moment des Friedens. Mittlerweile nehme ich Frenjas nächtliche Kontrollbesuche gleichmütig hin, meine Magie ebenso. Heute jedoch ist etwas anders. Es zupft und zieht an mir und verwandelt meinen wohligen Dämmerzustand in den beginnenden Prozess des Aufwachens.Wieso?So sachte, dass sich mein Herzschlag um keine noch so kleine Winzigkeit erhöht, ziehe ich meine Magie zu mir heran. Werfe ich sie jetzt als Netz aus, wird Franja merken, dass ich wach bin. Ich bin gut, aber sie auch. Also lasse ich meine Magie einfach fallen. Defensivität ist Frans große Schwäche, sie kennt immer nur das Offensive. Das macht sie zu solch einer guten Leibwächterin für die Goldene Frau: Ständig überlegt Fran, wie sie selbst angreifen würde, und wappnet sich dagegen. Möchte eine sie austricksen, muss sie indirekt vorgehen. Passiv.Meine Magie verteilt sich auf dem Boden. Einen Hauch weite ich sie noch aus - sie darf nicht zu dünn werden! - dann liegt sie genau so still wie ich. Jetzt heißt es warten. Trügt mich mein Bauchgefühl und Fran verlässt gleich mein Zimmer wie sonst auch?Stille. Es fällt mir immer schwerer, meinen Puls ruhig zu halten. Kann Fran mein Herz klopfen hören? Ihre Magie ist wild und somit zu einem Teil unberechenbar.Da, Schritte! Leise und federleicht. Als sie in meine Magie tritt, vibriert diese leicht. Merkt Fran etwas? Ihr Gang verlangsamt sich nicht. Was hat sie vor?Ich spüre, wie sie innehält. Meine Magie schnurrt sanft. Was immer sie vorhat, es fühlt sich für sie richtig an. Kaum habe ich den Gedanken zu Ende gebracht, als es mich trifft wie ein Schlag in den Magen. Ich muss alles aufbringen, was ich habe, um nicht zusammenzuzucken. Eine Welle türmt sich auf die nächste, von Scham durchtränkt und doch ehrlich und über mir bricht das Chaos zusammen: Sie fühlt sich gleichzeitig schuldig und im Recht.Was soll ich tun?Nichts. Abwarten. Tue ich jetzt so, als hätte sie mich geweckt, werde ich nie erfahren, was Frenja vorhatte.Ich konzentriere mich weiter darauf, Magie und Körper möglichst ruhig zu halten. Lasse meinen Magieteppich noch dünner werden. Frenjas Schuldgefühle hinterlassen glühende Fußabdrücke in mir. Ich atme gegen den Schmerz.Meine Nackenhärchen stellen sich auf: Jetzt ist Fran an meinem Bett angelangt und beugt sich über mich. Verharrt. Ich dagegen muss mich zwingen, nicht die Luft anzuhalten. Ich atme weiter. Worauf wartet sie?Dann endlich richtet sie sich wieder auf, oder zumindest interpretiere ich die Geräusche so und das plötzliche Fehlen eines Hauchs von Körperwärme. Sie bewegt sich. Ohne meine Magie wüsste ich nicht, wohin: So lange trotz wachem Zustands die Augen geschlossen zu halten, macht mich seltsam orientierungslos.Sie geht - noch immer federleicht und schulddurchtränkt - zu meinem Nachtschränkchen. Ein leises Schleifen. Stille. Fast übermächtig das Verlangen, die Augen zu öffnen und nachzuschauen, was sie tut. Sie wird kein offenes Licht riskiert haben - das würde ich selbst durch geschlossene Augenlider wahrnehmen - doch wenn der Mond günstig steht und keine Wolke den Weg versperrt, kann eine in ihrem Licht viel erkennen. Was würde ich sehen?Es dauert nicht lange, da erahne ich wieder eine leichte Bewegung, höre erneut das leicht schleifende Geräusch. Und dann ist Frenja plötzlich weg. Ihr Scham ringt noch kurz mit der warmen Süße ihrer Aufrichtigkeit. Sie schließt die Tür hinter sich und ist weg.Endlose Minuten gehen dahin, bis ich es endlich wage, die Augen zu öffnen. Alles wirkt wie immer. Ohne meine Magie wüsste ich nicht, dass eine im Raum gewesen ist.Ich hatte recht mit meiner Vermutung: Der Mond scheint so hell in mein Zimmer, dass es keiner weiteren Lichtquelle bedarf.Mein nächster Blick richtet sich auf mein Nachtschränkchen. Darauf stehen die üblichen Sachen: ein abgedecktes Glas voller Wasser, ein Stapel Zettel, von denen der oberste bereits halb vollgeschrieben ist, ein Stift, ein sorgsam zusammengefaltetes Stofftuch und mein Armband. Es ist alles noch da. Die Schublade des kleinen Schrankes ist voller Krimskrams, der einzige Ort, an dem ich Unordnung dulde. Hätte Frenja die Schublade herausgezogen, hätte ich das gehört. Unten in der offenen Fläche stehen nur meine Hausschuhe. Alles ist normal. Das kann nicht sein.Hätte Frenja im letzten Moment ihr Vorhaben abgebrochen, wären ihre Schuldgefühle schlagartig von ihr abgefallen. Es wäre höchstens ein minimaler Rest geblieben. Nein. Was immer sie in meinem Zimmer wollte, sie hat es in die Tat umgesetzt!Worauf könnte sie es abgesehen haben? Meine Notizen könnten unter Umständen interessant sein. Nur, dass ich ihr erstens alles erzähle und es zweitens selbst Fran schwerfällt, meine Schrift zu lesen. Selbst wenn sie eine Abschrift davon hätte anfertigen wollen, wieso hätte sie damit bis zur Nacht gewartet? Sie hätte das hundert Mal tun können, während ich unterwegs war. Die Notizen liegen geradezu beschämend offen herum, selbst Antje hätte sie problemlos lesen können.Das flaue Gefühl in mir verstärkt sich. Welcher will ich hier etwas vormachen? Ich weiß ganz genau, welches der einzige Gegenstand hier ist, der das Interesse meiner Mitbewohnerin geweckt hat: mein Armband.Frenja hat keinerlei Hehl daraus gemacht, wie sie das mit den Magiespeichersteinen sieht und wie und vor allem wofür sie diese verwenden würde. Am liebsten schon heute.Und wenn mir eine mit Luftmagie die Hand vor die Kehle halten würde, ich könnte nicht sagen, ob der Schmuck anders da liegt als zuvor. Ich schließe kurz Augen, greife nach dem Armband und nehme es vorsichtig auf. Der Hauch eines Klackerns ist zu hören. Ich lege es wieder hin und greife dieses Mal mit meiner Magie danach. Und da ist es: das leise Schleifgeräusch!Frenja hat sich das Armband genommen und es nach einigen Augenblicken wieder zurückgelegt. Wozu? Wohl kaum, um es nur anzuschauen. Nein, sie hatte etwas damit vor. Die angeordneten Steine sehen aus wie immer. Könnte sie es gegen ein Imitat ausgetauscht haben? Möglich.Ich betaste die einzelnen Steine, wiege den Schmuck in meiner Hand. Wieder scheint es mir unmöglich, eine Veränderung festzustellen. Zwar meine ich, dass es sich etwas anders anfühlt als sonst, der Eindruck kann jedoch allein der Situation geschuldet sein. Daher sind die meisten Menschen auch schlechte Zeuginnen: Selbst wenn wir mit jeder Faser unseres Seins versuchen, objektiv die Wahrheit zu sagen; nur mit möglichst klaren Worten wiederzugeben, was wir gesehen haben, macht uns die Neigung unseres Selbst, es allen recht machen zu wollen und so genau das zu sagen, von dem wir denken, dass die Andere es hören möchte, einen Strich durch die Rechnung.Und dennoch: Die Lösung muss direkt vor mir liegen!Keine schleicht sich in das Zimmer ihrer Vertrauten, riskiert, die Freundinnenschaft zu zerstören, nur um sich etwas anzuschauen. Aber was sonst? Hat sie eine Probe der Steine genommen? Sie sind genauso wohlgeformt und schön wie immer, fast schon obszön in ihrer Bescheidenheit. Welche würde glauben, welch zerstörerische Kraft ihnen innewohnt?Ich streiche über das Armband. Die Kühle der Steine auf meiner Haut beruhigt mich. Ich werde schon noch herausfinden, was das eben war.Wie schon so unzählige Male davor lasse ich meine Finger über die einzelnen Steine streifen. Es ist, als würden die winzigen Kanten Impulse in meine Fingerkuppen schicken. Jetzt, da ich weiß, dass die Steine Magie speichern, sollte sich das bedrohlich anfühlen, doch alles, was ich spüre, ist Frieden. Dieses Ritual ist mir zu vertraut.Meine Finger wandern wie von selbst über das Schmuckstück, ertasten einen Stein nach dem anderen, drehen das Armband mit, fast schon unbewusst, ein Bewegungsreflex, der mich auf seltsame Art dabei unterstützt, meine Gedanken anderweitig schweifen zu lassen. Was wollte Frenja mit dem Armband? Hat sie einen Test mit ihm durchgeführt? Eine Zeichnung angefertigt? Nur hätte sie es dafür ja nicht aufheben müssen.Alles ist einheitlich und gleich, bis ich zu der Stelle mit dem Verschluss komme. Dann beginnt der Kreis von vorn.Jetzt schon?Ich halte inne. Senke den Blick. Wie konnte ich das nur übersehen? Es ist so offensichtlich!Ein Stein fehlt.Ich stehe lange vor der Zeit auf und verlasse die Wohnung, ehe Frenja aufgestanden ist. Ich kann ihr nicht unter die Augen treten. Zumindest jetzt noch nicht.Eigentlich seltsam: Obwohl sie diejenige ist, die etwas Falsches getan hat, fühle ich mich schuldig.Die ganze Nacht lang habe ich mich hin- und her gewälzt. Irgendwann bin ich wieder eingeschlafen, doch ich fühle mich wie gerädert. Die Frage, wieso sie das getan hat, brauche ich mir nicht zu stellen. Ich weiß es: Sie will ihrer Schwester wieder Magie verschaffen.Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob das funktionieren wird oder ob es zur Verwendung fremder Magie notwendig ist, auch die körperlichen Voraussetzungen zu erfüllen.So oder so, der Stein muss wieder her! Ich habe der Goldenen Frau versprochen, Frenja im Zaum zu halten - und habe kläglich versagt. Habe unterschätzt, wie sehr sie ihre Schwester über alles andere stellt. Selbst über mich.Frenjas Kompromisslosigkeit sollte mich überraschen. Bin ich all die Jahre ihr gegenüber blind gewesen? Die Mondhexe kommt mir in den Sinn. Obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte, habe ich nie nachgeforscht, was aus ihr geworden ist. Hat Frenja ihr wirklich nur eine Lektion erteilt? Oder hat sie sie umgebracht? Ein Schauer rinnt mir über den Rücken. Habe ich deswegen keine Fragen mehr gestellt? Weil ich die Antwort tief in meinem Inneren kannte, aber nicht wissen wollte?Ich seufze. Seit einiger Zeit erfahre ich immer mehr über den Menschen, der ich bin. Er hat mit dem, der ich einmal sein wollte und der ich zu sein glaubte, nicht mehr allzu viel gemein.Sei es, wie es sei! Sich über die Fehler der Vergangenheit zu grämen, hat noch nie einer etwas gebracht. Es gilt, im Jetzt etwas zu tun, um das Morgen zu verändern. Egal, was Frenja vorhat: Ich muss den Stein wiederbeschaffen. Koste es, was es wolle.Kapitel AchtunddreissigFrenjas Verrat sitzt wie ein bitterer Stachel in meiner Brust.Nein, es war kein Verrat! Sie hat sich den Stein nur ausgeliehen, sicher will sie damit nur weitere Experimente machen.Sie hat ihn mir weggenommen, hat sich heimlich wie eine Diebin in mein Zimmer geschlichen!Sie ist verzweifelt, weil ihre Schwester immer mehr der Sucht verfällt.Sie ist... Ach Himmelfraugöttin, wieso nehme ich sich in Schutz? Frenja hat mir etwas gestohlen, da ist nichts schönzureden! Sie hat genau gewusst, was sie tut, tat es gegen meinen ausdrücklichen Willen. Und gegen den der Goldenen Frau.Was soll ich jetzt tun? Ich müsste es melden, so viel ist klar. Doch wenn ich das tue... Frenja würde sofort in Ungnade fallen, ihre Karriere und ihr Leben in Annaburg wären mit einem Schlag vorbei. Andererseits, ist das meine Schuld? Meine Verantwortung? Oder nicht vielmehr von ihr selbst in Kauf genommene Konsequenz ihres Verhaltens? Was nach meiner Meldung mit ihr geschieht: Das ist nicht meine Entscheidung, sondern die der Goldenen Frau. Ich bin fein raus, habe ja nur meine Pflicht erfüllt, nicht wahr? Meine eigenen Gedanken widern mich an. Am liebsten würde ich Frenja jetzt packen und schütteln, sie anschreien, ob ihr überhaupt klar ist, in welche Lage sie mich gebracht hat.Es würde nichts nützen. Es geht um ihre Schwester. In Frenjas Augen sind die Magiespeichersteine der Schlüssel zu Antjes Heilung. Sie ist blind für das, was aus ihrer Schwester geworden ist, und erkennt somit nicht, was sie braucht! Wir alle haben unser Päckchen zu tragen. Die einen mehr, die anderen weniger, gewiss. Doch eine jede hätte Grund, sich wie Antje von der vermeintlichen Sicherheit und Sorglosigkeit der Traumbringer davonschweben zu lassen. Sich in der süßen Weite diverser Substanzen zu verlieren oder aber so viel zu trinken, bis eine nicht mehr denken kann.Sofort erscheint vor meinen inneren Augen das Bild eines großen Bechers Met. Ich schlucke. Göttin, wird es je anders werden?Auch das liegt vielleicht nicht in meiner Hand. Wohl aber, wie ich damit umgehe.Abrupt stehe ich auf - Ablenkung hat schon immer am besten geholfen - und schaue mich um. Alle meinen Frauen sind emsig bei der Arbeit.»Diana, Kathi, Maike, Svetlana, Teambesprechung!«, verkünde ich. Es dauert nicht länger als einen Wimpernschlag und sie sind auf dem Weg zur Teeküche.Als wir versammelt sind, schließt Diana die Tür. Dann schaut sie mich erwartungsvoll an.»Gibt es etwas Neues, Dritte?«»Oh ja, du wie! Und zwar, dass wir etwas übersehen!« Ich halte den Teekessel unter die Leitung und ziehe Wasser heran. Einfach, um meine Hände zu beschäftigen. »Etwas, das direkt vor unserer Nase liegt, ich spüre es genau. Wir haben alle Antworten, bloß stellen wir die falschen Fragen!«Katharinas Miene zeugt von Verwirrung. »Wie meinst du das?«»Damit meine ich, dass es unmöglich sein kann, dass wir so viel ermitteln und nichts, aber auch gar nichts, dabei heraus kommt! Ich bin mir sicher, wir kennen längst alle Zutaten des Rezeptes - wir müssen sie nur in der richtigen Reihenfolge einsetzen.«Diana runzelt die Stirn.»Um bei deiner Metapher zu bleiben: Wieso sollten wir das tun? Wenn wir wissen, was wir kochen wollen und auch genau wissen, welche Zutaten dafür vonnöten sind... Wir sind alle erfahrene Gardistinnen, jede von uns war schon an der Lösung mehrerer Fälle beteiligt. Wie kommst du also auf den Gedanken, wir würden etwas falsch machen? Versteh mich nicht falsch, ich bin nicht eingeschnappt oder so. Na ja, vielleicht ein bisschen. Aber ich meine das durchaus ernst: Eine jede von uns hat sich bereits mehrfach bewiesen.