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Ich war doch noch ein Junge

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
384 Seiten
Deutsch
SCM Hänsslererschienen am01.09.20231. Auflage
Nevada, 2001: Mitka Kalinski führt ein scheinbar perfektes Familienleben - doch was niemand weiß: Er trägt ein düsteres Geheimnis in sich, das er seit vielen Jahren vor der Außenwelt verbirgt. Mitka ist Jude. Und die Schatten seiner Vergangenheit holen ihn ein: Plötzlich kommen die Erinnerungen an die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Pfaffenwald und an die Zeit als Kindersklave in Rotenburg an der Fulda in voller Wucht zurück. Und damit auch die Fragen nach seinen Eltern, seinem Namen, seiner Identität. Nach Jahrzehnten des Schweigens erzählt er zum ersten Mal seine schreckliche Geschichte und macht sich mit seiner Frau Adrienne auf die Suche nach seinen Wurzeln... Und nach der Wahrheit und nach dem Gott seiner Väter.mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR25,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR16,99

Produkt

KlappentextNevada, 2001: Mitka Kalinski führt ein scheinbar perfektes Familienleben - doch was niemand weiß: Er trägt ein düsteres Geheimnis in sich, das er seit vielen Jahren vor der Außenwelt verbirgt. Mitka ist Jude. Und die Schatten seiner Vergangenheit holen ihn ein: Plötzlich kommen die Erinnerungen an die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Pfaffenwald und an die Zeit als Kindersklave in Rotenburg an der Fulda in voller Wucht zurück. Und damit auch die Fragen nach seinen Eltern, seinem Namen, seiner Identität. Nach Jahrzehnten des Schweigens erzählt er zum ersten Mal seine schreckliche Geschichte und macht sich mit seiner Frau Adrienne auf die Suche nach seinen Wurzeln... Und nach der Wahrheit und nach dem Gott seiner Väter.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783775176057
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum01.09.2023
Auflage1. Auflage
Seiten384 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1808 Kbytes
Artikel-Nr.12321736
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1
Das Kinderheim
Bila Zerkwa und Kiew, 1939-1941

»Einsâ... zweiâ... dreiâ... vierâ... fünfâ...«

Ein Junge - fünf oder sechs Jahre alt - zählte mit, während die Bomben fielen.

Mitka Kalinski sitzt in seinem Haus in Sparks, Nevada, an einem Tisch, als er von einem seiner frühesten Kindheitstraumata erzählt. Seine geballten Fäuste unterstreichen die Worte, die von Wut und Schmerz, von Sehnsucht und Freude reden.

»In der Nacht, fünf Bomben. Ihr wollt wissen, wieso ich mich an die Zahl so genau erinnere? Ein fünf- oder sechsjähriges Kind kann bis fünf zählen, also fünf - eins, zwei, dreiâ...« Er zählt mit seinen Fingern. »Also fünf Bomben - und ich hatte Angst.«

Der sechsjährige Mitka trug ein Nachthemd - ein schweres, wie er sich erinnert, denn es war eines der wenigen Kleidungsstücke, die er besaß. Er kauerte in seinem Bett, dem ersten in zwei langen Reihen. Putz rieselte von der Decke.

»Meine Bettdecke war auf den Boden gefallen und ich hatte Angst, sie aufzuheben, und ich habe mich so zusammengerollt.« Er verschränkt die Arme vor der Brust, senkt den Kopf und krümmt sich zusammen.

Es war dunkel. Der Junge sah sich um, so gut er konnte. Er sah keine Erwachsenen, wie schon seit etlichen Tagen. Um ihn waren nur Kinder - kleine Kinder. Die älteren Kinder schliefen in einem anderen Raum. Einen Monat zuvor hatte eine Lehrerin den Kindern gesagt, dass sich in den nächsten Wochen alles ändern würde.

»Also fünf Bomben. Das hatte sie wahrscheinlich gemeint. Und die Bomben waren gefallen.«

An dem Morgen nach dem Bombenangriff, so erinnert Mitka sich - dem Morgen, als er ohne Decke auf seinem Feldbett lag und die Bomben zählte -, hörte er eine innere Stimme, die ihm sagte, er solle fliehen. Mitka vertraute der Stimme und folgte ihr. Barfuß und nur mit seinem dicken Nachthemd bekleidet, rannte Mitka aus dem Gebäude, er und ein anderes Kind, ein Junge, an dessen Namen er sich nicht erinnern kann. Die Jungen flohen über den nah am Haus vorbeifließenden Ros, der zu dieser Jahreszeit wenig Wasser führte, sodass man ihn überqueren konnte. Die Kartoffel- und Weizenernte, der niedrige Wasserstand des Flusses und Hitlers offensiver Vorstoß nach Russland ermöglichen es, den Zeitpunkt dieses Ereignisses auf Spätsommer oder Frühherbst zu datieren.

