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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
228 Seiten
Deutsch
Books on Demanderschienen am11.03.20242. Auflage
Noch nie hat ein X irgendwo, irgendwann einen bedeutenden Punkt markiert. Vielleicht nicht, aber dieses X markiert die 10. Anthologie der Münchner Schreiberlinge. 10 Finger, 10 Gebote, 10 biblische Plagen. Eine Dekade. Dinge dezimieren. Number 10, Downing Street. 1 und 0. Binarität. Dezember. Überall in Mythologie, Geschichte, Sprache und Alltag ist die 10 präsent. Siebzehn Autor*innen zeigen in ganz unterschiedlichen Szenerien, welche ze(h)ntrale Rolle das X spielen kann. Begebt euch mit uns auf die Reise und erforscht die Bedeutung der 10.mehr
Verfügbare Formate
BuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR5,99

Produkt

KlappentextNoch nie hat ein X irgendwo, irgendwann einen bedeutenden Punkt markiert. Vielleicht nicht, aber dieses X markiert die 10. Anthologie der Münchner Schreiberlinge. 10 Finger, 10 Gebote, 10 biblische Plagen. Eine Dekade. Dinge dezimieren. Number 10, Downing Street. 1 und 0. Binarität. Dezember. Überall in Mythologie, Geschichte, Sprache und Alltag ist die 10 präsent. Siebzehn Autor*innen zeigen in ganz unterschiedlichen Szenerien, welche ze(h)ntrale Rolle das X spielen kann. Begebt euch mit uns auf die Reise und erforscht die Bedeutung der 10.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783758348556
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum11.03.2024
Auflage2. Auflage
Seiten228 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1742 Kbytes
Artikel-Nr.14238731
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Dani Aquitaine
Das zehnte Kind

Ich sterbe, denke ich.

Ich verfluche meine Mutter. »Wird schon nicht so schlimm werden« ist ihr Mantra, und ich habe ihr geglaubt, als das positive Testergebnis vor mir lag.

Ich verfluche Harbert, der rechtzeitig das Weite gesucht hat.

»Ich kann das nicht«, hat er behauptet. »Wenn es das Zehnte ist, ertrage ich es nicht, es wegzugeben.«

Ich verfluche mich. Nie wollte ich Kinder haben. Wer, der bei Verstand ist, will schon Kinder haben in Thal?

Als ich ungeplant schwanger wurde, war ich entsprechend wenig begeistert undbeschloss: »Ich gebe es einfach weg.«

Etwa im sechsten Monat habe ich erfahren, dass mein Kind tatsächlich das Zehnte im Ort werden würde. Also habe ich tief durchgeschnauft und mir gesagt: »Wird schon nicht so schlimm werden.«

Und da krümme ich mich nun auf dieser Liege und denke: >Scheiße noch mal, es ist noch viel schlimmer als schlimm. Ich rufe es sogar aus, schrei die in Erdtöne gehüllte Hebamme an, die sich eben lächelnd eine Kräuterzigarre angesteckt hat, um die Aura von negativen Schwingungen zu befreien. Ich brülle es hinaus in die Welt, als eine neue Wehe heranwogt, die mich der Urgewalt ausliefert.

Am Rande meines Bewusstseins nickt die Hebamme. »Gut, gut.« Sie hilft mir null. Harbert hilft mir null. Ich bin allein.

Schmerz schlägt zum hundertsten Mal über mir zusammen, raubt mir, während ich schreie und presse, die Sinne. Mit einem Mal lässt der abartige Druck nach.

Schwer atmend blinzle ich die Tränen weg und sehe auf der Gummiunterlage zwischen meinen Beinen bäuchlings ein rosa Wesen liegen.

Ich lebe! Diese Tatsache überrascht mich so, dass ich nicht anders kann, als mich vorzubeugen und das Kind hochzunehmen. Die Hebamme ist dabei, die Zigarre auszudrücken, sie bekommt mein Tun gar nicht mit, und als sie sich zu mir umdreht, liegt mein Kind bereits in meinem Arm. Es schreit wie am Spieß, sein Körper ist knallrot, sein Gesicht knautschig. Liebe durchströmt mich heiß von den Haarwurzeln bis in die Zehenspitzen, und das Glück, das ich fühle, lässt mich neue Tränen wegblinzeln.