«»Genau das meine ich doch«, sage ich. »Genau das ist es ja, was mich stutzig macht. Seit wie vielen Wochen arbeiten wir jetzt an dem Fall? Wie viele Zeuginnen haben wir befragt? Es müssen Dutzende gewesen sein! Es kann einfach nicht sein, dass wir nichts Relevantes herausgefunden haben. Es kann einfach nicht sein! Nur wieso sehen wir es dann nicht?«Katharinas Augen haben einen nachdenklichen Ausdruck angenommen. Sie holt tief Luft, bläst die Wangen auf, atmet hörbar wieder aus. Hebt den Zeigefinger, holt erneut tief Luft und schüttelt dann den Kopf.»Was wäre, wenn... Also nur mal angenommen, dass...«»Ja?« Ich mache eine Geste, die ihr bedeuten soll, weiter zu sprechen.»Also stellt euch mal vor, also, ich bleibe jetzt auch mal bei dem Bild mit dem Rezept. Nicht, dass ich groß Ahnung vom Kochen hätte, aber es passt ja: Das Gericht ist unsere Mörderin. Dann sind die Zutaten das Wie und Wieso.«»Genau.«»Und je mehr wir über die unbekannte Mörderin wissen, desto eher können wir herausschmecken, welche Zutaten benutzt worden sind. Oder andersherum, wenn wir das Wie und Wieso kennen, bekommen wir unsere Mörderin heraus.«»Stimmt genau«, sagt Maike, »das Problem ist nur, dass wir das Wieso nicht kennen und an dem Wie auch Zweifel hegen. Im Grunde haben wir nichts außer einer ungefähren Vorstellung über unsere Mörderin. Das reicht eben einfach nicht aus.«»Schon klar, aber lass mich zu Ende sprechen! Schau, ich habe mir überlegt, dass vielleicht genau das der Fehler ist. Magret, Diana, erinnert euch mal daran, was es mit der Toten in der Tränenburg damals auf sich hatte! Da wären wir doch anfangs nie im Leben drauf gekommen.«Diana und ich wechseln einen Blick. Wo Kathi recht hat, hat sie recht.»Also was«, fährt sie fort, »wenn wir uns auch hier ein vollkommen falsches Bild gemacht haben? Was, wenn wir sozusagen die ganze Zeit dachten, wir würden einen Braten zubereiten, dabei handelt es sich bloß um Gemüsesuppe? Was, wenn es ein vollkommen anderes Wie, Wieso und Welche gibt?«Langsam beginne ich zu verstehen, worauf sie hinauswill.»Du meinst, wir sollten all das noch mal in Frage stellen?«Sie nickt.»Also nochmal bei Null anfangen?« Diana stöhnt auf. »Ehrlich, Leute, ihr wollt mich doch veralbern!«»Aber nein, lasst uns doch mal ein Experiment machen. So wie Kathi sagte: Wir nehmen einfach das, was wir anfangs dachten und überlegen uns, was das genaue Gegenteil davon wäre.«»Na schön.« Diana klopft sich mit dem Finger an den Mund. »Da hätte wir eine Frau als Täterin, die ihren Mann im Streit quasi aus Versehen umbringt. Und zwar mit ihrer Magie. Das Gegenteil davon wäre ein Fräulein oder eine Großmutter, die...«»Ihren Nicht-Mann nicht tötet?«»Die ihren Nicht-Mann tötet«, korrigiere ich Maike. »Du solltest das mit dem Gegenteil nicht ganz wörtlich nehmen.«»Aha, in Ordnung. Also: eine Nicht-Frau tötet ihren Nicht-Mann nicht mit ihrer Magie.«»Motiv?«»Nicht-Streit.« Svetlana grinst breit.»Haha«, macht Kathi und wirft ihr einen missbilligenden Blick zu. Die zuckt entschuldigend mit den Schultern.»Aber nein, Diana, Kathi, so dumm ist das gar nicht! Das Gegenteil eines Mordes im Affekt, im Zuge eines Streites ist...« Es läuft mir eiskalt den Rücken hinunter. »... ein Mord, der geplant war!«Wir schauen uns abwechselnd an.»Diese Möglichkeit hatten wir ja schon in Betracht gezogen«, sagt Maike langsam. »Kalkulierte Morde an Männern, um sich an Frauen zu rächen. Oder aber, das Gegenteil ist der Fall und es geht tatsächlich um die Männer an sich.«»Genau. So unwahrscheinlich wie wir anfangs dachten, ist es ja nun doch nicht. Ich sage nur »Die Marburger«.«Dianas Gesichtsausdruck lässt keinen Zweifel daran, was sie von der Männervereinigung hält. »Also hätten wir eiskalt geplante Morde, begangen von einer Nicht-Frau« - »von mehreren Nicht-Frauen!« - »Stimmt, danke Kathi! Also: Morde, begangen von mehreren Nicht-Frauen, und zwar mit nicht-eigener Magie, an Männern, weil...? Ehrlich, Dritte, hilft uns dieses kleine Gedankenspiel jetzt wirklich weiter?«»Ich glaube schon!«, sage ich, »überleg doch mal: Gisela von Siegen hatte von mehreren Brandquellen gesprochen, die von mindestens drei Personen gefüttert worden sein müssen. Vlademir, das Brandopfer, sagte, er habe die Täterin gekannt. Zwei Aussagen, die Kathis Gedankenspiel untermauern.«Diana nickt langsam. »Richtig. Und ein Feuer kann eine auch ohne Magie legen, das wäre sogar für einen Mann zu schaffen.«»Gut, aber was ist mit den anderen Todesarten? Die bekommt eine nicht ohne Magie hin!« Svetlana hält einen Finger hoch. »Da hätten wir das Opfer, das erstickt ist. Klar, eine kann einer anderen auch Mund und Nase zu halten. Doch wie erklären sich dann die Spuren von Pelzmagie in der Lunge des Mannes? Dann«, sie hält einen zweiten Finger hoch, »der Mann, der erschlagen wurde. Das ginge mit Körperkraft, in Ordnung, aber das geplatzte Herz? Ehrlich, ich sehe da keine Möglichkeit.«Verflixt. Dabei hatte sich Katharinas Idee so vielversprechend angehört.»Schau nicht so betreten, Kathi. Du hast uns dennoch einen wertvollen Ansatz geliefert.«In ihrem Schulterzucken liegt etwas Mutloses. Zeit, dass ich endlich wage, wovor ich mich, wie ich mir gnadenlos eingestehen muss, die ganze Zeit gedrückt habe.»Leute, macht bitte weiter. Ich muss los, etwas abklären. Ihr alle wisst, was zu tun ist. Diana hat Recht: Ihr seid alle erfahrene Goldene Gardistinnen! Ich vertraue euch und baue auf euch. Ihr alle habt eure Stärken. Dieser Fall verlangt uns alles ab, doch ich bin mir sicher, dass wir es auch dieses Mal schaffen werden. Und hey: wenn es einfach wäre, hätten wir das Ding ja der Stadtgarde überlassen.«Mein Scherz entlockt den Frauen nur müde Lächeln. Nun, besser als nichts.Der geheime Garten empfängt mich mit wohltuender Stille. Die wenigen Geräusche - das Rascheln eines weglaufenden Hasen, das Zwitschern eines Vogels - unterstreichen die Ruhe nur, die der Ort ausstrahlt. Mit einem Mal wünsche ich, ich wäre nach Hause gegangen, würde das Experiment in meinem Zimmer durchführen, anstatt diesen friedvollen Platz damit zu besudeln. Dann würde ich allerdings Gefahr laufen, mich Antje oder im schlimmsten Fall Frenja stellen zu müssen. Dazu bin ich noch nicht bereit. Statt klar meine Gefühle zu erkennen und eine Entscheidung zu treffen, spüre ich in mir nur einen wirren, dunklen Knoten. Ich höre in mir nur eine wimmernde Stimme, die fragt, ob nicht bitte alles wieder so sein kann wie früher.Da ich mich der Angelegenheit noch nicht stellen möchte, stelle ich mich einer anderen Sache. Stumm flehe ich zur Göttin, leiste Abbitte. Was ich vorhabe, ist wider die Natur. Aber ich muss es wissen: Könnte ich die Magie einer anderen Frau benutzen? Könnte ich damit töten?Ich lehne mich an die Mauer und atme tief durch. Schimpfe mich selbst einen feigen Hahn. Umklammere mit der linken Hand das Armband so fest, dass meine Knöchel weiß hervortreten und sich die Kanten der Steine in meine Haut bohren. Los jetzt?Ich atme tief ein und aus. Packe meine Magie und dränge sie zusammen, bis sie nur noch eine schwere, feste Kugel ist. Verstaue sie in meinem Allerinnersten. Jetzt kann ich andere hervorholen.Es müsste so einfach sein. Wenn es stimmt, was Frenja sagt - und es sieht danach aus! - dann habe ich genau das schon oft getan. Unbewusst nach Magie hinausgegriffen, mir welche aus den Steinen gezogen und sie angewandt. Theoretisch müsste sich noch immer die für mich giftige Magie der Wissenschaftlerin in den Steinen befinden. Bloß in welchen? In Einzelnen oder allen? Ich weiß es nicht. Dann wäre da noch Frenjas wilde Magie, die sie angeblich irgendwie dort eingespeist hat. Genau kann es keine wissen, doch ich gehe davon aus, dass sich die wilde Magie und meine nicht miteinander beißen werden. Zumindest hoffe ich das. Wenn es darum geht, dass die Magiearten zueinander nicht allzu konträr sein dürfen, dann... Es hat keinen Sinn. Keine kann wissen, ob das hier funktionieren oder gehörig schief gehen wird. Vielleicht wäre mein Zimmer daher doch die bessere Wahl gewesen. Nun, es ist jetzt, wie es ist.Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf das Schmuckstück an meiner Haut und unter meinen Fingern. Die Steine. Versuche, in mir das Verlangen zu finden, welches mich vor allem zum Ende meiner magiefreien Zeit hin überkommt: die Sehnsucht, endlich wieder Magie durch meine Adern prickeln zu fühlen.Etwas ist da. Zupft an mir und zieht mich zu sich hin. Oder bin ich es, die zieht? Sehnen. Hinausgreifen. Etwas zu fassen bekommen.Kaum habe ich daran gedacht, schon ist es mir wieder entglitten. War der Prozess zu gewollt, zu bedacht?Ich versuche, mich zurückzulehnen. Lasse meine Sinne frei gleiten. Da ist es wieder! Dieses Mal greife ich nicht sofort zu, sondern folge den Bewegungen, die die mir fremde Magie macht. Sie ist kraftvoll und schön. Schillernd. Ich kann sie nicht richtig begreifen, nicht in Worte fassen, wie sie sich anfühlt.Als wäre sie neugierig geworden, kommt die Magie näher. Streift meine Fingerspitzen. Ich unterdrücke den Impuls, sie an mich zu reißen. Stupse sie vorsichtig. Sie stupst zurück und erst jetzt wage ich es, mich nach ihr auszustrecken. Ich ergreife einen hauchfeinen Faden. Ohne zu atmen, und langsam, unendlich langsam ziehe ich sie näher zu mir heran und in mich hinein.Ich spüre, wie Frenjas Magie aus den Steinen heraus und in mich hinein rinnt. Mich ausfüllt. Das reicht erstmal, denke ich, und schon reißt die Verbindung ab. Die Magie bleibt. Wie ein Vogel in meinen geschlossenen Händen. Ich spüre, wie sie sich bewegt und gäbe ich sie frei, würde sie einfach so davonschweben. Hinauf zur Göttin? Ich weiß es nicht. Es spielt keine Rolle. Angst steigt auf und schnürt mir die Kehle zu: Göttin, was mache ich hier? Aber auch wilder Triumph: Ich habe es geschafft!Kapitel NeununddreissigIch lasse die Magie in mir kreisen wie goldenen Met in einem Becher. Sie verteilt sich, strömt durch meine Adern, Arme, Beine, Zehen und Finger. Ich lasse sie einmal alles durchdringen. Einzig an die Kugel meiner eigenen Magie lasse ich sie nicht heran.Mein schweifender Blick fällt auf die Mauer. Zeit für einen ersten Testlauf! Ich habe schon oft gesehen - und bewundert - mit welch müheloser Leichtigkeit Frenja Gegenstände bewegt. Ihre Telekinesemagie reicht so viel weiter und ist so ungemein stärker als meine. Ich ziehe probehalber einen dicken, toten Ast heran und schleudere ihn gegen die Mauer. Einfacher als ein Fingerschnippen. Ich lasse weiter Äste folgen, nur dass ich sie nun behutsamer ablege. Langsam gewöhne ich mich an die nicht so simple Wildheit der mir fremden Magie. Ast folgt auf Ast und mit jedem Mal werden meine Bewegungen fließender und präziser. Noch würde ich mich allein mit dieser Magie bewaffnet in keinen Kampf wagen, doch wüsste ich mich zur Not zu verteidigen. In mir breitet sich sogar Freude aus: Es funktioniert! Kurz streift mich der Gedanke, was die Göttin von all dem hier halten würde. Ich schüttele ihn ab und konzentriere mich ganz auf mein nächstes Vorhaben.Ich hole aus und jage die Magie in den aufgeschichteten Holzstapel. Auf den Rückstoß bin ich nicht vorbereitet, fast wirft er mich zu Boden. Die Magie trifft den Stapel mit voller Wucht. Äste werden weggesprengt, andere zu kleinsten Splittern zerrieben. Kein Zweifel: Ein solcher Treffer von Frenja und ihre Gegnerin würde am Boden liegen.Es dauert eine Weile, bis ich mich beruhige. Noch geht mein Atem keuchend, nur zögerlich verlangsamt sich mein Herzschlag wieder. Jetzt fühle ich mit aller Deutlichkeit, dass diese Magie nicht die meine ist. Sie hat diese Spitzen, wie kleine Widerhaken, die in mir entlangscharren. Noch hinterlassen sie keine tiefergehenden Wunden, doch mir ist vollkommen klar, dass mir eine häufige Anwendung dieser Magie erheblichen Schaden zufügen würde. Ob es überhaupt eine Magie gibt, die sich problemlos mit der meinen verträgt?Die Frage ist müßig und ohne jedes Bedauern beschließe ich, den Rest von Frenjas Magie gehen zu lassen. Ich konzentriere mich auf die Steine und gebe sie frei. Wieder spüre ich den Strom und wieder dieses Sehnen. Nur, dass es dieses Mal von den Steinen ausgeht, die die Magie komplett in sich einsaugen. Instinktiv presse ich meine Magie noch fester in mich. Nicht, dass auch davon etwas eingespeist wird!Den zweiten Holzstapel errichte ich per Körperkraft. Die Arbeit ist ungewohnt, klärt aber meine Gedanken. Das leichte Ziehen in meinem Bauch rührt von meiner Aufregung her: Seit ich 19 Jahre alt war, habe ich nicht mehr versucht, derart auf Gegenstände einzuwirken. Aber vielleicht hat sich ja in puncto Magie doch noch etwas bei mir getan... Als ich so weit bin und die Hand ausstrecke, schießt meine Magie los, als hätte sie nur darauf gewartet. Im Vergleich zu Frenjas Magie schneidet sie kläglich ab: Weder gibt es einen hörbaren Aufprall noch durch die Luft fliegende Äste. Die Wirkung meiner Magie auf gefühllose Gegenstände ist, gelinde gesagt, peinlich. Die Tücke meiner Kraft, die ich für den aktiven Kampf nutze, liegt darin, meiner Gegenüber das Gefühl zu vermitteln, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Ich kann eine dazu bringen, sich zu übergeben, sich die Haut vom Gesicht zu schneiden oder sich das eigene Bein abzuhacken. Bei toten Dingen klappt das logischerweise nicht. Entsprechend sind die Auswirkungen meiner Attacke gleich null und meine Enttäuschung darüber lächerlich. Für den direkten Vergleich müsste ich also ein Tier oder wenigstens eine Pflanze nehmen. Doch da weigere ich mich! Stattdessen greife ich auf etwas zurück, das allein bei mir Schaden anrichtet: meine Erinnerung. Ich bin nicht stolz darauf, doch wie jede andere Goldene Gardistin kam auch in meinem Leben der Punkt, an dem ich töten musste, um andere zu beschützen oder nicht selbst getötet zu werden. Sogar viele Male. Noch kann ich die Toten zählen, die ich hinterlassen habe - die Göttin möge geben, dass dem immer so bleiben wird!Einige davon rufe ich mir ins Gedächtnis zurück, bleiche, schmerzverzerrte Gesichter. Blutende, schweißüberströmte Körper, Hände, die schützend vor Bäuche, an Köpfe, in Wunden gelegt worden sind. Ich kann auf so viele Arten töten. Meine Magie bleibt gleich und doch ist es jedes Mal anders. Der Kampf, die Situation entscheidet. Mag sein, dass es eine Ausrede ist, aber ich bin mir keiner bewussten Entscheidungen gewahr, wenn ich kämpfe. Ich agiere und reagiere. Ich töte, wenn ich muss.Ich vergleiche die Toten mit dem Holzstapel. Versuche, die von Frenjas Magie erzeugte Wucht auf einen menschlichen Körper zu übertragen. Das Bild, das sich mir ergibt, verursacht Übelkeit in mir. Es besteht nicht der geringste Zweifel: Mithilfe der Magiespeichersteine könnte ich eine töten. Und ich könnte es so aussehen lassen, als wäre es eine andere gewesen. Sie könnten mich direkt neben dem vollends zerstörten Körper einer anderen finden; keine würde mich verdächtigen, weil meine Magie nicht dazu passt.Ich senke den Blick, schaue auf die Steine. Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, deren Strahlen noch eben vereinzelt durch das Blätterdach gefallen sind. Sofort wird es kälter. Die Steine erwidern stumpf meinen Blick. So klein. So unscheinbar. So tödlich.Ich brauche Hilfe.Ich kann und will Frenjas Diebstahl und die Konsequenzen, die sich aus der Existenz der Magiespeichersteine für die Mordserie ergeben, nicht länger für mich behalten. Zu gern würde ich mich Heidrun anvertrauen. Vielleicht auch Diana, nur hat mir die Goldene Frau genau das verboten. Es muss doch eine Möglichkeit geben! Denn eins steht fest: Langsam weiß ich nicht mehr weiter.Ich trommele noch einmal das Team zusammen, lasse meine Leute jede Frau überprüfen, bei der ich mein Armband je habe untersuchen lassen. Sie wundern sich. Wissen nicht genau, was das soll oder wieso ich ausgerechnet diese Wissenschaftlerinnen im Visier habe.Ich ziehe weitere Goldene Gardistinnen hinzu. Lasse sie alle Marburger überwachen. Und Robert, vorsichtshalber. Alle anderen Fälle, soweit nicht dringend, werden auf Eis gelegt. Das hier hat jetzt oberste Priorität. Welche auch immer dafür verantwortlich ist, ob eine oder mehrere, da draußen geht etwas vor sich, das Annaburgs Männer sterben lässt wie die Fliegen. Was wir nicht weiter zulassen können. Und wenn jede meiner Frauen Doppelschichten schiebt, wir werden die Mörderin finden!Heidrun mustert mich mit kühlem Blick, ihr Gesicht eine einzige unbewegte Fassade.»Du hast also beschlossen, all unsere Kräfte zusammenzuziehen.«»Ja«, sage ich schlicht.»Was bedeutet, dass mir Frauen an wichtigen Stellen fehlen.«»Ich weiß.« Wenn nur diese verflixte Operation der Ostgarde nicht ausgerechnet jetzt stattfinden würde!»Und als nächstes schröpfst du die Leibwache der Goldenen oder was?«»Natürlich nicht.«Heidrun seufzt.»Magret, ich habe dich aus guten Gründen zu meiner Stellvertreterin ernannt. Dennoch komme ich nicht umhin, mich über dich zu wundern. Erneut.«Der Vorwurf schwebt über uns wie ein unsichtbarer Angelhaken. Ich beiße nicht an.»Also schön. Wenn ich das richtig sehe, kann ich von Glück sagen, dass ich bis eben mit Farda und Isa unterwegs gewesen bin; ansonsten hättest du sie mir auch noch weggeschnappt, wäre das möglich?«Ich zucke mit den Schultern. Wenn sie in dieser Stimmung ist, tut eine gut daran, sie nicht zu unterbrechen.»Außerdem hat mir ein Vögelchen gezwitschert, dass du vorsichtig bei der Stadtgarde angefragt hast, ob die einige unserer Fälle übernehmen oder uns zusätzlich personell aushelfen können.«Vorsichtig angefragt dürfte die Untertreibung des Jahrhunderts sein. Vielmehr habe ich so ziemlich jeden Gefallen eingefordert, den ich bei meinen ehemaligen Kolleginnen offen hatte und darüber hinaus Schuldscheine geschrieben - und das in Mengen!»Wenn sich Madam Beatesdother dann vielleicht doch mal bequemen würde, zu antworten? Was bei den Sieben Finsterhexen soll das?«Ich atme tief durch.»Anders schaffen wir es nicht, Heidrun. Anders schaffe ich es nicht. Wir müssen die Marburger bewachen, jeden einzelnen Mann, und das rund um die Uhr. Ohne zusätzliche Hilfe schaffen wir das nicht. Und dann sind da noch einige Spuren, denen wir nachgehen müssen.«»Die da wären?«»Das kann ich dir leider nicht sagen.«»Wie bitte?«Obwohl äußerlich ruhig, spüre ich Zorn in Heidrun brodeln.Soweit ich mich entsinne, habe ich ihr noch nie die Auskunft verweigert. Wie auch, sie ist meine Vorgesetzte.»Es tut mir leid, Heidrun, aber...«»Was aber? Ich bin immer noch Zweite der Goldenen Garde!«»Ich weiß, bloß...«»Bloß was?«, faucht Heidrun.»Es gibt da ja eine höhere Instanz, die... Es tut mir leid.«Heidruns Augen verengen sich zu Schlitzen. Obwohl die Silberne Frau und die Bronzene theoretisch über Heidrun stehen, ist jeder von uns klar, dass es einzig und allein die Goldene Frau sein kann, die zwischen uns steht.»So so.«»Ehrlich, Heidrun, ich wünschte, ich könnte dir mehr sagen!«Sie schüttelt den Kopf. Ihrem Lächeln nach mehr amüsiert als verärgert.»Und weiß diese »höhere Instanz«, was du hier treibst?«Ich weiche ihrem prüfenden Blick aus. Heidrun hatte schon immer die Stärke, sofort den Schwachpunkt herauszufinden, egal ob es sich um eine Person oder ein Vorhaben handelt.»Also...«»Schon gut. Ich verstehe schon.« Heidruns blaue Augen richten sich auf mich, zwingen mir ihren Blick auf. Als ich ihn erwidere, sehe ich Sorge in ihrem Gesicht stehen. »Das ist ein gefährliches Spiel, das du da spielst, Magret Beatesdother. Streng genommen handelst du ohne jegliche Befugnisse. Du berufst dich auf die Goldene Frau, um dich an mir vorbeizumogeln und unterlässt es gleichzeitig, dir ihr direktes Einverständnis zu holen.« Sie runzelt die Stirn. »Dir ist doch hoffentlich klar, dass sie eher früher als später Wind von der Sache bekommen wird, nicht wahr?«Ich nicke unbehaglich.»Ist es das wert?«Ich denke an all die toten Männer. An meine Freundin Frenja, die so viel Leid und Kummer durchgemacht hat. Die schon so viel erlebt hat und immer für mich da war, wenn es mir schlecht ging. Die mir ihr Vertrauen und ihre Freundinnenschaft geschenkt hat. Doch hier geht es um Menschenleben!»Ja, das ist es wert! Aber da ist noch etwas. Ein Gefallen, um den ich dich bitten möchte.« Hier hilft nur Ehrlichkeit. »Ich vertraue keiner so wie dir. Du bist die Einzige, die nur einer einzigen Person gegenüber Rechenschaft ablegen muss. Und vermutlich auch die Einzige, die mir helfen wird, ohne Fragen zu stellen.«Heidruns beugt sich vor.»Was ist los, Magret, steckst du in Schwierigkeiten?«»Es tut mir leid, das kann ich dir nicht sagen.«»Na schön. Was ist das für ein Gefallen, den ich dir tun soll?«»Du musst eine für mich überwachen« Ich hoffe, Heidrun sieht mir an, wie ernst es mir ist. »Keine sonst darf davon wissen.«»Verstehe. Aber wieso fragst du mich und nicht Frenja?«Es fühlt sich an wie hässlicher, grässlicher Verrat.»Weil sie es ist, die du für mich überwachen sollst.«Kapitel VierzigIch habe Frenja verraten.Das ist natürlich vollkommener Blödsinn, im Gegenteil: Trotz dessen, was sie getan hat, versuche ich mein Möglichstes, sie zu beschützen. Ich bewege mich dabei auf dünnem Eis: Wie Heidrun angemerkt hat, laviere ich mich damit sowohl an ihr als auch an der Goldenen Frau vorbei. Beide lasse ich über die wichtigsten Aspekte im Dunkeln. Während die Goldene Frau nicht ahnt, dass Frenja mir einen Magiespeicherstein gestohlen hat, ahnt Heidrun nicht einmal etwas von deren Existenz.Im Gegensatz zur Goldenen weiß Heidrun, dass ich einen Verdacht gegen Frenja hege; sie weiß allerdings nicht, welchen. Dürfte ich sie in das Geheimnis der Steine einweihen, hätte ich es dann übers Herz gebracht? Vermutlich nicht, denn eins ist sicher: Sobald Heidrun erfährt, wessen ich Frenja verdächtige, würde sie ganz andere Maßnahmen ergreifen. Heidrun von Borgentreich ist weiß die Göttin keine Frau, bei der der Zweck jedes Mittel heiligt. Bei einer Serie von Morden an hilflosen Männern könnte die Sache anders aussehen. Hand aufs Herz, nichts macht uns so wütend, nichts lässt uns in so ohnmächtiger Wut zurück, wie wenn sich eine an unseren Männern und Kindern vergreift.Noch besteht Hoffnung, dass ich mich irre. Noch besteht Hoffnung, dass sie es nicht war. Dass es nicht Frenja ist, die hinter all den Morden steckt - und das mit Hilfe meines Armbandes.Seit mir dieser schreckliche Verdacht gekommen ist, habe ich versucht, zu rekonstruieren, wann die Morde stattgefunden haben, wo sich Frenja an jenen Tagen aufgehalten hat und ob sie Zugang zu meinem Armband hatte.Ich hätte es gemerkt, wenn tagsüber ein Stein gefehlt hätte, definitiv. Aber nachts? Wenn Frenja mir den Stein entwendet und vor meinem Erwachen zurückgebracht und wieder in der Fassung befestigt hätte?Scham steigt in mir auf: So oft, wie ich bis vor Kurzem betrunken eingeschlafen bin, hätte sie sich alles von mir ausleihen können, ohne dass ich es bemerkt hätte.Die Morde begannen, nachdem ich mein Armband zum letzten Mal einer Wissenschaftlerin zur Untersuchung gegeben hatte. Wir hatten vereinbart, dass ich mein Schmuckstück noch in der selben Woche abholen komme. Selten waren mir fünf Tage so lang vorgekommen. Dann aber wurde ich zu einem Duell am Platz der Stummen Frau gerufen und musste mich den Rest des Tages mit aufgebrachten Angehörigen der beiden Kontrahentinnen herumschlagen: Während die bewusstlosen Duellantinnen ins Krankenhaus befördert wurden, beanspruchten beide Familien den Sieg für sich - welch ein Theater!Frenja kam mit einer Handvoll Gardeschwestern vorbei, um, wie sie sagte »sich ein bisschen die Schau anzusehen« und ich bat sie kurzerhand, das Armband für mich abzuholen. Bis ich zuhause war, war es schon fast wieder Morgen. Ich erinnere mich genau, dass es auf dem Küchentisch lag, als ich mittags aufstand. War das der Tag, an dem der erste Mann ermordet wurde?So sehr ich mich auch bemühe, ich schaffe es nicht, eine zuverlässige Ordnung der Tage herzustellen. Es wäre möglich. Es wäre möglich, dass Frenja an diesem Tag das Geheimnis der Magiespeichersteine entdeckt hat. Das würde bedeuten, sie hätte mich wochenlang belogen, ohne mit der Wimper zu zucken. Fast muss ich lachen: Als ob das schlimmer wäre als die Reihe von Morden!Das Wie wäre somit geklärt. Frenja brauchte nichts weiter als ein paar Freundinnen zu bitten, ihre Magie in die Steine zu speisen. Was zwangsläufig bedeutet, sie hätte sie einweihen müssen. Oder auch nicht: Offenbar hatten sowohl Frau Rauke als auch ich die Steine unbewusst benutzt. Ich erinnere mich gut an meinen Test im Freien: Es ist, als würde zwischen Magie und Steinen eine natürliche Anziehungskraft bestehen. Frenja hätte nur eine Freundin, etwa eine mit Feuermagie, um etwas zu bitten brauchen, bei dem sie ihre Magie einsetzt. Sie gibt ihr das Armband, »Schau mal, ist das nicht schön?«. Die Freundin nimmt es, hält es und dann »Oh je, mein Tee ist kalt, wärst du so nett? Ich habe gerade meine Tage.« Und schwups, schon landet ein kleiner Teil Feuermagie in dem Armband. Genug, um mehrere Brände zu legen? Mit Sicherheit. Und dann? Weil sie nicht wusste, wie viel Magie in den Steinen gelandet ist, hat sie vorsichtshalber noch Speiseöl mitgenommen. Auf die Art könnte sie jeden der armen Männer getötet haben.Das Warum. Auch hier frage ich mich: Ist es so einfach? Es sind Männer. Ist das der Grund? Einfach so? Weil ein Mann, Matthias Schulte, und seine Männer Antje das angetan haben? Weil Männer ohne jede Magie sich erdreistet haben, Hand an Frauen zu legen, sie auszuweiden wie Schlachtvieh und ihnen das zu nehmen, was sie zu Frauen macht? Schulte und seine Bande lauern da draußen. Und in Annaburg? Tut sich eine Gruppe Männer zusammen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, mehr Rechte für sich einzufordern. Ich wüsste nicht, dass sie gewalttätig sind, doch sie stehen auch nicht auf der Seite der Göttin, der Goldenen Frau und der naturgegebenen Ordnung. Ist es das? Welche nicht für uns ist, ist gegen uns? Konnte es Frenja nicht ertragen, hier in ihrer eigenen Heimatstadt solcherlei Reden zu hören? Ist das Frenjas Rache?Mein Herz zieht sich zusammen. Ich wünschte, der Gedanke wäre lächerlich. Doch da war dieser Ausdruck in Frenjas Gesicht, als sie zurückkam, nachdem sie der Mondhexe eine Lektion erteilt hat. Ich bin mir sicher, dass sie sie umgebracht hat. Vollkommen zu Recht, so gesehen, in einem mehr als fairen Kampf. Aber zeigt das nicht, dass Frenja zu allem bereit ist, wenn es sich um ihre Schwester dreht?Rache an Männern. Was im ersten Moment absurd klingt, ergibt auf schräge Weise Sinn. Sie hatte Motiv, Gelegenheit und Mittel. Ist meine Freundin eine Mörderin? Ich hoffe, Heidrun wird es für mich herausfinden. Ist Frenja die Täterin, bedeutet das ihren sicheren Tod. Es wäre jedoch naiv zu glauben, dass der Goldenen Frau oder Heidrun nicht sogar schon ein begründeter Verdacht reichen würde, sie unauffällig verschwinden oder bei einem »Unfall« umkommen zu lassen. Nein, ich bin es meiner Freundin schuldig, sie zu beschützen, bis ihre Schuld zweifelsfrei bewiesen ist. Sollte sie die Mörderin sein, bin ich es ihren Opfern dagegen schuldig, sie auszuliefern, auch wenn das ihren Tod bedeutet.Ein weiterer Gedanke blitzt auf: Sollte Frenja tatsächlich schuldig sein, wie oft hat sie sich dann schon einen Stein von mir für die Morde »ausgeliehen«?Der Verdacht ist so ungeheuerlich, dass er mir mitunter lächerlich vorkommt. Dann ist wieder alles ganz logisch und erklärt sich von allein.Ich reibe mir das Gesicht. Bin müde. Wenn ich in der letzten Nacht überhaupt in den Schlaf gefunden habe, dann hielten mich wirre Albträume gefangen. Um vier Uhr hatte ich es aufgegeben und war ins Büro gekommen. Um zu arbeiten oder um Frenja aus dem Weg zu gehen?Egal. Dieser Fall bringt mich an meine Grenzen, wie schon lange nichts mehr. Daher sitze ich jetzt schon seit geschlagenen zwei Stunden hier und sehe dabei zu, wie sich meine Gedanken im Kreis drehen. Ich darf mich nicht in etwas verrennen, darf auf keinen Fall meine Emotionen über meinen Verstand siegen lassen! Wäre das ein anderer Fall mit anderen Beteiligten, würde ich jetzt auch nicht die Hände in den Schoß legen und meine Leute allein ihrer Arbeit überlassen. Eine Hauptverdächtige zu haben ist gut und schön. Doch bis es in der Hinsicht etwas Neues gibt, kann es nie schaden, weiter in andere Richtungen zu ermitteln. Ich darf mich nicht von dem Umstand ablenken lassen, dass Frenja meine Mitbewohnerin ist. Meine beste Freundin.Diana klopft an die offene Tür der Teeküche, in die ich mich verzogen habe.»Dritte, hast du einen Moment?