Nachdem die Jungen an etliche Haustüren geklopft hatten und abgewiesen worden waren, erreichten sie eine Weggabelung. Sie stritten darüber, welchen Weg sie einschlagen sollten, und da sie beide ihren eigenen Kopf hatten, wählte jeder eine andere Richtung. Mitka ging also allein weiter, tiefer in die Wälder.

Es war zwei Jahre her, dass Mitka in das Kinderheim in Bila Zerkwa, Ukraine, gekommen war, eine Internatsschule für jüngere Kinder. Ringelblumen hatten geblüht, erinnert er sich, auch wenn er damals nicht gewusst hatte, wie die Blumen hießen. Jahrzehnte später, als er einmal mit der Hand über die gelben Blütenblätter strich, erkannte er den typischen Geruch und fühlte sich sofort zurückversetzt zu dem Tag seiner Ankunft in Bila Zerkwa. Und zu einer Frau, an deren Gesicht er sich nicht erinnern kann, die aber seine Hand hielt.

»Ich erinnere mich, dass ich auf einem Pferdewagen mit Menschen mit schwarzen Hüten und langen Schals saß, und ich erinnere mich, dass wir auf der Flucht waren. Später fand ich heraus, dass die Nazis 1939 in Polen einmarschierten. Ich glaube, wir sind von Polen in die Ukraine geflohen. Das war also das Jahr, in dem das alles passierte. Es war 1939.«

Die Erinnerung an die Flucht in einem Pferdewagen ist eine der wenigen Erinnerungen an das Leben vor seiner Ankunft im Kinderheim, die Mitka besitzt.

»Ich erinnere mich an einen Mann. Er kam zu einem Haus. Er hatte einen netten kleinen Sportwagen mit einem Rad, einem Reserverad, auf dem Heck, und er schnitzte mir mit einem Messer ein Boot für das Wasser wie dieses hier.« Während er spricht, ahmt Mitka das Schnitzen nach und achtet dabei sehr auf die Details des Spielzeugboots, an das er sich erinnert. »Und er hatte eine Augenklappe über dem Auge«, fügt er dann hinzu.

Der Mann mit der Augenklappe ließ das Boot zu Wasser, und die beiden sahen zu, wie es auf den Wellen dahinglitt.

Ein paar Augenblicke vergehen, dann sagt Mitka mit etwas wie Wehmut und Zärtlichkeit in der Stimme: »Ich glaube, dieser Mann war mein Vater.« Als er weiterspricht, ist seine Stimme ungewöhnlich sanft und stockend: »Mein Vater - das sind Worte, die ich kaum aussprechen kann. Ich bin mir nicht einmal sicher, was sie bedeuten.«

Nicht ganz so deutlich, aber nicht weniger wertvoll ist Mitkas Erinnerung an eine Frau mit dunklem Haar, die ihm liebevoll begegnet ist.

»Ich erinnere mich an eine Frau, an eine bestimmte Begebenheit. Ich war noch in einem Kinderbett, ich muss also noch sehr, sehr klein gewesen sein. Sie hatte ein Gummiband dabei und schenkte es mir. Ich weiß noch, dass ich das Gummiband wie eine Schnur zwischen meine Finger nahm und daran zupfte, um Musik zu machenâ... ping, ping, ping.« Er macht ein rhythmisches Klimpern mit seiner Stimme, seine Hände deuten das Zupfen am Gummiband an. »Sie gab mir das Gummiband, umarmte mich und ging weg. Ich stand im Kinderbett und sah zu, wie sie aus der Tür ging. Sie hatte langes Haar. Sie schloss die Tür hinter sich. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Ich glaube, sie war meine Mutter.«

Verzweifelt gern möchte Mitka sich an mehr von dieser Frau erinnern können. Er kann es nicht.

