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Über die See

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
160 Seiten
Deutsch
Verlag Antje Kunstmannerschienen am24.08.2022
Die Besatzung eines Containerschiffs möchte einmal mitten auf dem offenen Meer schwimmen gehen. Ihre Kapitänin lässt sich tatsächlich darauf ein ... Wie sich behaupten und gleichzeitig in Frage stellen, davon erzählt dieser wunderbar sinnliche Roman aus Frankreich, der u.a. mit dem Prix Léonora Miano ausgezeichnet wurde. »Erst hängen sie in der Luft. Dann tauchen sie zum allerersten Mal beide Füße in den Ozean. Sie gleiten hinein. Tausende Kilometer von jedem Strand entfernt.« Auf einer Fahrt in die Tropen, kurz hinter den Azoren richtet die Besatzung eines Containerschiffs eine ungewöhnliche Bitte an die Kapitänin: Sie möchten hier, auf dem offenen Meer, schwimmen gehen. Das hat es noch nie gegeben. Zu ihrer eigenen Überraschung lässt die Kapitänin es zu. Sie bleibt allein auf dem Schiff, mit all den Zweifeln, ob sie das Richtige entschieden hat. Werden die Männer zurückkommen? Das Schiff wird immer langsamer, ein mysteriöser Nebel kommt auf. Wieso kann die Kapitänin auf einmal das Herz des Schiffes schlagen hören? Und warum drängt sich ausgerechnet jetzt ihr Vater in die Erinnerung, der einst selbst zur See fuhr und seit einer Überfahrt kein Wort mehr sprach?

Mariette Navarro, geb. 1980, ist Schriftstellerin und Dramaturgin. In dem kleinen französischen Verlag Cheyne gibt sie eine Reihe poetischer Prosatexte mit heraus, darunter ihre eigenen, »Alors Carcasse« (2011, Robert Walser Preis 2012) und »Les Chemins contraires« (2016). Auf Deutsch erschien 2014 »Wir Wellen«. Zudem hat sie mehrere Stücke geschrieben. »Über die See« ist ihr erster Roman.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR20,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR15,99

Produkt

KlappentextDie Besatzung eines Containerschiffs möchte einmal mitten auf dem offenen Meer schwimmen gehen. Ihre Kapitänin lässt sich tatsächlich darauf ein ... Wie sich behaupten und gleichzeitig in Frage stellen, davon erzählt dieser wunderbar sinnliche Roman aus Frankreich, der u.a. mit dem Prix Léonora Miano ausgezeichnet wurde. »Erst hängen sie in der Luft. Dann tauchen sie zum allerersten Mal beide Füße in den Ozean. Sie gleiten hinein. Tausende Kilometer von jedem Strand entfernt.« Auf einer Fahrt in die Tropen, kurz hinter den Azoren richtet die Besatzung eines Containerschiffs eine ungewöhnliche Bitte an die Kapitänin: Sie möchten hier, auf dem offenen Meer, schwimmen gehen. Das hat es noch nie gegeben. Zu ihrer eigenen Überraschung lässt die Kapitänin es zu. Sie bleibt allein auf dem Schiff, mit all den Zweifeln, ob sie das Richtige entschieden hat. Werden die Männer zurückkommen? Das Schiff wird immer langsamer, ein mysteriöser Nebel kommt auf. Wieso kann die Kapitänin auf einmal das Herz des Schiffes schlagen hören? Und warum drängt sich ausgerechnet jetzt ihr Vater in die Erinnerung, der einst selbst zur See fuhr und seit einer Überfahrt kein Wort mehr sprach?

Mariette Navarro, geb. 1980, ist Schriftstellerin und Dramaturgin. In dem kleinen französischen Verlag Cheyne gibt sie eine Reihe poetischer Prosatexte mit heraus, darunter ihre eigenen, »Alors Carcasse« (2011, Robert Walser Preis 2012) und »Les Chemins contraires« (2016). Auf Deutsch erschien 2014 »Wir Wellen«. Zudem hat sie mehrere Stücke geschrieben. »Über die See« ist ihr erster Roman.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783956145247
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum24.08.2022
Seiten160 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse197 Kbytes
Artikel-Nr.9804125
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

III

SIE GLEITEN ins Wasser.

Erst die Fußspitzen, dann der ganze Körper, begleitet von einem stechenden Schmerz von der Kälte und dem Salz, das auf der Haut brennt. Der riesige Ozean lastet auf den Brustkörben, als ließe sich die gewaltige, stellenweise grau gefleckte See nicht einfach so durchdringen; das sieht man schon daran, wie sie seit der Abreise rigoros die Wassermassen hinter dem Frachter schließt, der doch alles daransetzt, sie zu teilen. Man zerreißt das Wasser nicht wie ein Stück Stoff, hinterlässt keinen Abdruck wie im Sand oder Schnee. Wer ins Wasser taucht, ist zur Unsichtbarkeit verdammt.

Beim Eintauchen fragen sie sich, ob sie wohl alle das Gleiche empfinden, ob der Ozean es auch übernimmt, ihre Gedanken miteinander zu verknüpfen, während die Körper sich in ihm tummeln, ob er ihre Eindrücke leitet wie Blitze.