«»Ja klar, was gibt`s?«»Es geht um die Wildschweine.«Soweit ich weiß, wollte Diana sie so oft wie nur möglich in den frühen Morgenstunden in Annaburg »patrouillieren« lassen, wobei eine das auf keinen Fall so nennen kann. Vielmehr sorgt sie dafür, dass die Tiere an strategische Stellen immer ausreichend Leckerbissen vorfinden, und fängt sie dann später am Tag ab, um sich ihre Eindrücke mitteilen zu lassen. In der Hoffnung, dabei etwas Interessantes zu entdecken. Die intelligenten Tiere haben uns schon des Öfteren einen wertvollen Hinweis geliefert.»Schieß los!«, sage ich daher.»Es war wieder eine ruhige Nacht.«»Die Tiere machen einen guten Job!«Diana zuckt mir den Schultern.»Das ist es ja gerade. Für sie ist es kein Job.«»Ich weiß! Ich wollte damit nur sagen, nun, dass sie sich das Futter redlich verdient haben. Besser?«»Es sind Tiere und keine Menschen, Magret.« Die Goldene Gardistin zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich hin. Kratzt sich am Kopf. »Die Sache ist die, Dritte, dass ich sie nicht mehr länger hier halten kann. Es sind Tiere, verstehst du, die in gewissen Zyklen leben. Zwingt eine sie, gegen ihre Gewohnheiten an einem Ort zu bleiben, lässt eine sie wider ihre Natur handeln.« Sie schüttelt den Kopf. »Nicht gut. Gar nicht gut.«»Gut, dann... Keine Ahnung, wie ich das jetzt formulieren soll, ohne dir und den Tieren zu nahe zu treten, aber dann besorg dir doch einfach neue?«Unter normalen Umständen hätte der Blick, mit dem Diana mich bedenkt, mein Gewissen gerührt.»Magret, das ist nicht so einf-«»Schon gut. Mach, wie du meinst! Lass die Tiere gehen, lass sie fortziehen, auf dass sie sich paaren oder was auch immer sie sonst in dieser Jahreszeit machen!«Dianas Gesichtsausdruck, als sie geht, zeigt mir deutlich, was sie von meinen Nicht-Wissen bezüglich heimischer Tierarten hält. Sie hat ja recht: So oft, wie sie mir schon von Ebern, Bachen, Frischlingen und Rotten erzählt hat, sollte ich längst Profi sein. Egal jetzt. Alles egal.Kathi erscheint im Türeingang. Offenbar hat Diana ihr verraten, dass ich nicht in bester Stimmung bin.»Dritte?«»Ja bitte?«Vorsichtig kommt sie herein, legt ein Schriftstück vor mich hin.»Die Auswertung des Probenvergleichs ist soeben gekommen.«»Welche Proben?«Kathi runzelt die Stirn.»Es ging um die Haare? Die in der Lunge des fünften Opfers, Herr Hijo de Maria? Ich sollte sie laut dir mit denjenigen Haaren vergleichen lassen, welche die Magie von Loreen von Lemgo, der Chefin des Opfers, in ihren Opfern hinterlässt? Dazu sollte sie unter meiner Aufsicht Magie auf ein totes Tier schießen und dann sollte ich Proben aus der Leiche-«»Schon gut!« Wie konnte ich das nur vergessen haben? »Erzähl! Was hat die Auswertung ergeben?«Kathi tippt auf eine Stelle auf dem Papier und schiebt es mir rüber.»Nicht identisch.«Erwartungsvoll schaut sie mich an. Bestimmt hat sie eine andere Reaktion von mir erwartet. Sie kann nicht wissen, dass ich mir längst sicher bin, welche dahintersteckt. Wenn Frenja für den Mord die Magie einer anderen Frau benutzt hat, ist es nur logisch, dass die Zusammensetzung nicht mit der von Frau von Lemgos Magie übereinstimmt. Jede Magie ist individuell und die verflixten Steine ermöglichen es jeder Frau, sie beliebig für sich zu verwenden. Nicht zum ersten Mal wünschte ich, meine Eltern hätten mir dieses verfluchte Armband nie geschenkt.Kapitel EinundvierzigIch lasse mir das Ergebnis der Auswertung kurz durch den Kopf gehen. »Hm. Wissen wir denn, woraus genau sich die Haare zusammensetzen, die wir in der Lunge des Opfers gefunden haben?«»Ja, auch das habe ich auf deinen Wunsch hin genauestens untersuchen lassen. Vermutlich hat es deshalb so lange gedauert, die mussten die Haare mit allem möglichen vergleichen.«Katharina dreht den Zettel wieder zu sich um und liest vor: »Probe A enthält die Haare folgender Säugetiere: Hunde (3), Katzen (5), Pferde (7), Rehe (1), Kühe (4)-«»Moment«, unterbreche ich ihre Aufzählung, »was sollen immer diese Zahlen hinter den Arten bedeuten?«»Das ist die Anzahl der verschiedenen Individuen, denen Haare entnommen worden sind. Und noch Menschen (67). Das war es dann.«»Du meinst, eine hat Haare von drei verschiedenen Hunden, fünf Katzen und so weiter gesammelt, die dann wild durchgemischt und anschließend dem Opfer irgendwie in die Lunge geschickt?«»Laut Analyse, ja.«»67 Menschen, ist das deren Ernst?«»Ja. Wir könnten die Proben auch noch weiter bestimmen lassen: Um welche Tierrassen es sich genau handelt, wie alt sie zum Zeitpunkt des Haarverlustes waren, solche Sachen. Auch bei den Menschenhaaren könnten wir näher nachschauen. Nur würde das vermutlich wieder zig Wochen dauern.«In meinem Kopf rattert es.»Moment Mal, sagtest du 67 unterschiedliche Menschenhaare?«»Haare von 67 verschiedenen Menschen.« Kathi nickt.»Das meinte ich doch! Aber welche zum Himmel hat Zugang zu Haaren von 67 Menschen? Also Menschen, wohlgemerkt, nicht Tiere. Das Opfer hat Pferdeäpfel eingesammelt. Hunde- und Katzenhaare dürften ja auch kein Problem sein und Kühe stehen außerhalb Annaburgs auch genug herum. Aber 67 Menschen? Eine kann sie ja schlecht Gästen auf einer Dinnerparty einzeln ausrupfen. Oder kann eine die irgendwo kaufen?«Kathi zuckt mit den Schultern.»Nicht, dass ich wüsste, wozu auch? Theoretisch könnte ja eine mit Luftmagie, die Pelzmagie nachahmen möchte, die Haare dafür an jedem öffentlichen Ort einsammeln Auf dem Boden von Gasthoftoiletten zum Beispiel.«»Bäh!« Ich schaudere.»Stimmt.«»Außerdem funktionieren Menschen so nicht. Die gehen nicht den kompliziertesten Weg, nicht einmal den einfachsten, sondern meist schlichtweg den, der da ist. Also lautet die Fragen, welche hat problemlosen Zugang zu so vielen unterschiedlichen Haaren?«Klare Sache - wir schauen uns an. »Haarschneiderinnen!«Kathi schnippt mit dem Finger. »Und die haben Assistentinnen, die das ganze Zeug auffegen, oder? Das macht doch keine selbst!?«»Genau.«Es wäre für jede Frau nur ein Magieschnippen, einen Boden von abgeschnittenem Haar zu befreien. Doch wenn wir alle so vorgehen würden, wären für Männer und Fräulein ja gar keine Arbeiten mehr übrige. Davon abgesehen ist das auch unter der Würde einer jeden Frau.»Dann mal los, Kathi! Geh alle Listen mit allen Zeuginnen Schritt für Schritt durch, auch die der Männer. Vor allem die der Männer! Gibt es eine, die als Haarschneiderin arbeitet? Und die Männer: Arbeitet vielleicht einer bei einer Haarschneiderin oder hat eine Frau, die das tut? Oder noch besser, klappre zunächst die Läden an sich ab und lass dir Listen der Mitarbeiterinnen geben.«Katharina stöhnt auf.»Dritte, das dauert Tage, die alle durchzugehen!«»Übertreib mal nicht!« Ich winke ab. »Wenn ihr sauber gearbeitet und alles vermerkt habt, dürftest du noch heute damit fertig werden. Nimm dir meinetwegen noch Maike zur Hilfe, aber das muss reichen.«»Na schön. Aber welche Liste soll Vorrang haben, nach welchen soll ich zuerst schauen: den Frauen oder den Marburgern?«Wenn ich mit meinem Verdacht richtig liege, führt die Spur direkt zu Frenja. Doch was, wenn ich mich irre? Noch besteht die winzige Chance dazu. Und immerhin wird sie von Heidrun persönlich überwacht.»Die der Männer.«Fast wäre Kathi mit Diana beim Verlassen der Teeküche zusammengestoßen.»`tschuldige, Kathi!«Alarmiert stehe ich auf. Der Schwall Unbehagen, der Diana umgibt, könnte ganze Hallen füllen.»Was ist los?«»Es gab wieder einen Mord.«Kapitel ZweiundvierzigEs ist ein Trauerspiel. Die gesamte Spezialabteilung und zusätzliche Gardistinnen der Goldenen Garde setzen all ihre Fähigkeiten ein und erreichen nichts.Der Mann zu unseren Füßen war ein Marburger. Er stand auf der Liste, er wurde überwacht. Die beiden zuständigen Gardistinnen sind bleich wie der Mond. Die eine hatte ihren Dienst um Punkt sechs Uhr in der Frühe angetreten. Die andere hatte sich sicher schon schlafen gelegt. Goldene Gardistinnen sind zäh, doch tagelange Zwölfstundenschichten bringen jede an ihre Grenzen.Immer wieder stecken die beiden Frauen die Köpfe zusammen. Jetzt ist es sieben Uhr acht. Hat sich der Mord während der ersten oder der zweiten Schicht ereignet?So elementar die Antwort auf diese Frage für die Gardistinnen ist, für das Opfer spielt sie keine Rolle mehr. Auch nicht für die sichtlich mitgenommene Gattin Frau Karadeniz.»Haben Sie Ihren Mann umgebracht?«, frage ich und breite dabei mein Magienetz aus.»Was? Nein! Was denken Sie denn?«Ihr Empörung prallt an mir ab, ihre Aufrichtigkeit wärmt mir nicht das Herz.»Über welche Magieart verfügen Sie?«»Ich kann, also, ich kann Dinge sich ausweiten lassen. Hören Sie, ich weiß, wonach das aussieht, aber ich schwöre, ich habe meinen Mann nicht umgebracht! Ich bin eine angesehene Frau und arbeite in der Forschung!«»Ach ja? Woran forschen Sie denn?«, frage ich.»Nun, wir führen Experimente durch, um Lebensmittel auch ohne aufrecht erhaltene Magie länger haltbar zu machen. Wir haben bereits erste Erfolge damit erzielt, Gemüsesorten erst anschwellen zu lassen und dann einzufrieren. Sie sehen also, ich bin eine Frau, die sich für das Wohl aller einsetzt!«Interessant, aber irrelevant.»Und wo waren Sie, als Ihr Mann getötet wurde?«»Was erlauben Sie sich? Ich komme eben aus der Nachtschicht nach Hause und finde meinen Mann tot vor und Sie haben nichts Besseres zu tun als-«»Kann das eine bezeugen?«, hake ich nach, »Dass Sie auf Nachtschicht waren?«Die Frau nickt.»Gut. Das wäre dann erst mal alles«, sage ich und kehre der verdutzten Frau den Rücken.Das hier war pro forma und alle Umstehenden außer Azu Karadeniz wissen das. Unsere Mörderin hat wieder zugeschlagen.Die ersten Gardistinnen, die am Tatort waren, geben mir die wichtigsten Informationen: Das Opfer war dreiundzwanzig Jahre alt und seit sechs Jahren verheiratet. Baldur Azunın hatte keine Kinder und galt bei seiner Frau als braver Ehemann, dem sie die »Sperenzchen mit seinem kleinen Jungsclub« eine ganze Weile durchgehen ließ. Als sie jedoch feststellte, dass die Männer dort mehr taten als zu stricken oder Rezepte auszutauschen, hatte sie ihm die Treffen verboten. Von da an habe der Tote das Haus nur noch für Besorgungen verlassen. Daheim habe er sich nie zu gesellschaftspolitischen Fragen geäußert, sondern sich zurückgehalten, »ganz wie es sich für einen Mann gehört.«Nachbarinnen beschreiben ihn ebenso. Keine traut ihm zu, eine Affäre gehabt zu haben, »obwohl der Bursche weiß die Göttin nicht schlecht aussah!«Davon ist jetzt nichts mehr zu sehen. Augen, Ohren und Lippen sind stark geschwollen, ebenso der Hals. Ein Klumpen Fleisch, der mit einer Zunge nichts mehr gemein hat, hängt dick und seltsam verfärbt aus dem Mund. Ist Herr Azunın daran gestorben? Oder ist der Hals auch nach innen hin zugeschwollen? Die Untersuchung wird es zeigen.Ein Zeichen von mir und eine Gardistin führt die Ehefrau aus dem Raum.Ich winke Katharina heran. Wortlos tritt sie an den Körper heran. Sie streckt die Hände über dem Körper aus und lässt ihren Tiefensinn wirken. Sie beginnt bei den Füßen und arbeitet sich langsam hoch. Sie ist viel zu sehr Profi, um die Nase zu rümpfen, als sie zum Beckenbereich kommt. Wie so viele Opfer eines gewaltsamen Todes hat auch er hier sich zum Ende hin beschmutzt.Als Kathi auf Höhe des Bauches angekommen ist, hält sie zum ersten Mal inne. Dann ein weiteres Mal. Kleine Schweißtropfen bilden sich an ihren Schläfen. Sie geht näher heran, hält die Hände jetzt dicht über das tote Fleisch. Lässt ihre Magie immer wieder in den Bauch- und Brustbereich des Toten gleiten. Schüttelt mehrfach den Kopf. Schließlich geht sie zum Hals und dem Kopf über. Auch hier verharrt sie an mehreren Stellen, geht noch einmal zurück, scheint etwas doppelt und dreifach zu überprüfen.Endlich lässt sie die Hände sinken. Prompt gerät sie ins Taumeln. Eine nahestehende Stadtgardistin fängt Kathi auf, ehe ich selbst reagiere.»Danke«, murmelt sie. »Ich sollte mich wohl einen Augenblick hinsetzen.«Verflixt, ich hätte besser auf sie Acht geben müssen! Das war jetzt bestimmt eine halbe Stunde, während der sie ihre Magie intensiv und ohne Unterbrechungen genutzt hat.»Geht es?