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Reigen der Verdammten

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am11.05.2024
Die bitterböse Demontage einer Familie.
Lissabon 1975, nach der Nelkenrevolution: Der Patriarch einer großbürgerlichen, weitverzweigten Familie liegt im Sterben, und die Familienmitglieder eilen herbei, um sich auf das Erbe zu stürzen, das der Alte jedoch schon längst durchgebracht hat.

Eine witzige Satire auf Dummheit, Lüge und Gier, ein virtuoses Sprachfeuerwerk, eine Familiengeschichte voller Hass, Gemeiheit - und Liebe.

António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR8,50
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR7,99

Produkt

KlappentextDie bitterböse Demontage einer Familie.
Lissabon 1975, nach der Nelkenrevolution: Der Patriarch einer großbürgerlichen, weitverzweigten Familie liegt im Sterben, und die Familienmitglieder eilen herbei, um sich auf das Erbe zu stürzen, das der Alte jedoch schon längst durchgebracht hat.

Eine witzige Satire auf Dummheit, Lüge und Gier, ein virtuoses Sprachfeuerwerk, eine Familiengeschichte voller Hass, Gemeiheit - und Liebe.

António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641321789
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum11.05.2024
Reihebtb
Reihen-Nr.73388
SpracheDeutsch
Dateigrösse1515 Kbytes
Artikel-Nr.14702474
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Am zweiten Montag im September neunzehnhundertfünfundsiebzig fing ich um zehn nach neun an zu arbeiten. Ich erinnere mich nicht deshalb daran, weil ich ein besonders gutes Gedächtnis hätte oder weil ich das, was mir passiert, in einem Tagebuch aufschreibe (mich haben Tagebücher oder Gedichte oder ähnlicher Kinderkram nie interessiert), sondern weil es mein letzter Tag in der Praxis war, bevor wir nach Spanien flüchteten. Gleich nach der Revolution im April des vorangegangenen Jahres bewachten bärtige Zivilisten und langhaarige Soldaten in zerschlissenen Tarnanzügen die Straßen, kontrollierten Autos oder defilierten in Scharen unter dem Kommando eines dieser unverständlichen Megaphone der Blindenlotterie, die der Marxismus-Leninismus wiederaufbereitet hatte, dort unten auf den Plätzen. Ähnlich wie die streunenden Hunde am Strand, die dicht am Meer entlangtrotten und einem imaginären Geruch folgen, versammelten sie sich auf den Bergen des Alentejo, um den Bauern unter einem staubigen Scheinwerfer den Sozialismus zuzubellen; sie durchstreiften das Land auf klapprigen Lastwagen und bedrohten die Ladenbesitzer mit den schielenden Pupillen ihrer Maschinengewehre, schlugen mit Gewehrkolben Haustüren ein und hielten Haftbefehle unter verblüffte Nasen. Was uns betraf, so besuchten wir sonntags die vom Schiffbruch der Familie übriggebliebenen Onkel und Tanten, die im Fort von Caxias wegen Wirtschaftssabotage einsaßen und zwischen den Gitterstäben der Zellen und den Achseln von Fallschirmjägern hindurch an der Mauer die Gezeiten des Tejo steigen und fallen sahen. Nur die Großmutter, die schon krebskrank war, schipperte aufs Geratewohl im Rollstuhl herum, hatte das kleine Transistorradio aufs schüttere Haar am Ohr gelegt und betrachtete lächelnd und ohne zu begreifen die Demokraten, die sich hin und wieder rempelnd durch den Korridor wälzten, mit den Pistolenläufen im restlichen Familiensilber herumstöberten und die seltsamen Reden der Blindenmegaphone wiederholten.

Seit April des vergangenen Jahres gingen Armee und Kommunisten an die Fassaden der Gebäude, hoben wie Tiere das Bein, um zu urinieren, und ließen die Wände mit gepißtem Es lebe und Es sterbe zurück, das sich widersprach und gegenseitig aufhob, später mit Plakaten für Streikversammlungen überklebt wurde, mit Fotos von Generälen, Propaganda für Rockkonzerte, Hakenkreuzen, Boykottaufrufen gegen die Regierung und Einladungen im Stil von Toilettengraffiti, verliebt verschränkten Buchstabenfingern, die der Herbst der Zeit ausblich. Trotz der in den Straßen patrouillierenden Polizeijeeps besetzten mit Töpfen und Stühlen beladene Zigeuner die leeren Wohnungen im Zentrum. In den verfallenen Häusern entstanden Kinderhorte mit Kindern, die auf dem Boden saßen und von Mörtelschuttsandwiches dick wurden. An den Straßenecken schauten uns mit Kohle gemalte Stalins angewidert an. Und der Fluß mit den reglosen Tankerfelsen unter der Brücke wurde in Caxias ohnmächtig, erstickt von den Flügeln der Vögel.