Als sie die Wasseroberfläche berühren, sind sie gleichermaßen überwältigt, fast könnten sie mit der elektrischen Energie, die sie mit jeder Geste zu erzeugen glauben, die Meerestiefen ausleuchten.

Sie haben keinen Geltungsdrang, kein Zeitgefühl. Offenbar braucht es die erste Wellenklatsche, um sie ins Hier und Jetzt zu holen. Sie haben kein Ziel, vollführen die erstbeste Bewegung, um sich an der Oberfläche zu halten, um so viel Raum wie nötig in diesem von den Schwimmbewegungen verzerrten Kreis einzunehmen. Es wird sich schon zeigen, ob ihnen die Puste ausgeht, ob sie die Stille lähmt, ob die Euphorie dann als Flosse dienen kann.

Jeder hat sein gut gehütetes Bild von Freiheit, jeder erlebt seinen eigenen Schock im neuen Element. Unter ihren Augenlidern ziehen Landschaften vorbei, Schulferien, Ebenen, die so weitläufig sind, dass sie urzeitlich wirken, Regengüsse, Fahrradrennen bei glühender Hitze, winzige, in den Felsen versteckte Häuser, Sonnenblumen- und Rapsfelder, Strände, Gewürze, Baumhäuser.

Ihre Gesichter sind verzückt, gelöst, die Körper krümmen sich vor Wonne. Und jedem offenbart sich, dass in seiner Sprache das Meer das Meer ist und der Ozean mächtig.

Daran, wie jeder ins Wasser eintaucht, sieht man, wie er beschaffen ist, die blauen Flecken, die vergessenen Beulen, die lädierten Rücken. Man erkennt die jugendliche Geschmeidigkeit und die angestrengten Muskeln, die zärtlich gestreichelten Leiber und die Körper, die schon viel zu lange vernachlässigt werden. Die Öffnung, die jeder auf der Oberfläche hinterlässt, ist nicht genau dieselbe: Alle tragen eine andere Last.

Und doch gleiten sie ohne Aufprall ins Wasser, ohne es unnötig aufzuwühlen, es schäumt nur ein wenig um die Schenkel, als sie mit den Beinen strampeln. Eine Sekunde später sind sie unter Wasser, Medusenhaare, endlich nicht mehr nur in Gischt gehüllt, schlängeln sich, nehmen den Druck von der Kopfhaut, plötzlich schwerelos.

Das Rauschen des Wassers in den Ohren scheint ihnen neu. Sie tauchen einen Meter oder zwei, hören das Herz in den Schläfen pochen, vernehmen eine andere Form der Stille. Sie haben die Geräusche der Erde und der Wasseroberfläche hinter sich gelassen, sie entdecken die Musik ihres eigenen Blutes, Trommelwirbel bis zur Ekstase, Paukenschläge bis zur Trance. Tiefer Klang des Atemstillstands, Symphonie der Schwerelosigkeit.

Sie haben auf ihrer Nacktheit bestanden, und es scheint fast, als sei der Wunsch, nackt im Wasser zu sein, der ganzen Idee vorausgegangen, ein unbedarfter und konkreter Wunsch, der sich zu einer Obsession entwickelt hat: die Haut über alles, die in den Wahnsinn treibende Haut, die Leichtigkeit und erlösende Kühle sucht.

Jetzt reckt und streckt sich die Haut, nährt sich von der Kälte, dem Salz und dem gleichmäßigen Schaukeln noch der kleinsten Wellen. In der ersten Minute bewegen sie sich unter Wasser vorwärts, sternförmig, tretend, orientierungslos, öffnen die Augen und suchen den Frachter, den großen Schatten, den riesigen Rumpf, und vergessen sofort wieder, was sie gesucht haben, als die Sonne auf der Wasseroberfläche glitzert und sie ihr langsam das Gesicht nähern, auftauchen, atmen.

Beim Eintauchen hat jeder seinen Platz gefunden, seinen eigenen Kreis gezogen. Euphorisch und sorglos nehmen sie nur noch die Entfernung von Kopf bis Fuß wahr, genießen das Gefühl, sich zu strecken. Sie können in keiner irdischen oder nautischen Maßeinheit mehr rechnen, geben sich ganz dem Vergnügen hin, sich treiben zu lassen. Sie reden und singen, ohne einander zuzuhören, entfernen sich voneinander.

Die ersten zehn Minuten verfolgen sie keinerlei Ziel. Sie gleiten durchs Wasser, bewegen sich mit unkoordinierten Gesten vorwärts, schwimmen in frei erfundenen Schwimmarten um das Rettungsboot, paddeln unter Wasser und tauchen prustend wieder auf. Sie ruhen ganz in ihrem Körper. Das beim Eintauchen dunkel scheinende Wasser ist jetzt wieder durchsichtig. Sie spüren eine ungeahnte Energie, wollen alles ausprobieren, alles sehen, alles erleben, ihre Uhr ist wieder auf null gestellt, sie schreien so laut sie können, um ganz sicherzugehen. Sie erkunden einfach nur ihren eigenen Körper im kühlen Nass, den Widerstand gegen die Strömungen in diesem unendlich ruhigen Ozean. Obwohl der Horizont schaukelt, wenn sie den Kopf über Wasser halten. Eine Welle nach der anderen versteckt sie vor dem Schiff. Da begreifen sie, was es heißt, völlig unbedeutend zu sein. Ein wenig Salz trübt ihren Blick, ein wenig Transparenz zieht sie in den Bann, und dann diese Farbe, die sie noch nie zuvor gesehen haben: pupillengrün.