«, frage ich und berühre sie kurz an der Schulter.»Ja, Dritte, tut mir leid.«»Kein Ding. Lass dir Zeit, es kommt nicht auf ein paar Minuten an.«Mit dankbarem Blick nimmt Kathi von einer weiteren Gardistin ein Glas Wasser entgegen und leert es.»Ahh, schon besser! Also, Dritte, was ich sagen wollte war: ein ganz schönes Chaos da drin!«»Soll heißen?«»Seine Organe haben versagt, alle miteinander. Oft kann eine nicht auf den ersten Blick ausmachen, wo das Ganze angefangen hat. Organe sind wie, also, stell dir das wie eine Kettenreaktion vor: Versagt das eine, gerät auch das andere in Schwierigkeiten, dann das Nächste und so weiter. Wenn eine Glück hat, können die anderen Organe den Schaden abfangen. Falls nicht...«Ich nicke.»Wie im wahren Leben also. Hast du den Ursprung denn finden können?«»Ja. Anfangs dachte ich, ich schaffe es nicht bei dem ganzen Wirrwarr; dann war es aber doch ganz einfach. Ich bin zwar keine Leichenärztin«, ich wische den Einwand mit einer Handbewegung weg, »aber ich würde sagen, es war ganz klar das Herz. Es hat aufgehört zu schlagen und die Gefäße mit Blut zu versorgen. Was allerdings dazu führte, keine Ahnung.«Ich betrachte noch einmal das geschwollene Gesicht des Toten, das mit der Zeit immer mehr hässliche Flecken annehmen wird.»Das Herz also. Bist du sicher, dass er nicht erstickt ist?«»Ganz sicher. Ich meine, natürlich haben die Lungen ihre Funktion dann auch aufgegeben, irgendwann. Aber wenn er primär erstickt wäre, sähe das anders aus. Eine könnte sagen, er ist auch erstickt, aber zeitgleich ist er an zig anderen Dingen gestorben sozusagen. Multiorganversagen eben.«Eine Magie im Haus, die Dinge sich ausweiten lässt. Das passt exakt zu dem, was wir sehen. Jedoch passt es nicht zur wahren Todesursache dieses armen Mannes. Ein Gedanke durchzuckt mich: Ist das alles nur Schau? Bekommen wir nur das zu sehen, was wir sehen sollen? Hätte die Magie der Frau den Mann getötet, dann wäre ihm entweder das Herz so lange angeschwollen, bis es geplatzt wäre, oder aber magisch vergrößerte Organe hätten sich gegenseitig zerquetscht. So aber sind die Schwellungen nur äußerlich.»Was ist mit dem Hals? Wäre das mit dem Multidingsda-«, »Multiorganversagen«, »Meinetwegen auch das, also wäre das mit dem Multiorganversagen nicht gewesen, wäre er dann erstickt? Will sagen, wie gravierend ist die Schwellung in seinem Hals? Nur äußerlich oder auch so, dass es ihm das Atmen auf Dauer unmöglich gemacht hätte?«Kathi schließt kurz die Augen und nickt.»Tut mir Leid, Dritte, du hast recht, das hätte ich erwähnen sollen. Bin wohl doch etwas durch den Wind. Aber ja, genau so ist es: Das Atmen muss dem Mann in den letzten Minuten seines Lebens extrem schwergefallen sein. Der Hals ist innerlich wie äußerlich stark angeschwollen. Es wäre auch möglich gewesen, dass er aus Versehen an seiner eigenen Zunge erstickt.«Die Stadtgardistin, die Kathi das Wasser gebracht hat, verzieht das Gesicht.»Kommt öfter vor, als eine denkt.«Katharinas schaut sie skeptisch an. »Ach ja?«»Die Leute sind einfach nicht vorsichtig genug. Gerade Männer, wenn sie allein sind. Denken sich, »Och, das ist doch gar nicht so schlimm« und »Ach, ich kann doch mal, ist ja nur ein bisschen«, und zack, schon geht es auf einmal ratz-fatz! Ist dann keine Frau vor Ort, tja, dann ist es das auf einmal gewesen.« Sie zuckt mit den Schultern. »Schon oft genug gesehen. Wie der hier oder wie gesagt eben auch so, dass sie vorher erstickt sind. Denen musste die Leichenärztin dann die eigene Zunge aus dem Hals ziehen. Kein schöner Tod.«»Bitte was?« Kathi starrt die Gardistin ebenso entgeistert an wie ich. »Wie meinen Sie das, dass sie das schon oft gesehen haben? Eine Leiche wie die hier? Wann? Wo? Wie?«»Ach, das weiß ich nicht mehr so genau. Ich bin erst seit fünf Jahren hier in Annaburg, vorher habe ich zig Jahre in verschiedenen Städten im Süden gelebt, habe Dienst in acht verschiedenen Garden getan. Glauben Sie mir, es ist im Grunde immer dasselbe.«Mühsam unterdrücke ich meine Aufregung.»Bitte, liebe Kollegin, wir sind gerade etwas überrascht, wir haben einen solchen Toten nämlich noch nie gesehen. Wenn Sie uns also sagen könnten, woran er Ihrer Meinung nach gestorben ist?«Nun ist es an ihr, überrascht zu sein.»Oh. Ach so. Entschuldigen Sie bitte, ich dachte, der Fall wäre klar. Zumindest für die hocherfahrenen Damen der Goldenen Garde.« Ich gehe nicht auf die kleine Spitze ein. »Nun, allem Anschein nach ist der Mann an einem allergischen Schock gestorben.«Kapitel DreiundvierzigAm liebsten würde ich schreien. Nichts passt zusammen. Immer wenn ich denke, die Mörderin verstanden und den Fall halbwegs gelöst zu haben, immer wenn ich einen Verdacht habe und endlich alles zu passen scheint, geschieht etwas und wir sind wieder am Anfang.Ich darf jetzt nicht durchdrehen. Alle schauen mich an: die Stadtgardistinnen und meine Frauen. Ich muss bleiben und mir die nächsten Schritte überlegen. Anweisungen geben. Dann mal los!»Eine muss bitte sofort Diana Korneliasdother ausfindig machen. Sie soll die Tiere auf gar keinen Fall gehen lassen, ohne sie peinlich genau zu befragen. Nicht, dass eine Wildschweine befragen könnte, ha, aber Diana weiß schon, wie ich das meine. Sagt ihr, wo der Mord hier stattgefunden hat. Dieser Unfall, was auch immer.«Eine Gardistin nickt, verbeugt sich knapp und verlässt den Raum.»Eine befragt hier und jetzt die Ehefrau, ob ihr Mann etwas nicht vertragen hat und was genau das war. Wie er mit der Unverträglichkeit umgegangen ist. Dann wird dieses Haus so lange auf den Kopf gestellt, bis wir die Substanz gefunden haben oder ausschließen können.« Zwei weitere Gardistinnen setzen sich in Bewegung. »Kathi, du holst sofort eine Leichenärztin her. Sie wird Theater machen ohne Ende, aber das ist mir herzlich egal. Sie soll die Obduktion hier und jetzt an Ort und Stelle durchführen. Ihre Beschwerden kann sie gern an mich persönlich richten - nachdem sie mir die Ergebnisse mitgeteilt hat!« Habe ich etwas vergessen? »Alle, die noch keiner Sonderaufgabe nachgehen, teilen sich in zwei Gruppen auf. Die eine kümmert sich um den üblichen Kram: Befragung der Nachbarinnen und Freundinnen, das übliche Procedere. Die andere Hälfte geht ins Archiv und sichtet jede einzelne verdammte Magiekarte. Ich will in spätestens zwei Stunden eine Übersicht haben, welche Magie das hier angerichtet haben könnte.«»Aber hieß es nicht eben noch, der Mann sei an einem Allergieschock gestorben?«, wendet eine Gardistin ein.»Wie heißen Sie?«, blaffe ich.»Romara von Richtsberg, Dritte!«Dass mich jetzt sogar schon eine Stadtgardistin bei meinem Spitznamen nennt, entlockt mir ein Lächeln. Dann werde ich wieder ernst. »Wir schließen nichts aus, bis wir uns ganz sicher sind. Solange die Täterin auf freiem Fuß ist, ermitteln wir in alle Richtungen und wir ermitteln sauber!«»Ja, natürlich«, antwortet sie leise.Meine Zurechtweisung hat die ohnehin angespannte Stimmung weiter verschlechtert. Durchatmen! Du schaffst das!»Hört mal, ihr alle! Ich spare mir jetzt mal das Gesieze, immerhin sind wir alle Gardistinnen und somit Schwestern, egal ob Stadtgarde oder Goldene Garde! Euch ist sicher schon das ein oder andere zu Ohren gekommen. Dieser Mord hier ist höchstwahrscheinlich Teil einer viel größeren Geschichte. Deshalb habe ich ja auch einige von euch bereits sozusagen ausgeliehen. Nicht, damit ihr für uns die Drecksarbeit erledigt, sondern weil wir es allein nicht schaffen. Jeder Schritt ist wichtig, wir dürfen nichts außer Acht lassen! Ich bin ehrlich: Wir sind mit unseren Kräften langsam am Ende. Ihr kennt das, wenn nichts anderes mehr zählt, als eine Täterin zur Strecke zu bringen. Wenn eine kaum mehr essen geschweigedenn schlafen kann, weil sie ganz genau weiß, dass es da draußen nicht mehr sicher ist. So ein Fall ist das hier und bitte euch alle, euer Bestes zu geben! Mag sein, dass euch die Aufgaben langweilig und sinnlos vorkommen. Mag sein, dass ich ungeduldig und harsch zu euch bin und mich auch mal im Ton vergreife. Streng genommen müsste ich sowieso erst eure Obere fragen, ob und wie, und den Dienstweg gehen, wenn ich möchte, dass ihr etwas für mich erledigt. Aber hier und jetzt bitte ich euch einfach: Helft mit! Helft uns, eine skrupellose Mörderin dingfest zu machen! Ich verspreche euch, wenn das hier vorbei ist, werde ich mich bei jeder einzelnen von euch bedanken und sie meinetwegen auf eine Fleischtasche einladen. Aber bis dahin, bitte, muss der Fall hier Vorrang haben!«Die Stadtgardistinnen tauschen Blicke und nicken mir zu, eine nach der anderen. Dann gehen sie. Machen sich stumm und grimmig an die Aufgaben, die ich ihnen aufgetragen habe. Stolz wärmt mir das Herz. Göttin, wir werden es schaffen!Natürlich kann es sein, dass Herr Azunın an einem allergischen Schock gestorben ist, statt dass er ermordet worden ist. Das wäre dann nur eben der größte Zufall, seit die Göttin die Erde erschaffen hat. Nein. Alles passt genau ins Muster, von der schluchzenden Ehefrau über den kinderlosen Mann, der so stirbt, wie eine es zumindest dem äußeren Anschein nach erwartet, wenn die Magie der Gattin im Spiel ist.Jetzt gilt es, den Todeszeitpunkt des Mannes zu klären. Und: Wo war Frenja letzte Nacht?Die Gardistin, die Diana auftreiben wollte, hat ihre Sache gut gemacht. Es dauert nicht lange, und meine Kollegin und Freundin steht vor mir.»Bei den Sieben Finsterhexen, Magret, was ist hier denn los?«»Wie meinst du das?«Diana deutet die Leichenärztin, die sich soeben anschickt, an Ort und Stelle den Toten mit Hilfe zweier Assistentinnen zu entkleiden.»Sagen wir so: Ich habe die Nase gestrichen voll, wir fahren jetzt alles auf, was wir haben. Dieser arme Mann hier ist das letzte Opfer dieser Irren gewesen!« Himmelfraugöttin noch eins, es ist kein Zufall, dass wir nie auch nur den Ansatz einer Spur gefunden haben. Hier war ein Profi am Werk. Frenja. Ja, ich habe letzte Zweifel, doch sind die berechtigt oder nur Ausdruck meines nicht Wahrhaben-Wollens? »Also Diana, was sagen deine Wildschweine?«»Komm, lass uns nach draußen gehen, hier ist mir zu viel Betrieb.«Auch ich bin nicht scharf darauf, zu sehen, was die Fachfrauen alles mit dem Körper des armen Mannes veranstalten. Eins steht fest, zimperlich sind diese Damen nicht...Ein wenig abseits der Menschenmenge, die sich vor dem Unglückshaus gebildet hat, entdecke ich Robert und Oliver. Während Robert den Kopf leicht gesenkt hält, gestikuliert Oliver wild. Immer wieder beugt er sich vor, woraufhin der Ältere einen Schritt zurückweicht.Ich bedeute Diana, kurz zu warten, und gehe zu den Männern.»... wie Michael, das ist doch krank!«»Äh, Oliver, wir bekommen Besuch?«»Robert, Oliver.« Ich schaue den Jüngeren an. »Ich dachte, du wolltest Annaburg verlassen?«»Das werde ich auch tun.« Der Blick, mit dem er Robert bedenkt, ist voller Wut. »Ich wollte nur noch mal sehen, ob ich nicht... Ich bin sozusagen schon weg. Wenn Sie erlauben?«Ohne meine Antwort abzuwarten, dreht er sich um und geht. Der geschultere Beutel auf seinem Rücken sieht schwer aus. Oliver kommt wohl nicht wieder.Ich wende mich an Robert.»Ist dein Freund sauer auf dich?«Robert zuckt mit den Schultern.»Er ist wütend, weil so viele seiner Freunde gestorben sind?«»Und du?«, frage ich betont locker.»Wie bitte?« Er blinzelt, weicht dabei aber wie gewohnt meinem Blick aus.»Ob dich das nicht auch wütend macht?«Er zuckt mit den Schultern.»Es ist schade, dass sie so enden mussten. Vielleicht sollte eine eher über die Ursachen wütend sein als über die Nachwirkungen?«»Wie meinst du das?«»Ach, nur so?«Ich brauche keine Magie, um zu wissen, dass er mir ausweicht. Bisher war er allerdings aufrichtig. Mal schauen, wie er auf eine direkte Frage reagiert.»Robert, hast du etwas mit den Morden zu tun?«Der Mann zupft sich am Ohrläppchen.»Sie meinen, ob ich meinen Freunden etwas angetan habe?«»Hast du?« So sehr ich mich auch bemühe, ich bekomme einfach keinen Augenkontakt zu diesem Mann!»Nein? Bitte, darf ich jetzt nach Hause gehen? Meine Frau wartet sicher schon?«»Was machst du überhaupt hier um diese Uhrzeit?«Robert verzieht für einen winzigen Augenblick das Gesicht.»Irene mag es nicht, wenn nicht alles sauber ist, wenn sie aufsteht? Aber mir ist die Seife ausgegangen?« Er deutet auf ein Geschäft ein paar Häuser weiter. »Da wollte ich schnell neue kaufen? Jetzt würde ich gern nach Hause, bevor sie aufwacht und merkt, dass ich nicht da bin? Das mag sie nämlich noch weniger?«Ich sollte dieses jämmerliche Männchen endlich gehen lassen.»Na schön, Robert, eine Frage noch und du kannst gehen: Weißt du, welche Frau hinter all dem steckt? Du weißt schon, die ganzen Morde an deinen ehemaligen Freunden, den Marburgern: Hast du irgendeine Ahnung, welche Frau dahinterstecken könnte?«Er schaut an mir vorbei.»Nein? Weder weiß ich noch habe ich eine Ahnung, welche Frau dahinterstecken könnte? Alles, was ich weiß, ist, dass Irene keinen dieser Männer ermordet hat? Darf ich jetzt bitte gehen?