Am zweiten Mittwoch im September neunzehnhundertfünfundsiebzig fischte mich der Wecker um acht Uhr aus dem Schlaf wie ein Kran, der am Kai algenbepelzte Autos an die Oberfläche hievt, die nicht schwimmen können. Ich kam aus den Bettüchern, mir tropfte die Nacht aus Ärmeln und von den Füßen, bis der Kran meinen rostigen, triefäugigen, von Tränensäcken und Rheumatismus beuligen Leichnam auf dem Teppich neben den Schuhen vom Vortage absetzte. Wie die Toten im Leichenschauhaus wickelte sich Ana auf der anderen Seite des Bettes in die Bettdecke, und nur noch der Piassavapalmenbüschel ihres zerzausten Haars schaute darunter hervor. Traurig wächsern tropfte eine verstorbene Ferse von der Matratze herunter. Während ich mir die Zähne putzte, zeigte mir der Spiegel im Badezimmer mitleidslos die Verheerungen der Zeit, Verwüstungen wie an einer aufgegebenen Kapelle. Hinter einem mit kleinen Fischen bemalten Plastikvorhang gab es auf Glasborden aufgereihte Flaschen und Tuben, den Auspuff des Föns und die zu intensive, vom Dampf der Dusche beschlagene Helligkeit. Wie immer flutschte mir die Seife drei- oder viermal aus der Hand, um sich auf die Fliesen zu stürzen oder mit einer Schaumspur bis zum Waschbecken zu glitschen, und ich, fast auf allen vieren, halbblind vom Shampoo, rutschte ihr nach, versetzte dabei den Schienbeinen des Bidets Fußtritte, kreiste auf der Suche nach dem Gleichgewicht, das sich davonmachte, mit den Armen, hängte mich, um dem Orthopäden zu entgehen, an die verchromten Handtuchhalter und kehrte schließlich zähneklappernd mit meiner rosaroten Meerbrasse fest in der Hand unter den heißen Wasserstrahl der Dusche zurück. Ana rauchte gegen ein Kissen gelehnt und sah mir zu. Die Bäume der bolivianischen Botschaft wuchsen uns im Fenster entgegen. Die Spatzen hängten sich kopfunter an die Zweige. Der Tag und der Geruch der Dunkelheit vermischten sich unter den Bettdecken. Ich öffnete die Schublade, um ein Hemd, einen Schlips auszusuchen, und Strümpfe, Strümpfe mit meinen tausend Tausendfüßlerknöcheln darin. Ana rauchte weiter, und in der Dämmerung flanierten auf den beleuchteten Balkons Boliviens, würdig wie Diplomatenzapatas, Typen mit Sombreros, Pistolen im Gürtel und Schnurrbart. Ich versteckte mich zwischen den Socken und Unterhosen und knöpfte die Weste zu, als Ana mir vom Kissenbezug her sagte, während sie eine zweite Zigarette an der ersten anzündete, Mit so einem blauen Fleck am Schenkel, Nuno, sollte man zumindest so viel Anstand haben, es so einzurichten, daß niemand ihn bemerkt. Ich zog mich weiter an: Ich hatte seit zwei Wochen nichts von Mafalda gehört.

»Ich bin mit dem Bein irgendwo dagegen gestoßen«, informierte ich sie, mit den Schnürsenkeln beschäftigt. »Gegen die Stoßstange oder eine Kommode oder den Teufel noch mal. Ich stoße zigmal gegen irgend etwas, ohne mich daran zu erinnern.«

Ana, die auf der Seite lag, reckte sich auf der Matratze, lächelte und legte die Wange auf den Arm: Seit der Scheidung vor fünf Jahren ertrug ich ihren Sarkasmus nicht mehr.