Seine nächste Erinnerung stammt, wie er meint, aus einer Zeit kurz nach der Flucht aus Polen. »Ich habe mit zwei kleinen Mädchen gespielt und mein Vater musste in den Krieg ... Ich wette, er hat mich verlassen, um in den Krieg zu gehen.«

An diesem Punkt unterbricht Mitka seinen Bericht und versucht, sich die dann folgenden Ereignisse zu erklären. Er glaubt, dass er höchstwahrscheinlich in einer anderen Familie lebte, nicht bei seinen Eltern, sondern bei Menschen, in deren Obhut ihn möglicherweise sein Vater gegeben hatte. »Und dann hatten die Leute, bei denen ich wohnte, wahrscheinlich die Idee - und das sage ich aus heutiger Sicht -, dass sie mich aus dem Haus haben wollten, und haben mich woanders untergebracht. Und diese Frau« - nicht die mit dem Gummiband, sondern seine zeitweilige Ziehmutter - »hat mich ins Kinderheim gebracht. Und jetzt habe ich zwei und zwei zusammengezählt. Was denkt ihr, warum wollten sie mich nicht mehr im Haus haben?«

Der Blick in seinen Augen macht deutlich, wie wichtig diese Frage für Mitka ist. Es ist eine von vielen, die ihn schon lange verfolgen. Mit dem Vorbehalt, dass er es natürlich nicht sicher wisse, äußert er seine Vermutung: »Ich glaube, sie haben erfahren, was ich war - ein jüdischer Junge.«

Mitka schweigt eine Weile. Es ist für ihn offenbar eine schwerwiegende Erkenntnis.

»Sie dachten sich, wenn die Nazis das herausfänden, würde die ganze Familie ausgelöscht werden. Ich weiß nicht, ob das stimmt oder nicht, dass Menschen, die Juden beherbergten, ausgelöscht wurden. Ich weiß nicht, ob es wahr war, aber ich bin zu diesem Schluss gekommen.

Ich dachte immer, dass ich ins Internat geschickt wurde, weil ich nicht erwünscht war. Ich war nicht erwünscht. Ich wusste immer, dass ich anders war, weil ich so war, wie ich war, und die Sprache sprach, die ich sprach - dass ich anders war und nicht erwünscht. Ich habe die Frau, die mich dorthin gebracht hat, nie wiedergesehen - die Frau, die mich an die Hand genommen und dort abgeliefert hat.«

Als Mitka weiterspricht, geschieht es wie mit zusammengebissenen Zähnen. Seine Stimme wird härter. »Sie hat mich nach Bila Zerkwa gebracht«, sagt er sachlich, aber in seinem Ton schwingt auch Zorn mit. »Sie steckte mich in dieses Internat und ließ mich dort zurück. Ich weiß noch genau, dass ich dort nicht sein wollte. Ich habe Theater gemacht und sie haben mich in die Ecke gestellt. Ich wusste nicht, was mir geschah. Ich wusste nur, dass ich nicht dort sein wollte. Ich war ein böser Junge und sie ließen mich in der Ecke stehen.«

Diese Sätze wiederholt Mitka oft, während er sich an das Kinderheim erinnert: »Sie haben mich in die Ecke gestellt« und »Ich war ein böser Junge«. Sie spiegeln, so scheint es, sowohl die Scham als auch die Isolation wider, die er empfand.

So schnell wie sein Zorn aufgeflackert ist, so schnell ist er auch wieder verloschen. Mitka zieht die Schultern ein und schlingt die Arme um seinen Brustkorb. »Wenn ich jetzt daran denke, genau jetzt, bin ich wieder dieser kleine Junge. Ich glaube nicht, dass ich jemals erwachsen geworden bin. Innerlich bin ich immer noch sechs Jahre alt. Ich bin immer noch dort.«

Zwei Winter vergingen, in denen Mitka im Internat war. Bei diesem Detail ist er sich sicher. Die Jahreszeiten waren die Art und Weise, wie er sich an den Lauf der Zeit erinnerte.

Andere flüchtige Eindrücke haben sich ihm eingeprägt. Er weiß, dass das Kinderheim ein Ort war, an dem er nicht sein wollte, aber nicht alle seine Erinnerungen sind schmerzhaft. Er erinnert sich zum Beispiel daran, dass er es mochte, wenn es Hähnchen zu essen gab. Und dass er mit einem Dreirad, einem Tretauto und einem Reifen mit Stock spielte.

Er erinnert sich an die Pavillons auf dem Hof, oder wie er sie beschreibt: »Ähm - Schirme aus Holz«. Er fertigt eine einfache, aber detaillierte Zeichnung der Gebäude an und deutet auf die vier Standorte der Pavillons. Im Hauptgebäude erklärt er die Lage eines Büros, der Schlafräume, der Waschküche und der Küche. Auf seiner...
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