«Mit einem Nicken entlasse ich ihn. Er hat die Wahrheit gesagt, die verflixte Wahrheit und nichts anderes. Wieso nur habe ich dennoch das Gefühl, dass er mir etwas Wichtiges verschweigt?Am Tatort gibt es nichts mehr für uns zu sehen. Im Gegenteil habe ich mehr denn je das Gefühl, längst über alle nötigen Informationen zu verfügen. Wenn ich sie nur zusammen bekommen würde!Diana und ich schlendern durch die Straßen. Langsam wird es voller. Hausmänner sind unterwegs, um die ersten Besorgungen des Tages zu erledigen. Frauen kehren aus der Nachtschicht heim zu ihren Liebsten oder brechen zur Frühschicht auf. Der Großteil aber wird innerhalb der nächsten halben Stunde das Haus verlassen. Wenig später wird sich ein wahrer Schwall an Männern über Annaburgs Straßen ergießen: Männer, die ihre Kinder zur Schule bringen oder sich in Haushalten Alleinstehender verdingen.Wir gehen eine Weile schweigend nebeneinander her. Wie von allein schlagen wir den Weg Richtung Oberstadt ein.»Hier«, sagt Diana und zeigt auf die Skulpturen dreier Pferde. »Hier habe ich immer die Leckerbissen platziert. Hier waren die Tiere auch in der vergangenen Nacht beziehungsweise in den frühen Morgenstunden.«Ich trete einen Schritt vor und betrachte die Statuen. »Geht es auch etwas genauer?«»Nun, ich kann nur dem Licht nach gehen. Das ist der Nachteil, wenn hier überall Leuchtleitungen hängen. Grob würde ich die Zeit irgendwo zwischen halb drei und halb vier Uhr einschätzen.«»Was denkst du, wie lange haben sie sich hier aufgehalten?«»Ich mache es ihnen mit dem Futter nicht allzu leicht. Eine halbe Stunde würde ich sagen. Dann sind sie rüber durch die Kerzenbach Richtung Westen. Dort gibt es eine weitere Futterstelle.«Für einen winzigen Moment steigt Erregung in mir auf: Das Haus unseres neusten Opfers liegt genau auf dem Weg. Die Realität holt mich schnell ein: Gäbe es etwas Wesentliches zu berichten, hätte Diana mir das schon längst gesagt.Ich kicke einen Stein weg. »Und?«»Nichts. Sie haben nichts und keine wahrgenommen, während der gesamten Zeit nicht. Bis sie dann doch eine gehört und sich aus dem Staub gemacht haben. Sofern das nicht unsere Mörderin gewesen ist, dürfte das um halb Fünf Vanessa zum Schichtwechsel gewesen sein.«»Gute Arbeit. Wir haben also ein Zeitfenster von halb Drei bis halb Fünf, in dem keine hier entlanggekommen ist.« Ich bleibe stehen und drehe mich um. »Nun sind da natürlich überall Häuser, also hätte sich, während die Tiere hier mit fressen beschäftigt waren, doch eine rüber schleichen können. Oder sie wäre hintenrum gekommen, das hätten die Wildschweine doch gar nicht mitbekommen, oder?«Diana schüttelt den Kopf.»Wäre da eine gewesen, hätten sie das gerochen, glaub mir. Wenn sie es nicht zuvor gehört hätten. Wildschweine sind intelligente Tiere. Sie wissen, dass sie hier nicht auf ihrem Terrain sind. Eine frische Fährte eines Menschen? Keine Chance, Magret, sie wären umgedreht und woandershin gegangen. Wäre da eine in der Zeit gewesen, sie hätten die zweite Futterstelle nicht angerührt.«Es widerstrebt mir mit jeder Faser meines Seins, mich auf die Angaben von Tieren zu verlassen. Es ist nicht so, dass ich ihnen misstrauen oder gar ihre Ehrlichkeit in Zweifel ziehen würde - Tiere lügen nicht, das macht sie ja so wunderbar. Ich denke nicht einmal unbedingt, dass sie leicht auszutricksen sind. Sie setzen schlichtweg andere Prioritäten als wir. Schenken Dingen, die für uns von elementarer Wichtigkeit sind, nicht mehr Beachtung als wir einer Fliege schenken würden. Die für uns entscheidende Information würde mit Sicherheit in dem ganzen Wirrwarr, das sie an Diana weitergeben, irgendwo auftauchen. Doch die Verknüpfungen, mit denen wir Sinneswahrnehmungen untereinander in Beziehung bringen, sind bei Wildschweinen vollkommen andere. Logisch, da sie ihre eigenen Leben leben und überlebenswichtige Zusammenhänge sehen und Schlussfolgerungen daraus ziehen müssen, die uns egal sein können. Tiere interpretieren Beobachtungen nicht wie wir. Sie nehmen sie wahr und reagieren dann. Das Konzept einer Vergangenheit ist ihnen fremd. So verknüpfen sie Erinnerungen daran, wo gute Futterstellen sind, niemals mit einem »damals« oder einem »morgen«, sondern mit dem Heute: Jetzt ist da etwas zu holen. Und wenn nicht? Dann nicht! So oder so ungefähr funktioniert das laut Diana.»Laut den Tieren ist also keine in die Nähe des Hauses gekommen.« Ich stelle Diana die Frage nur rhetorisch.»Richtig.«»Oder davon weggegangen.«»Richtig«, wiederholt sie.»Natürlich kann es trotzdem sein, dass eine irgendwie...«»Richtig zum Dritten.« Diana seufzt. »Was aber nicht sehr wahrscheinlich ist. Ehrlich, Magret, was ist los mit dir? Einmal vertraust du den Angaben der Tiere blind, dann wieder zweifelst du ihre Beobachtungen an.« Sie zögert kurz. »So wie es dir gerade am besten zu deiner Theorie passt?«Autsch, das hat gesessen! Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass sie recht hat. Als wir damals in Widdersbach waren und sie dort etwas gesehen hatten, habe ich das quasi als normale Zeuginnenaussage gewertet.»Du hast ja recht. Außerdem passt es zu dem, was die Gardistinnen gesagt haben. Auch die haben keine in der Nähe des Hauses gesehen. Also hätten wir einen Mord, der keiner ist? Somit könnte es tatsächlich nur ein Unfall gewesen sein?«»Unfall?«Ich bringe Diana auf den neusten Stand.»Es kommt also auch ein allergischer Schock in Betracht.«»Hm. Glaubst du das?«»Nein. Für meinen Geschmack wäre das ein bisschen viel Zufall.«Ich bleibe stehen.»Lass uns zurück gehen. Vielleicht hat die Leichenärztin schon etwas für uns.«Kapitel VierundvierzigDie Substanz, gegen die Herr Azunın allergisch war, sind laut seiner Witwe Haselnüsse. Die kurz zuvor eingetroffene Schwester des Opfers hat das bestätigt: Seit frühester Kindheit zeigte Baldur starke Symptome, wenn er in Kontakt mit den Nüssen kam. Dazu gehörten Schwellungen im Gesicht und an den Ohren, sowie ein Anschwellen des Halses, welches mit erschwerter Atmung einherging. Im Alter von vier und etwa sechs Jahren wäre er fast an einem solchen Allergieschock gestorben. Lediglich die zufällige Anwesenheit der Dorfärztin, einer Freundin des Hauses, hatte beide Male Schlimmeres verhindert. So hatte sie seine Atmung per Magie aufrechterhalten, bis sein Körper die für ihn giftigen Stoffe ausgestoßen hat. Seitdem hatte sich der Tote tunlichst von Haselnüssen ferngehalten, hatte keine fremden Speisen, vor allem nichts Gebackenes, angerührt, ehe er sich nicht ganz sicher war, dass darin keine der für ihn tödlichen Nüsse verarbeitet war.»Hier bist du!«Ich drehe mich zu Maike um.»Ja, an einem Tatort. Wie unüblich. Was gibt es?«»Kathi hatte gesagt, ich solle unsere Listen durchgehen in Sachen Zugang zu Haaren.«»Ja, aber das sollte eigentlich sie machen. Ich hatte nur gesagt, dass sie...« Ich halte kurz inne. Wieso habe ich das vergessen? »Ach, egal. Hast du schon etwas herausgefunden?«»Ja, deshalb bin ich hier. Tatsächlich ging das Ganze schneller als erwartet: Keine auf unserer Liste, weder Frau noch Mann, arbeitet bei oder für eine Haarschneiderin«, erklärt Maike. »Das wollte ich dir schonmal sagen. Ich werde jetzt noch die ganzen Verwandten und Freundinnen durchgehen und-«»Lass mal.« Annaburg ist groß, aber nicht so groß, dass nicht jede eine kennen würde, die bei einer Haareschneiderin arbeitet, und sei es um zehn Ecken. Ist nicht eine Verdächtige direkt angestellt oder hat eine Ehepartnerin dort, sehe ich schwarz. »Trotzdem, gute Arbeit.«»Darf ich fragen, wieso das Ganze?« Maike macht mit den Händen eine hilflose Geste. »Worum geht es dabei? Kathi wollte mir das erklären, wurde dann aber zu dem Mord hier gerufen.«»Wir haben die Ergebnisse wegen Herrn Hijo de Maria bekommen. Die Haare, an denen er erstickt ist, stammen unter anderem von 67 verschiedenen Menschen.«Maike stößt einen Pfiff aus.»Das ist eine Menge. Welche hätte Zugang dazu? Haarschneiderinnen, klar. Schade, dass es nichts gebracht hat.«»Frau Beatesdother? Ich wäre dann soweit.«Wir drehen uns zu der Leichenärztin um. Dabei meide ich geflissentlich den Leichnam, den eine Assistentin der Ärztin auf halber Höhe schweben lässt. Ich sehe ein, dass es sich so bequemer arbeiten lässt, empfinde den Anblick einer schwebenden Leiche aber immer wieder als verstörend.Ich deute auf den Leichnam. »Ja bitte?«»Todesursache war allem Anzeichen nach ein Multiorganversagen aufgrund eines allergischen Schocks«, erklärt die Leichenärztin. »Ausgelöst wurde dieser durch den Verzehr großer Mengen Haselnüsse. Dem Mageninhalt nach zu Folge hat der Tote etwa eine Handvoll davon konsumiert.«»Und was sonst noch? Können Sie ungefähr sagen, worin sich die Nüsse befunden hatten? In einem bestimmten Gebäck zum Beispiel?«Die Ärztin runzelt die Stirn.»Hätte sich noch etwas anders in seinem Magen befunden, hätte ich Ihnen das wohl gesagt, meinen Sie nicht?«»Soll das heißen, er hat außer den Nüssen nichts zu sich genommen?« Maike schaut mich an. »Das ergibt doch keinen Sinn! Oder wusste er nicht, dass er hochgradig allergisch ist?«»Doch, das wusste er und nein, das ergibt keinen Sinn«, stimme ich zu. »Es sei denn, eine hat ihn dazu gezwungen.«»Dazu kann ich nichts sagen«, sagt die Leichenärztin knapp. »Ich habe keine älteren Verletzungen gefunden. Was die inneren Organe anbelangt, ist es natürlich schwierig, jetzt noch eine Aussage bezüglich seines Gesundheitszustandes vor dem Schock zu treffen. Vom Knochenwuchs her war alles in bester Ordnung. Mehr kann ich nicht sagen. Außer vielleicht noch das hier: Hätten Sie mir nicht von Ihrem Verdacht erzählt, wäre ich ehrlich gesagt nie darauf gekommen, dass es ein allergischer Schock war.«Ich sehe der Frau an, wie schwer ihr dieses Eingeständnis fällt. Umso mehr weiß ich es zu schätzen.»Auf was hätten Sie denn getippt?« , frage ich. »Bitte, es ist wichtig.«Sie zögert nur kurz.»Ohne Ihren Hinweis wäre ich von einer Magie ausgegangen, die Gefäße dazu bringen kann, sich auszudehnen, anzuschwellen.«Diana und ich tauschen einen vielsagenden Blick. Auch hier passt die Todesart wieder perfekt zur Magie der Ehefrau.Die Leichenärztin räuspert sich. »Können wir ihn dann der Bestatterin übergeben oder soll ich ihn erst noch einlagern?«»Nein, schon gut, Sie können ihn wegbringen lassen.« Noch einmal wende ich mich dem Toten zu. Mitleid schnürt mir die Kehle zu. Die Leichenärztin macht sich daran, ihre Sachen zu packen. Die Assistentin lässt den Mann wieder behutsam zu Boden sinken.Ich räuspere mich. »Nun, da wird die Frau sicher auf eine Aufbahrung verzichten müssen.«Die Assistentin schüttelt den Kopf.»Sagen Sie das nicht! Die Bestatterinnen wissen die meisten Toten wieder schön herzurichten. Sofern es sich nicht um ein Brandopfer handelt.« Fast zärtlich streicht sie dem Toten über das Haar. »Dich bekommen sie auch schon wieder hin.« Diana kehrt der Assistentin den Rücken zu und verzieht das Gesicht. Ich nicke leicht, auch mir ist die Assistentin nicht ganz geheuer.»Wie soll es nun weiter gehen, Dritte?«, fragt Diana laut.»Geh ins Büro, Diana, und halte dort für mich die Stellung. Ich muss zuhause etwas Wichtiges erledigen.«Frenja ist nicht da, als ich nach Hause komme. Ich hätte auch nicht damit gerechnet. Die Wohnung wirkt abweisend und leer. Weiß sie, dass ich weiß, was sie getan hat? Sie hat den Stein dieses Mal nicht wieder zurückgebracht. Meine Finger gleiten an dem Armband entlang, erfühlen Stein für Stein. Verharren in der Lücke. Nichts ist mehr, wie es einmal war.Wir haben kein Wort miteinander gewechselt und doch weiß ich, dass das Ende von etwas bevorsteht. Ich bin heute Morgen aus dem Haus, ohne Frenja eine Nachricht zu hinterlassen. Das ist noch nie passiert. Sie weiß, dass etwas nicht stimmt. Sie ist nicht naiv. Es war meinerseits kein bewusstes Versäumnis und doch ist es eine Aussage, wie sie nicht eindeutiger sein könnte. Sie muss wissen, dass ich Bescheid weiß.Ich weiß genau, dass sie nicht da ist, dennoch gehe ich in ihr Zimmer. Es wirkt verlassen. Etwas stört, ist da, wo es nicht sein sollte. Ich trete näher. Auf dem Nachttisch liegt ihr goldener Armreif.Wieder in der Küche setze ich mich an den Tisch.Und nun? Wie soll es weitergehen? Ich kann nicht länger so tun, als hätte ich bezüglich meiner Mitbewohnerin keinen Verdacht. Und dann ist da noch etwas anderes, etwas, das mir keine Ruhe lässt. Etwas, das heute irgendeine zu mir gesagt hat... Ein Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken.»Magret? Kann ich reinkommen?«Heidrun, ausgerechnet.»Es ist offen«, rufe ich matt.Selbst wenn sie so wütend ist, dass sie töten könnte, bewegt sich Heidrun mit einer Grazie, die ihresgleichen sucht. Die schöne Heidrun von Borgentreich. Es wird endlich Zeit, sich einer anzuvertrauen. Doch ich kann nicht wider meinem Befehl handeln, die Existenz der Magiespeichersteine geheim zu halten. Selbst vor ihr.»Ich bin hier«, rufe ich.»Soso.« Heidrun bleibt in der offenen Tür zwischen Flur und Küche stehen, lehnt sich lässig an den Rahmen. »Ich wollte dich eigentlich in der Kerzenbach treffen, doch du warst schon weg als ich ankam.« Sie verzieht ihr schönes Gesicht. »Schlimm, so viel Bewegung am frühen Morgen.«Das Selbstmitleid kaufe ich ihr nicht ab.»Tee?«Sie nickt und ich mache mich an die Zubereitung. Kräuter für mich, Friesischer für Heidrun. Kleinigkeiten, die eine nie vergisst.»Ich habe aber keinen Kandis da.«»Macht nichts.«Sie kommt herein, setzt sich an den Küchentisch.»Was ist los, Magret?«Mir steht der Sinn nicht nach Geplauder. Bei Heidrun ist eine sowieso besser direkt. »Wolltest du nicht Frenja überwachen?«Sofort bewölkt sich Heidruns Miene.»Du kannst mich genauso gut sofort auslachen: Sie ist mir entwischt. Scheint, als wäre ich in der Hinsicht etwas eingerostet... Ich schwöre bei den Sieben Finsterhexen, das wird mir nie wieder passieren!«Mühsam unterdrücke ich ein Lächeln. Da sitzt sie, die vermutlich zweitstärkste Frau des gesamten Goldenen Reiches, in meiner kleinen Junggesellinnenküche und schimpft, dass ihr eine Verdächtige entwischt ist.»Nur so aus Neugier: Wie hat sie es angestellt?«Heidrun knirscht mit den Zähnen.»Sie muss mich irgendwie bemerkt haben.«»Und dann?