»Die ausgefallenen Manien deiner Freundinnen«, sagte sie säuerlich. »Entschuldige meine Meinung, aber das ist eine Frage der Ästhetik, mehr nicht.«

»Ich bin irgendwo dagegen gestoßen«, wiederholte ich und machte einen Fehler beim Schlipsbinden: Mafalda hatte das hundertste Mal mit mir Schluß gemacht, weil ich meine Beziehung zu Ana nicht endgültig aufgab.

»Du wirst so nervös, wenn ich davon spreche, daß du nicht einmal den Scheißknoten richtig binden kannst«, sagte Ana mit einer Art triumphierendem Wiehern, während sie sich unter den Bettüchern ausbreitete.

Spinnenschiffe liefen über den Tejo. Ein Bolero im Radio scheuchte mich mit hüpfenden Tanzschritten zur Tür: Ich hielt mich am Schrank fest, um nicht von einem Sturzbach von Halbtonschritten weggespült zu werden.

»Von wegen nervös«, sagte ich, »das ist dieses Scheißseidenzeug, das so rutschig ist.«

Das Dienstmädchen wärmte in der Küche den Kaffee auf. Ihr Zimmer, eine Kammer mit einem Koffer unterm Bett, lag am entgegengesetzten Ende der Wohnung neben dem Metallbusch der Nottreppe, dessen Stufenblätter im Winter jammerten und pfiffen. Ana hatte ihr eine Kommode für die Wäsche und einen Nachttisch aus weißem Email gekauft, den wahrscheinlich meine Schwiegermutter, die mit Ärzten und Versteigerungen bestens vertraut war, bei einem Krankenhausausverkauf ergattert hatte. Die Scharniere weckten Echos im ganzen Gebäude, vom Dach bis zu den Zementkatakomben der Garage, wo die Autos mit den Zähnen der Kühlerroste ihre eigenen Schatten abweideten. Das Dienstmädchen servierte mir den Kaffee und steckte zwei Toastbrotbriefe in den Briefkastenschlitz des Toasters.

»Ich habe keinen Hunger«, sagte ich, um mich wegen Ana zu rächen. »Ich trinke schnell eine Tasse und gehe dann.«

Aus den Federkissen der Kinder tönte hin und wieder Hustengebrummel. Der Kinderarzt behandelte dieses Dieseltuckern mit Tropfen und Sirup, und es erschreckt mich, daß heute statt eines blassen, mageren, an die Windeln geklammerten, die Schnullerzigarren kauenden Kinderpaares sonntags in der dunklen Eingangshalle des Hauses in Campolide, in dem meine Eltern wohnten und ich jetzt wohne, Jugendliche mit Marshelmen und der Hoffnung auf einen Schnurrbart zwischen Nase und Mund auftauchen, die ihre Mofas wütend jaulen lassen, um in der angespannten Atmosphäre eines Banküberfalls Geld von mir zu verlangen.

»Wenigstens ein Löffelchen Marmelade, Herr Doktor«, sagte das Dienstmädchen, indem sie einen Einmachtopf präsentierte. »Arbeiten, ohne etwas gegessen zu haben, macht Ihnen den Magen kaputt.«

Sie trug ein ewiges Gerstenkorn und roch nicht nach Nacht wie das ganze Haus, sondern schon morgens nach dem Abendbrot und nach Müdigkeit unter ihrem Kittel aus Serge. Sie roch nach der Zeit nach dem Nachtisch, wenn sie den Tisch abdeckte, die Maschine anstellte, ohne sich zu waschen in ihrer Kammer verschwand und um sich herum einen melancholischen Ziegengeruch verbreitete. Sie roch nach dem, wonach sie heute, beinahe zehn Jahre später, riecht, mich duzt, in Talmiketten ertrinkt und sich neben mich auf den kalbsledernen Sitz des Autos setzt, während sie mit beiden Händen das Lacksteuerrad der Handtasche festhält. Doch in der Zeit, über die ich spreche, in der Zeit dieses Buches, rückte ich die Marmelade beiseite, verweigerte den Toast und probierte den Kaffee, in dem der Zucker fehlte. Die Küchenuhr zeigte fünf nach halb neun. Das Dienstmädchen hob den Arm, um eine Dose mit Vanillekeksen von einem hohen Regal zu holen, die Düfte wurden stärker: Ein Keks auf den Weg, Herr Doktor. Die Bäume der bolivianischen Botschaft zogen ihre Schatten aus. Danke, sagte ich, während sich ihre...
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António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.