Sie sind von allem verzaubert, was glitzert, und sei es ihr eigener Oberschenkel, auf den ein Sonnenstrahl trifft. Sie erahnen, dass dies die unbeschwertesten Sekunden sind, die sie je erleben werden, ohne Angst, ohne Schatten, ohne Wolken. Sie dehnen den Moment, jeder zeichnet im Wasser seine eigene Strecke. Völlig versunken schwimmen sie lange Kraulbahnen. Sie wissen, dass dies unsterbliche Minuten sind, die einzigen vielleicht für lange Zeit, in denen sie sich nicht um den Rückweg sorgen müssen und einfach geradeaus schwimmen, in einer vollendeten Choreografie.

In der elften Minute verlangsamen sie ihre Bewegungen und lassen sich von der beißenden Kälte einholen. Sie atmen tief. Jetzt, da ihr Kopf aus dem Wasser ragt, nehmen sie den Himmel anders wahr, vielleicht ist er näher, oder von einem satteren Blau, vielleicht sind aber auch nur ihre Augen müde von der Helligkeit. Sie richten sich auf und stellen fest, dass sie die Orientierung verloren haben. Sie können ihren Körper nicht mehr senkrecht halten, denn das Meer windet sich schelmisch. Sind es die Sonnenstrahlen oder die unmerklich höher schaukelnden Wellen, die sie zum Narren halten? Sie lachen noch, jeder für sich, und lauschen dem Echo ihres Lachens in ihrer Schädelhöhle, erfassen die merkwürdige Diskrepanz zwischen den spontanen Fragen und dem Ton ihrer eigenen Stimme, zwischen dem Lärmen des Wassers und der Stille der anderen.

Sie wissen nicht mehr, ob ihr Arm die Welle durchtrennt oder ob die Welle ihren Arm packt, wissen nicht mehr, ob sie über ihre Richtung bestimmen oder ob das Rettungsboot sich entfernt. Sie setzen ihre Entdeckungsreise fort, ein Bein in der Gischt, amüsieren sich darüber. Sie sind der - freiwillige - Spielball der Wellen, sie sind Komplizen des Windes, der die Oberfläche kräuselt und den Schrecken auffrischt.

Die Angst vor Unwettern gehört einer anderen Zeit an, damit geben sie sich nicht ab. Heute haben sie alles im Griff, ihre Gesundheit, das Wetter, ihre Erkundungen und sogar ihre Unbedarftheit - alles im Griff.

Mühelos halten sie sich an der Wasseroberfläche, sind noch arglos, denn sie gehören zu jenen Menschen, denen ihr Körper vom Fitnessstudio und den vielen Trainingseinheiten her vertraut ist, sie gehören zu jenen Menschen, die jede Schwäche sofort wahrnehmen.

Sie gehören nicht zu denen, die sich einschüchtern lassen, die eine kurze Unaufmerksamkeit angreifbar macht, sie sagen sich, dass sie schon ganz andere Dinge erlebt haben, Momente im Leben, in denen es darauf ankam, konzentriert, ganz bei sich zu sein. Sie wissen, dass sie ihren Beruf für genau diese Momente des Kräftemessens mit der Natur gewählt haben. Also recken sie den Hals und versuchen auszumachen, wo die anderen schwimmen. Sie wissen, dass es gerade jetzt wichtig ist, zu bestärken und bestärkt zu werden, die Gruppe wieder zusammenzubringen, einander beizustehen.

Sie sind eine Mannschaft und immerhin erwachsene Männer, auch wenn sie sich im Wasser für einen Moment wieder so leicht gefühlt haben wie Kinder.

Sie suchen das Rettungsboot, entdecken es mühelos zwanzig Meter entfernt, wo es hin- und herschaukelt wie ein Seezeichen, grell und orange. Aber träumen sie, oder ist niemand an Bord? Und schwimmt auch niemand in der Nähe? Sie blinzeln einige Male, das Salz trübt womöglich auch die Sicht, milde lachen sie über sich selbst, über die einsetzende alberne...
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Autor

Mariette Navarro, geb. 1980, ist Schriftstellerin und Dramaturgin. In dem kleinen französischen Verlag Cheyne gibt sie eine Reihe poetischer Prosatexte mit heraus, darunter ihre eigenen, »Alors Carcasse« (2011, Robert Walser Preis 2012) und »Les Chemins contraires« (2016). Auf Deutsch erschien 2014 »Wir Wellen«. Zudem hat sie mehrere Stücke geschrieben. »Über die See« ist ihr erster Roman.