«»Du gibst wohl nie Ruhe, was, Beatesdother?« Heidrun grinst.»Nö. Nicht, dass mir einmal derselbe Fehler passiert wie dir.«Wir grinsen uns an, doch unter der gespielten Fröhlichkeit liegen tiefe Schatten.»Sie ist ins Refugium gegangen«, sagt Heidrun schließlich.»Ernsthaft?«»Wenn das hier vorbei ist, werde ich mir die Weiber da mal vorknöpfen - wieso haben die sie reingelassen?«Ich bin baff: Viele Frauen, die es sich leisten können, verbringen ihre magiefreien Tag in einem Refugium, wo sie von Frauen mit starker Magie beschützt und zudem mit allen möglichen Annehmlichkeiten versorgt werden. Eine solche Einrichtung als Zufluchtsort zu nutzen, ist verdammt clever: Keiner Frau unter Magie wird dort Zutritt gestattet, nicht einmal Heidrun von Borgentreich. Doch auch Frenja ist derzeit unter Magie - wie hat sie das bloß geschafft?Die Antwort liegt - zumindest für mich - klar auf der Hand: Sie muss all ihre Magie kurzzeitig in den gestohlenen Stein eingespeist haben. So konnte sie einer Überprüfung standhalten und vortäuschen, derzeit ohne Magie zu sein. Ein solcher Test nimmt schließlich nur wenige Augenblick in Anspruch und dürfte abgeschlossen gewesen sein, bevor ihr Körper neue Magie produziert hat. Erneut schaudert mir bei dem Gedanken daran, was mit Hilfe der Steine noch alles möglich ist.Heidrun indes ahnt nichts davon.»Gut, ich hätte mir den Zugang freimachen können«, fährt sie in betont beiläufigem Tonfall fort, »aber du weißt, ich hasse diese Gemetzel am frühen Morgen.«»Verstehe. Und du hast keine Ahnung, wo sie hin sein könnte?«»Doch.« Ihre blauen Augen richten sich auf meine. »Deswegen bin ich ja hier. Magret, was ist los?«Zeit, Klartext zu reden.»Ich darf dir nicht alles sagen, Heidrun, so gern ich auch würde! Aber das kann ich dir sagen: Ich habe gute, stichhaltige Gründe zu vermuten«, durchatmen: Ich bin Magret Beatesdother, verflixt, und eine Goldene Gardistin, »dass Frenja hinter all den Morden steckt.«»Was?« Heidrun steht die Kinnlade offen. Nie zuvor habe ich sie so verblüfft erlebt.Eine Sekunde später hat sie ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle.»Bist du dir sicher?«»So sicher sich eine sein kann«, antworte ich. »Wie gesagt ist es nur ein Verdacht, aber es würde alles passen, alles erklären.«»Das ergibt keinen Sinn, bist du dir da sicher?« Heidrun schüttelt den Kopf. »Wie im Namen der Göttin soll sie dieses Kunststück fertig gebracht haben?«»Das darf ich nicht sagen, Heidrun. Aber was ich dir sagen kann, ist, dass es möglich ist.«Heidrun steht auf.»Wieso verdammt nochmal hast du mir das nicht gestern schon gesagt?«Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund, also schweige ich.»Magret, so kenne ich dich nicht!« Heidrun klingt eindringlich und besorgt. »Die ganze Sache hier, das Chaos mit den ganzen Gardistinnen, dass du mir Dinge verschweigst, dein Zusammenbruch, all das, das bist doch nicht du?!«»Ich weiß. Aber ich bin gerade dabei, wieder ich zu werden. Vertrau mir.« Ich schniefe. »Außerdem habe ich seit Wochen keinen Alkohol mehr angerührt.«»Ich weiß.«Na super. Aber das hätte ich mir denken können.»Willst du nichts dazu sagen?« Magret schaut mich herausfordernd an.»Nein. Außer, dass ich froh darüber bin.«Typisch Heidrun. Sie hat ihre eigene Art, mit Menschen umzugehen. Einige würden sie als Gleichgültigkeit deuten, doch ich weiß es besser.»Was jetzt, Magret, wie soll es weiter gehen? Hast du eine Ahnung, wo deine Fr.... wo Frenja hingegangen sein könnte?«»Nein. Sie könnte, weiß die Göttin, wo sein.«»Na, das glaube ich allerdings weniger.« Heidrun entblößt ihre Zähne zu einem breiten Grinsen. »Nenn es eine Ahnung, aber es könnte sein, dass eine es vielleicht für eine gute Idee hielt, ihre Schwester Antje, sagen wir, für eine längere Befragung ins Gardegebäude einzuladen.«»Was, du hast Antje?«, entfährt es mir.»Sie ist bei der Stadtgarde zu einer Befragung, was hat das mit mir zu tun?«, sagt Heidrun betont unschuldig.»Das wird sie dir nie verzeihen!«Heidrun winkt ab. »Drauf gepfiffen! Deine liebe Mitbewohnerin konnte mich sowieso nie leiden. Also was ist, wollen wir Antje befragen?«»Ich glaube zwar nicht, dass du etwas aus ihr herausbekommst, aber ja, lass es uns versuchen.«Heidrun lächelt. »Lass mich mal machen.«Es klopft.»Erwartest du noch eine?«»Nein.« Ich gehe zur Tür und öffne sie. Zu meiner Überraschung ist es Karla.»Hi! Ich soll dir von Frenja eine Nachricht überbringen.«»Von Frenja? Wo ist sie? Wann hast du mit ihr gesprochen?«»Bitte, Frau Beatesdother, ich soll Ihnen das hier nur überbringen.« Sie hält mir einen Zettel hin. Ich nehme ihn entgegen, lese ihn. Als ich wieder aufsehe, ist Karla verschwunden.»Und?«, fragt Heidrun ungeduldig.»Hier«, ich reiche die Nachricht an sie weiter. »Sie will sich mit mir treffen. Um 18 Uhr. Ich soll allein kommen.«»Und, tust du es?« Heidruns Tonfall nach hält sie dieses Vorhaben für eine schlechte Idee.Ich lächle. »Kann ich dich davon abhalten, mir nachzukommen?«Heidrun schüttelt den Kopf.»Ich weiß zwar nicht, wo dieser geheime Garten ist, aber ich werde die Teufelin tun und dich da allein hingehen lassen.«»Ich meine es ernst, Heidrun, Frenja ist nicht dumm! Sie hat dich schon einmal abgehängt.«»Ein Grund mehr, es ihr dieses Mal zu zeigen!«»Ich gehe allein und basta!«Noch in derselben Sekunde spüre ich, dass das ein Fehler war. Heidrun kneift die Augen zusammen.»Ich bin deine Vorgesetzte«, sagt sie kalt. »Wir machen es, wie ich es sage, oder ich gehe und du kannst so lange in einer Zelle vor dich hin schmoren. Haben wir uns verstanden?«Ich senke den Kopf.»Ja.«Kapitel FunfundvierzigI8 Uhr also. Jetzt ist es gerade einmal 15 Uhr. Ich kann doch jetzt nicht die ganze Zeit hier herumsitzen und warten?»Ich weiß ja nicht, wie es bei dir aussieht, aber ich habe Hunger!«, verkündet Heidrun. »Komm, lass uns etwas essen gehen!«»Gardeküche?«»Gardeküche!«Ich folge ihr wie in Trance. Lasse mir irgendwas zu essen geben und schaufele es in mich hinein. Heidrun hat es aufgegeben, ein vernünftiges Gespräch mit mir zu führen. Zu viele Gedanken sind in mir. Frenja - eine Mörderin? Ein Teil von mir kann es noch immer nicht fassen. Und doch passt es: das Wieso, das Wie. Dass ausgerechnet ich ihr all die Morde ermöglicht habe, ist absurd. Lasse ich mein Ego außen vor, tut es einfach nur weh. Ist ungeheuerlich. Unglaublich. Zu unglaublich?Ich halte inne. Wie oft habe ich hier mit Fran gesessen? Wie oft haben wir uns unterhalten? Wie oft hat sie mich getröstet oder mir wilde Geschichten ihrer Liebesabenteuer erzählt? Traue ich ihr den Mord an einer zu, die ihrer Schwester geschadet hat? Ohne Weiteres, doch für welche gestandene Frau gälte das nicht? Traue ich ihr aber tatsächlich zu, ihre Wut an hilflosen Männern auszulassen? Und dann auch noch, ausgerechnet mich dazu zu benutzen?Mein Verstand sagt ja, doch mein Herz sagt immer wieder nein. Berechtigter Zweifel oder rührselige Hoffnung? Es ist alles da, zum Greifen nah, also wieso will ich es noch immer nicht wahrhaben? Etwas nagt an mir. Lässt mir keine Ruhe. Wenn ich es nur zu fassen bekäme!»Magret?« Etwas Klebriges stupst mich. Honigmagie.»Hm?«»Ich habe mit dir gesprochen!?« Ärger schwingt in Heidruns Stimme mit. Seit ich mich ihr gegenüber im Ton vergriffen habe, vibriert eine unschöne Spannung zwischen uns. Zum Glück besteht unser Grundvertrauen dennoch zueinander - ansonsten hätte mich meine Magie nicht einen Bissen Essen zu mir nehmen lassen.»Entschuldige bitte, ich war mit meinen Gedanken woanders.«»Ich habe eben gesagt, dass es gut ist, wenn die Sache endlich zum Abschluss kommt«, sagt Heidrun. »Die Sache mit den Todesfällen spricht sich mehr und mehr rum in der Stadt.«»Das geht nicht!«, sage ich alarmiert. »Die Leute würden in Panik ausbrechen, wenn sie wüssten, dass es eine Serienmörderin auf ihre Männer abgesehen hat.«»Gegen Gerüchte sind wir nun mal machtlos. Selbst ich. Aber es stimmt, was ich sage, Magret. Du bist vermutlich so mit den Ermittlungen beschäftigt, dass du es noch nicht bemerkt hast. Die Veränderungen sind subtil, aber sie sind bereits da!«Ich unterdrücke den Impuls, sie fragend anzuschauen. »Ach ja?«»Ja. Du siehst es in der Art, wie die Männer uns anschauen. Uns Frauen, meine ich. Du siehst es an der Anzahl der Männer, die frühmorgens und abends allein unterwegs sind. Falls du es noch nicht bemerkt hast: Es werden immer weniger. Die Menschen haben Angst, Magret, und Annaburg ist vielleicht nur noch ein oder zwei tote Männer von einer Panik entfernt.«»Nun, dem können wir Abhilfe schaffen«, sage ich grimmig. »Wir können Frenja ein für alle Mal zur Strecke bringen. Und genau das werde ich heute tun!«Es ist noch so viel Zeit. Keine Chance, weiter still zu sitzen. Heidrun lässt mich nicht aus den Augen, also kommt sie wohl oder übel mit. Ich wandere ziellos durch die Stadt. Noch zwei Stunden, noch anderthalb. Das Tageslicht neigt sich dem Ende zu. Wind kommt auf und spielt mit meinem Haar. Es ist die Tageszeit, zu der die meisten Frauen von ihrer Arbeit heimkehren. Freudige Emotionen wallen ebenso auf wie schlechte: Hier ist die Welt noch in Ordnung, dort liegt sie schon seit langem in Trümmern. Wie gern wäre ich wie sie, hätte eine alltägliche Magie und keine, die mich alles fühlen lässt, was in der Welt schlecht ist.Zum Glück hat Heidrun ihren Plan verworfen, Antje zu befragen. Das ist jetzt erst einmal nicht mehr nötig, vielleicht auch nie. Heidrun weiß um meine Schwierigkeiten mit dieser Großmutter und wie sehr mich ihre bloße Anwesenheit quält. Ich bin froh, dass mir das erspart bleibt.Wieder und wieder gehe ich im Kopf die Morde durch. Das geplatzte Herz, das Brandopfer Vlademir, der erst später starb und so verwundert war, als ich nach der Täterin fragte. Der Täterin, die er kannte.Der Mann, der elendig erstickt ist, der, dem eine die Haare von 67 verschiedenen Menschen in die Lunge getrieben hat. Einer wurde brutal erschlagen. Einem wurden Nüsse verabreicht, so dass er an einem allergischen Schock starb. Ich weiß genau, der Anblick des armen Mannes wird mich noch in meinen Träumen heimsuchen. Das Bild der Assistentin schiebt sich vor meine Augen. Wie zärtlich sie über sein Haar gestrichen ist.Moment Mal!Ich halte abrupt inne. Das ist genau das, was die ganze Zeit an mir gestupst und gezogen hat: die Assistentin, wie sie Baldur Azunın übers Haar streicht. Doch nicht sie ist entscheidend, sondern was sie tut. Was sie gesagt hat.»Die Bestatterinnen bekommen dich schon wieder hin«, etwas in der Art. Meine Magie hüpft und tanzt, doch wieso ist das wichtig?»Magret?« Erst jetzt hat Heidrun bemerkt, dass ich stehen geblieben bin. »Was...?«»Sch!«, mache ich. Nichts darf gerade meinen Gedankengang stören. Haare, es geht um Haare. Sie sind wichtig, weil? Haare auf dem Kopf des toten Herrn Azunın. Haare in der Lunge von Herrn Hijo de Maria. Haare von 67 unterschiedlichen Menschen.»Welche zum Himmel hat Zugang zu Haaren von 67 Menschen?«, hatte ich Kathi gefragt. Haarschneiderinnen, kein Zweifel. Doch da ist noch eine Berufsgruppe, die wir völlig außer Acht gelassen hatten.Vlademir, der mich gefragt hat, ob ich ihn aus dem Feuer herausgeholt haben, nicht, ob ich ihn gerettet habe.Die Haselnüsse im Magen des letzten Opfers. Nur Nüsse, sonst nichts.Die Erkenntnis, welche Person hinter all den Morden steckt, legt sich nicht sanft auf mich, sondern trifft mich mit der Wucht eines Steinmagieschlages. Ich muss meine eigene Magie nicht befragen, um festzustellen, dass all das auf einmal einen fürchterlichen Sinn ergibt. Es war die ganze Zeit da, direkt vor unseren Nasen. Vor unseren Augen und Ohren, doch wir sahen nicht hin und wir hörten nicht zu.Mir ist schwindelig. Meine Gedanken kreisen. Wie viele könnten noch leben, wenn wir unseren verdammten Job besser gemacht hätten?Wenn, falls, hätte.Dann, wie ein Lichtstrahl, der finstere Gewitterwolken durchbricht, ein Gedanke: Einen von ihnen kann ich retten! Und mehr muss ich auch gar nicht retten. Nur den nächsten Mann und damit sie alle.Ich renne los.Lars ist nicht an seinem Arbeitsplatz. Ich antworte weder auf die Fragen seiner Chefin noch auf die Heidruns, die mir fluchend hinterherrennt.»Magret, was zur Göttin ist in dich gefahren?«Ich hebe mir meine Kraft fürs Rennen auf. Endlich erreichen wir das Haus, in dem Lars seine Wohnung hat. Lars, der sich mit Robert gestritten hat.»Mach bitte auf!«Ich habe kaum zu Ende gesprochen, schon birst die Tür unter Heidruns Honigmagie. Gemeinsam hasten wir die Stufen hinauf. Noch ehe ich Hand an den Türknauf legen kann, hat Heidrun auch diese weggesprengt. Ein Schrei ertönt aus dem Inneren der Wohnung. Göttin, kommen wir zu spät?Kapitel SechsundvierzigMagret?« Lars starrt mich aus weit aufgerissenen Augen an. Blitzschnell suche ich das Zimmer ab. Es ist nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Lars sieht aus wie immer.»Geht es dir gut?«, frage ich ihn hastig.»Was? Ja, verdammt, zumindest bis eine Horde wildgewordener Frauen in meine Wohnung eingebrochen ist! Was soll denn das? Ich bin zwar nur ein Mann, aber ich habe auch Rechte und-«»Ach, halt doch die Klappe!« Plötzlich bin ich nur noch müde. Ich lasse mich auf den nächstbesten Stuhl sinken. Heidrun schaut erst mich, dann Lars an.»Was ist denn hier los?« Ein älterer Mann, ein Nachbar oder Lars` Hausvater, steht im Flur und starrt in die Wohnung. Eine lässige Handbewegung Heidruns und Lars` Wohnungstür sperrt den Neugierigen aus, klebt fest in ihrem Rahmen.Lars verfolgt mit großen Augen, wie die Schönheit den Raum durchquert und es sich auf dem schmalen Sofa bequem macht. Dann klopft sie neben sich.»Du da, herkommen! Ich schätze, du und Magret habt mir einiges zu erklären.