Die Hebamme macht Dinge mit der Nabelschnur, die ich nicht sehen will, und fragt wie nebenbei: »Wollten Sie sie nicht abgeben?«

»Auf keinen Fall!«, schnappe ich.

Und zugleich schnappt die Realität mit eisernen Zähnen zu, beißt sich durch meinen seligen Hormonrausch.

Das Zehnte. Dieses perfekte rosa Wunder ist das Kind, das dem Drachen geschickt werden soll.

Mit hämmerndem Herzen drücke ich mein Baby an mich und küsse fieberhaft sein Köpfchen, seine Finger, seine kleinen, weichen Ohren.

»Er kriegt dich nicht«, flüstere ich, doch ich lüge. Noch nie ist ein zehntes Kind entkommen. Die nächsten neun dürfen nun friedlich unter dem angeblichen Schutz des Drachen aufwachsen. Das Zehnte gehört dann wieder der Bestie.

Klar, dass die Geburtenrate in den letzten Jahrhunderten stark zurückgegangen ist. Klar, dass Verhütungsmittel bei uns verboten sind. Klar, dass niemand das Tal verlassen darf - der Drache braucht Nahrung.

»Wir sind dankbar«, betont der Bürgermeister stets salbungsvoll, »dass Sigurd der Tapfere diese Abmachung mit dem Drachen ausgehandelt hat. Früher flog das Untier frei herum. Jetzt erhält es ab und an einen besonderen Leckerbissen und lässt uns in Ruhe. Und in Thal herrschen Frieden und Wohlstand.«

Klar, dass sich die umliegenden Städte mit uns gut stellen wollen. Wir sind die mit dem Drachen, dem verdammten Ehrenbürger unseres Ortes. Drecksdrache.

Das Kind hat sich beruhigt, doch jetzt fallen meine Tränen auf die zarte, schrumpelige Babyhaut, und Verzweiflung schüttelt mich. Als die Hebamme nach meiner Tochter greift, um sie mir abzunehmen, kreische ich auf. Ich bin drauf und dran, meine Zähne in den Arm der Frau zu schlagen, da geht die Tür auf. Viel zu spät stürmt die Ärztin herein, die für meine Entbindung vorgesehen war.

»Oh, ich sehe, Sie haben alles wunderbar allein hinbekommen! Ich habe es leider nicht rechtzeitig zu Ihnen geschafft, ein Notkaiserschnitt kam dazwischen.«

»Notkaiserschnitt?«, krächze ich.

Die Ärztin lächelt. »Eine überraschendes Schwangerschaft, mal wieder. Die Mutter hat versucht, sie geheim zu halten, aber das Kind lag falsch.« Sie missdeutet meinen Blick. »Es ist alles in Ordnung. Der Mutter geht es gut, und das Kind wird ein prächtiges Opfer für unseren Drachen.«

»Ein prächtiges Opfer ...«, wiederhole ich die herzlosen Worte leise. Dann sickert die Erkenntnis in mein Bewusstsein, und Erleichterung erfüllt mich. Mein Kind darfleben. Das ist alles, was zählt.

Himmel, das ist nicht alles, was zählt, stelle ich ein paar Stunden später fest. Ich kann nicht schlafen. Wütend auf mich selbst, dass ich es nicht gut sein lassen kann, rapple ich mich auf. Schwester Ludmilla hat mir untersagt, allein aufzustehen, aber die kann mich gern haben. Langsam watschle ich, die schlafende Ada im Arm, in den düsteren Krankenhausgang hinaus, und klopfe nebenan.

»Herein«, ertönt eine brüchige Stimme, und ich trete ein. Plötzlich wünschte ich, ich hätte die Kleine im Zimmer gelassen; mein Handeln scheint mir taktlos. Die Mutter des Zehnten ist bleich und starrt mir aus verquollenen Augen entgegen. Angstvoll drückt sie ihr Baby bei meinem Anblick an sich. Drei Tage darf sie es liebhaben, dann wird es abgeholt.

Ich suche nach Worten. »Ich dachte, mein Kind wäre das zehnte«, bringe ich hervor.

»Tja. Glückspilz«, stößt die andere bitter aus.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Die letzten Stunden haben etwas mit mir gemacht, ich ertrage die Düsternis in den Augen der Frau kaum; fürchte, unter ihrem Schmerz zusammenzubrechen.

Und ihr geht es anscheinend ähnlich. Sie erkennt mein Mitleiden, und ihr Blick wird milder.

»Ich bin Neiru«, sage ich.

»Mia«, murmelt sie und dreht ihr Kind herum, sodass ich einen Blick auf sein zerknautschtes Gesicht erhaschen kann. »Und das hier ist Theo.«

Unser beider Mutterliebe erfüllt den Raum, so schwer und heiß, dass ich kaum atmen kann.

Erschöpft rutscht Mia tiefer in die Kissen. Ihre Miene wirkt schicksalsergeben, wohingegen ich mit jeder Sekunde wütender werde.

»Wir dürfen das nicht länger hinnehmen. Die Vereinbarung ist grausam und böse«, stoße ich aus.

Es dauert, bis ich Mias Krächzen als Lachen identifiziere. »Ach ja? Denkst du, du bist die Erste, die keine Lust mehr auf Ausbeutung hat? Du hast keine Chance. Hast du in der Schule nichts von den stolzen Recken gehört, die nie wieder vom Drachenberg zurückgekommen sind?«

»Pff. Ich glaube, die waren nicht wütend genug. Aber ich bin es.«

Sie hebt eine Augenbraue. »Wütend genug wofür?«

Mein Blick fliegt von ihr zu Ada, und mein Mutterherz trommelt eisern in meiner Brust. »Um den Scheißdrachen zu töten.«

»Ich komme mit«, beschließt Mia.

Wir warten zwei Tage ab, in denen Mia ihrem Körper Ruhe gönnt. Ich nutze die Zeit. Harbert war überglücklich, als ich ihn darüber informiert habe, dass Ada leben darf. Ich tue so, als hätte ich ihm verziehen, dass er mich im Stich gelassen hat, und er rückt mit Sack und Pack an. Wir ziehen in einen Familienraum, der praktischerweise näher am Stationszimmer liegt. Dort entwende ich, als Schwester Ludmilla Harbert das Wickeln beibringt, Schmerzmittel und den Schlüssel für die Klinikgarage.

Am zweiten Abend nach dem Schichtwechsel um 23 Uhr gebe ich Ada einen Kuss auf die Stirn und sehe sie mit brennenden Augen an. »Ich tu´s für dich«, flüstere ich heiser. »Für deine Kinder. Wenn´s schiefgeht, kannst du mir hoffentlich verzeihen.«

Harbert steht unter der Dusche, ich muss mich beeilen. Ich schlüpfe in meine Kleidung, ziehe mir die Stiefel an, schultere meinen Rucksack. Bei derGeburt scheinen mirdiverse Muskeln abhandengekommen zu sein, es ist mühsam.

Muss kurz Luft schnappen, schreibe ich auf einen Zettel. Mit Mia. Kümmere dich um Ada und Theo!

Mit einem entwendeten Rollstuhl hole ich Mia ab und drücke ihr Schmerztabletten in die Hand. Auf den Gängen herrscht Stille, nur aus dem Stationszimmer ertönen gedämpft die Lacher einer Sitcom. Ungesehen fahren wir mit dem Lift in die Kelleretage. Mich interessieren weder die Sankas noch die funkelnden Dienstwagen der Oberärzte, denn damit kämen wir auf den schmalen Bergpfaden nicht weit. Stattdessenhelfe ich Mia auf die Sitzbank eines schnittigen Elektromobils, das normalerweise an Reha-Patienten verliehen wird. Ich setze mich vor meine Mitstreiterin und betätige...
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