«Der Kellner holt Luft, schüttelt den Kopf und setzt sich stumm neben Heidrun.»Magret?«, fragt sie schließlich.Ich versuche, etwas zu sagen. Finde die Worte nicht. Gestikuliere irgendwie. Lasse die Hände wieder sinken.»Heidrun«, sage ich schließlich. »Das wird dir jetzt nicht gefallen und ich schwöre, ich erkläre dir alles später, aber jetzt musst du bitte sofort los! Du musste allen Gardistinnen sagen, dass sie sofort und ohne Ausnahme mit jedem einzelnen der Marburger ins Gardegebäude kommen müssen. Es ist sehr wichtig, denn ansonsten, so fürchte ich, haben wir bald den nächsten Mord. Und den übernächsten und so weiter.«Heidrun hebt eine Augenbraue.»Sagtest du nicht, Frenja wäre diejenige, die....?«»Heidrun!« Ich schaue ihr in die Augen. »Bitte!«»Na schön.«Lars zuckt unter dem Poltern, das die von Heidrun erneut aus dem Rahmen gerissene Tür verursacht, zusammen. Ich dagegen fühle mich wie taub.»Du wusstest von Anfang an Bescheid«, flüstere ich schließlich.»Magret, ich weiß nicht, wovon du-«»Spar es dir!« In mir ist nur noch Leere. Und unfassbare Traurigkeit. »Weißt du, das wirklich Ironische ist, dass eine meiner Frauen es mir noch direkt gezeigt hat, weißt du?«Er seufzt.»Können wir nicht in Ruhe darüber reden?«»Wessen Idee war es?«, frage ich scharf.»Magret, du solltest wissen, dass-«»Wessen Idee? Ich will einen Namen, Lars, und ich will ihn sofort! Mit welcher muss ich sprechen, um dem Wahnsinn ein Ende zu bereiten?«Sein Blick trifft den meinen. Er sieht als erstes weg.»Robert«, sagt er schlicht.Wusste ich es doch!»Ich will, dass du mir jetzt ganz genau zuhörst! Ich weiß nicht, wie schnell Heidrun alles organisieren kann. Daher möchte ich, dass du zu Robert gehst, jetzt. Sollten sie ihn bereits abgeholt haben, begibst du dich ebenfalls zum Gardegebäude. Dort sprichst du mit ihm. Sag ihm, dass er sofort alles abblasen soll. Hast du mich verstanden?«»Und dann?« Lars lacht auf. »Denkst du, nur weil eine Frau es sagt, werden sie darauf hören?«»Sie?« Mit einem Mal kommt mir meine Sorge um den Mann vor mir lächerlich vor. »Stimmt, du bist ja raus. Du hättest schließlich nie im Leben bei dieser Sache mitgemacht, oder?«Göttin! Ich hätte es besser wissen müssen!Ein schiefes Lächeln umspielt seinen Mund.»So gut kennst du mich immerhin. Auch wenn ich die Idee durchaus unterstütze. Aber ja, ich liebe mein Leben viel zu sehr. Trotz allem.«Welche hat Zugang zu zahlreichen Menschenhaaren?Wolfi, der bei einer Bestatterin ausgeholfen hat.»Welche Rolle spielt Robert bei dem Ganzen?«, verlange ich zu wissen.»Robert wusste, dass er uns verlassen musste, wenn wir erfolgreich sein wollten. Seine Frau ist Lügenleserin, zu einfach hätte er uns unfreiwillig verraten können. Daher hat er uns nur zahlreiche »Anregungen«, wie er es nannte, gegeben. Hinweise auf Verbindungen, Möglichkeiten, bestimmte Kräuter... Auch, wie man damit die Dinge schmerzloser macht. Dann haben wir ihn - auch auf seinen Vorschlag hin - aus der Gruppe geworfen.«Meine Gedanken rasen. »Wolf Sabinesmanns geplatztes Herz - wie? Hitze?«»Nein. Wolfi hatte von Geburt an einen Herzfehler, der auch mit Magie nicht geheilt, sondern nur unter Kontrolle gehalten werden konnte. Die richtigen Kräuter dazu und es ging quasi wie von selbst. Zumindest haben sie es mir so berichtet.«Welche lassen es so aussehen, als wären ihre Gattinnen und Chefinnen die Täterinnen?Diejenigen, die von ihnen unterdrückt worden sind.»Der Schlag, mit dem Lukas Abbigailsmann getötet wurde, ist klar, das schafft auch ein Mann. Martin Tildasson zu ersticken auch«, fahre ich fort. »Die Haare in Pedro Hijo de la Marias Lunge?«»Pedro hat sie in den Mund genommen, bevor er ein starkes Schlafmittel nahm. Sie mussten nicht einmal nachhelfen.«Welche begehren gegen ihr Los auf?Die, die eingesperrt werden.»Was ist mit Vlademir, dem Brandopfer? Er hat schrecklich gelitten!«»Das war nie beabsichtigt!«, sagt Lars, nun mit deutlichem Schmerz in der Stimme. »Er sollte bewusstlos sein, während es passierte, nur irgendwie ist er aufgewacht...«Welche schlagen mit Gewalt zurück?Jene, die selbst misshandelt worden sind.»Maik Anabellasmann? Jetzt sag mir bitte nicht, er wurde tatsächlich bei lebendigem Leib gekocht?«»In einem Fass, ja. Aber keine Sorge, er hat davon nichts mehr mitbekommen.«Sie haben uns alles heimgezahlt, jeden Schlag, jede Prellung, jedes blaue Auge. Jede herabsetzende Bemerkung, jede Unfreiheit, jedes Verbot. So einfach haben sie sich über alle Goldenen Gesetze hinweggesetzt und uns das genommen, was wir als unseren wertvollsten Besitz erachten: unsere Männer.Jeder Name, der mir über die Lippen geht, fühlt sich an wie ein Stich ins Herz. »Sebastian Ricardasmann, der angeblich durch Eismagie getötet wurde?«»Baldur hatte am Arbeitsplatz seiner Frau Eiszapfen aus den Kühlkammern mitgehen lassen. Damit haben sie ihn erstochen.«Und haben die größten Schmerzen auf sich genommen, um eins zu zeigen: Wir haben sie nie wirklich besessen. Dabei die Magien derer nachzuahmen, die sie unterdrückten und quälten, war wie ein Fingerzeig, eine lautlose Anklage der wahren Täterinnen. Ganz so, wie es ihr Freund Michael Irmgardsmann getan hat.Ich schließe kurz die Augen. »Ich schätze, Baldur hat die Haselnüsse freiwillig gegessen?«»Ich war nicht dabei, aber ja, ich gehe davon aus. Er hatte es angekündigt als seine eigene, freie Entscheidung. Wie alle anderen auch.«Gewalt erzeugt Gegengewalt.Und dennoch...»Wieso, Lars? Wieso das alles?«»Wieso? Wieso?« Lars steht so hefig auf, dass er den kleinen Wohnzimmertisch umstößt. »Das fragst du mich ernsthaft? Wieso wir zu der einzigen Waffe greifen, die ihr uns gelassen habt?«Was ist das Gegenteil von Mord?Kapitel SiebenundvierzigMeine Füße tragen mich so schnell wie nie zum magisch betriebenen Gehweg. Mit klopfendem Herzen verlasse ich ihn in der Oberstadt, gehe zu Fuß weiter. Die Treppenstufen fliegen unter mir nur so dahin.Ja, wir waren blind und taub. Ja, wir haben Männer wegen dieser furchtbaren Sache verloren. Aber wir haben auch gesiegt: Endlich haben wir diese schreckliche Verbrechensserie aufgeklärt. Lars hat mir fest versprochen, mit Robert zu reden. Wir werden dem Einhalt gebieten, koste es, was es wolle! Ich hätte nie gedacht, dass es unseren Männern so schlecht geht. Doch wenn sie bereit sind, all das in Kauf zu nehmen, sogar den eigenen, schmerzhaften Tod, dann werden wir vollkommen umdenken müssen. Wir Frauen werden uns damit auseinandersetzen müssen, ob wir wollen oder nicht.Schon sehe ich uns an einem Tisch sitzen: Frauen und Männer, Großmütter und vielleicht sogar Fräulein - wieso eigentlich nicht?Ich weiß, dass wir es können! Miteinander und füreinander! Wir können eine bessere Zukunft erschaffen, in der sich nie wieder ein Mann den Tod wünschen wird. Wir werden ihre Gefühle ernster nehmen, am besten sogar verbieten, sie zu verletzen. Ihnen mehr Freiheiten zugestehen.Nicht jede wird damit einverstanden sein, da mache ich mir nichts vor. Doch was nützt einer die größte Macht ohne Liebe? Was die größte Karriere, wenn eine nicht mehr sicher sein kann, ob nicht längst zuhause der eigene Mann tot am Boden liegt?Die Marburger sind radikal, aber sie haben uns auch ihre und unsere Verletzlichkeit aufgezeigt. Am liebsten würde ich Robert ja verhaften, doch aufgrund welchen Gesetzes? Weil er andere angeregt hat, sich selbst zu töten oder töten zu lassen? Lars hat Recht: In dieser einen Hinsicht sind selbst Männer frei.Dinge werden sich ändern, weil sie sich ändern müssen! Wir haben die Lage so dermaßen unterschätzt. Wie schlimm es für sie ist. Wie sehr sie leiden. Ich wusste ja, dass es nicht einfach ist, in unserem Reich ein Mann zu sein, doch dass es so schlimm ist... Ich habe Lars versprochen, mich persönlich für sie einzusetzen: All diese Männer werden nicht umsonst gestorben sein. Ich selbst werde all diesen Männern eine Stimme geben.Leicht atemlos betrete ich meinen geheimen Platz. Es gibt noch etwas, das mir das Herz so leicht macht wie ein Blütenblatt, das in der Sonne tanzt: Frenja ist unschuldig!Oh Fran, wie habe ich nur je denken können, du hättest etwas mit den Morden zu tun? Ich werde ihr Abbitte leisten und alles wird wieder so wie früher! Wir werden-»Hallo Magret!« Nie war ich so froh, die Stimme meiner Freundin zu hören wie jetzt! Sie klingt etwas angespannt, aber welche wundert`s?»Frenja!« Bis sie hinter einem Baum hervortrat, war ich mir der Anwesenheit meiner Freundin gar nicht bewusst gewesen. »Es ist so gut dich zu sehen! Hör mal, wir beide hatten da ein riesiges Missverständnis und-«»Gib mir dein Armband!«»Was?« Leicht verdattert mustere ich ihre ausgesteckte Hand. »Äh, nein, hör doch mal zu, Fran, wir haben den Fall gelöst und-«»Magret, ich meine es ernst: Gib mir das Armband!«»Was redest du denn da?« Meine Freundin kommt näher. Sie ist seltsam bleich im Gesicht. »Geht es dir nicht gut?«Sie kommt einen Schritt näher. »Sie haben Antje!«»Antje?« Ach so. »Nein, das hast du falsch verstanden, Heidrun hat sie nur... Aber das spielt auch jetzt keine Rolle mehr, das versuche ich dir ja die ganze Zeit zu sagen! Heidrun hat sie nur holen lassen, weil wir dachten... Aber jetzt ist alles gut! Komm, wir können gleich hingehen und sie mit nach Hause nehmen und dann erzähle ich dir alles in Ruhe, ja? Unterwegs können wir noch was zu essen holen, was meinst du?«Sie holt tief Luft. »Gib. Mir. Dein. Armband.«Ich blinzele. Etwas läuft hier völlig falsch. Ich wollte Frenja mit der Nachricht des gelösten Falls überraschen, doch alles, was sie interessiert, sind die Magiespeichersteine in meinem Armband.»Was willst du denn damit?«, frage ich und lege instinktiv meine linke Hand auf das Schmuckstück. »Reicht dir der eine Stein nicht?«Sie nickt.»Als du ohne eine Nachricht aus dem Haus gegangen bist, wusste ich, dass du es gemerkt hast.« Sie schaut sich um. »Bist du allein?«»Ja, bin ich. Aber was soll das Ganze? Du weißt, dass ich dir das Armband nicht geben kann. Und ich hätte dann auch bitte gern meinen Stein zurück.«»Um damit was zu tun?« Fran lacht höhnisch auf. »Um beides zu vernichten? Das ist es nämlich, was die Goldene Frau mir aufgetragen hat zu tun.«»Du warst noch einmal bei der Goldenen Frau deswegen?« Ich fasse es nicht! »Bist du verrückt geworden? Fran, ihre Befehle waren klar!«Frenja schnaubt. »Ich dachte, sie würde doch noch Vernunft annehmen.«Langsam wird mir das Ganze hier zu bunt.»Jetzt komm endlich und lass uns gehen!«»Erst wenn wir beiden das geklärt haben!« Noch immer sieht meine Freundin seltsam starr aus.»Oh, spricht da etwa Madam Drama?«»Die Goldene wird uns umbringen lassen - ist dir das denn gar nicht klar? Erst mich, dann dich, dann Antje. Dann alle, die wir kennen. Nur falls wir irgendeiner von den Steinen erzählt haben. Aber nicht mit mir! Ich werde Antje da rausholen und dann...«»Und dann?«Sie lächelt. »Dann werde ich dafür sorgen, dass jede erfährt, wozu die Steine in der Lage sind.«»Frenja, das kann doch nicht dein Ernst sein!«, entfährt es mir.»Das ist mein Ernst, Magret, mir war noch nie im Leben etwas so ernst. Du weißt ja nicht, wie es ist, eine Schwester zu haben, die... Und all die anderen da draußen!«Ich stöhne auf. »Bitte nicht wieder diese Diskussion!«»Nein, du hast recht: Die Zeit des Redens ist endgültig vorbei; die Zeit des Handelns ist gekommen! Ich sage es zum letzten Mal, Magret: Gib mir dein Armband!«»Nein! Du bist wohl vollkommen verr-«Etwas trifft mich in die rechte Schulter und reißt mich zu Boden. Was ist passiert? Instinktiv rolle ich mich zur Seite, bloß weg aus der Schusslinie!»Fran«, kommt es aus meinem Mund, »wir werden angegr-«Schon trifft mich der nächste Schuss, dieses Mal in die linke Hand. Meine Instinkte übernehmen. Ich rolle mich erneut herum, Hauptsache raus aus dem Schussfeld. Blut tropft mir aus Schulter und Handfläche, egal. Ich stehe auf und werfe meine Magie blind um mich. Werde mit einem würgenden Geräusch belohnt. Ich mache weiter und kann nur hoffen, dass ich nicht aus Versehen Frenja treffe.Eine Wucht reißt mir das linke Bein weg. Ich falle und pralle mit dem Rücken gegen die Mauer. Meine linke Hand ist mittlerweile taub, keine Chance mehr, sie zu benutzen. Egal. Schläge prasseln weiter auf mich ein, gehen daneben, streifen mich, keine Zeit innezuhalten und zu sehen, welche es wagt, mich anzugreifen.Welche auch immer es ist, sie ist gut!Doch das bin ich auch Schätzchen, du hast dich hier mit der Falschen angelegt!Ich nehme alles, was ich habe, lasse all meine Magie in das einfließen, was ich gleich meiner Angreiferin entgegenschleudern werde. Ich spüre, wie es vor tödlicher Macht in mir vibriert. Keine könnte das überleben, aber ich habe keine andere Wahl! Ich hole aus und-Halte in letzter Sekunde inne.Frenja beugt sich über mich.»Uff«, sage ich und lasse meine Hand sinken. Mein Mund schmeckt blutig. »Fran... fast hätte ich dich... Fast...«»Ach Magret«, sagt sie und holt aus. Dann-EpilogFrenja? Alles in Ordnung?«Ihre dunklen Augen kehren in die Gegenwart zurück, mustern den Sprecher und die anderen Frauen und Männer, die um das Lagerfeuer herum Platz genommen haben.»Ja. Ich musste nur gerade an eine alte Freundin denken, die gerade im Krankenhaus liegt.«»Das tut mir leid. Wird sie wieder?«Frenja zuckt mit den Schultern.»Es heißt, sie ringt mit dem Leben.« Sie zieht die Halskette hervor, an der, eingearbeitet in eine silberne Fassung, ein einzelner Stein hängt. Er ist grau und wirkt unscheinbar. »Egal. Lasst uns lieber weiter über die Zukunft reden.«mehr