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Die leeren Schränke

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am24.09.20231. Auflage
An einem Sonntag im Jahr 1961 sitzt die zwanzigjährige Literaturstudentin Denise Lesur in ihrem Zimmer und wartet - dass ihr Körper die Abtreibung vollzieht, die eine Engelmacherin im Verborgenen eingeleitet hat. Der gebildete, bourgeoise, selbstgewisse Marc hat Denise auf die Nachricht der Schwangerschaft hin direkt verlassen. Und das Milieu, das er verkörpert, hätte sich auch nie ganz in ihrem Körper beheimaten können. Während sie also wartet, denkt sie über ihre Kindheit und Jugend nach: Zerrissen zwischen dem Elternhaus - obgleich stolze Épicerie-Besitzer sind ihre Eltern den bescheidenen, ländlichen Verhältnissen der Herkunft nie wirklich entronnen - und den Mitschülerinnen jener besseren Schulen, auf die ihre guten Leistungen sie befördert hatten, fühlt sich Denise von beiden Seiten stets abgestoßen.

Vulgär und wütend, voller Ablehnung gegen die bürgerlichen Angepasstheiten - Annie Ernaux umkreist in Die leeren Schränke ein frühes einschneidendes Ereignis, das ihr gesamtes Leben prägen wird. Und erfindet dafür eine völlig neuartige, aufwühlende literarische Form.


Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. Annie Ernaux hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Nobelpreis für Literatur.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR23,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextAn einem Sonntag im Jahr 1961 sitzt die zwanzigjährige Literaturstudentin Denise Lesur in ihrem Zimmer und wartet - dass ihr Körper die Abtreibung vollzieht, die eine Engelmacherin im Verborgenen eingeleitet hat. Der gebildete, bourgeoise, selbstgewisse Marc hat Denise auf die Nachricht der Schwangerschaft hin direkt verlassen. Und das Milieu, das er verkörpert, hätte sich auch nie ganz in ihrem Körper beheimaten können. Während sie also wartet, denkt sie über ihre Kindheit und Jugend nach: Zerrissen zwischen dem Elternhaus - obgleich stolze Épicerie-Besitzer sind ihre Eltern den bescheidenen, ländlichen Verhältnissen der Herkunft nie wirklich entronnen - und den Mitschülerinnen jener besseren Schulen, auf die ihre guten Leistungen sie befördert hatten, fühlt sich Denise von beiden Seiten stets abgestoßen.

Vulgär und wütend, voller Ablehnung gegen die bürgerlichen Angepasstheiten - Annie Ernaux umkreist in Die leeren Schränke ein frühes einschneidendes Ereignis, das ihr gesamtes Leben prägen wird. Und erfindet dafür eine völlig neuartige, aufwühlende literarische Form.


Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. Annie Ernaux hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Nobelpreis für Literatur.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518776957
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum24.09.2023
Auflage1. Auflage
Reihen-Nr.1549
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.11379555
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Stündlich mache ich die Schere, fahre Fahrrad, stütze die Füße gegen die Wand. Zur Beschleunigung. Sofort breitet sich eine merkwürdige Wärme in meinem Unterleib aus wie eine aufblühende Blume. Modrig, dunkelrot. Kein richtiger Schmerz, knapp davor, eine sich überschlagende Welle, die von überall her gegen meine Hüften brandet, in den Oberschenkeln verebbt. Beinahe Lust.

»Beim Einführen wird es kurz brennen.« Eine kleine rote Sonde, ein zusammengerollter, abgekochter Schlauch. »Sie wird ihren Zweck erfüllen, Sie werden schon sehen.« Ich lag auf dem Tisch, sah zwischen meinen Beinen nur ihr graues Haar und die rote Schlange, die sie bedrohlich am Ende einer Zange schwang. Dann verschwand die Schlange. Horror. Ich schrie die Alte an, sie stopfte Watte in mich hinein, damit es hielt. Fass dich da unten nicht an ... Lass mich an deiner Praline lecken ... Durchbohrt, aufgerissen, zugestopft, ich frage mich, ob sie jemals wieder zu gebrauchen sein wird. Hinterher gab mir die Alte Kaffee in einem Glas zu trinken, um uns aufzumuntern. Sie redete ununterbrochen. »Sie müssen sich viel bewegen, gehen Sie ruhig weiter zu Ihren Vorlesungen, außer Sie verlieren Fruchtwasser.« Am Anfang nicht leicht, mit all der Watte und dem Schlauch im Bauch zu laufen. Die Treppe runter, einen Fuß vor den anderen. Unten auf der Straße war ich ganz benommen von all den Leuten, der Sonne, den Autos. Ich empfand nichts, ich ging zurück zum Wohnheim.

»Sie werden Krämpfe kriegen.« Seit gestern warte ich, krümme mich über meinem Bauch zusammen, lauere auf ein Anzeichen. Was ist es eigentlich. Ich weiß nur, dass es langsam stirbt, sich ablöst, in der mit Blut und Schleim gefüllten Blase ertrinkt ... Und dann irgendwann abgeht. Mehr nicht. Ich liege auf dem Bett, den Kopf flach im Geruch der Decke, die Sonne brennt mir auf den Körper, von den Knien bis zu den Hüften, in mir eine lauwarme Flut, an der Oberfläche kein Zucken, alles spielt sich in den Falten und Windungen ab, kilometerweit von mir entfernt. Ohne Bezug zu den Anatomietafeln. Am liebsten würde ich bis zum Abend in dieser vagen Yogaübung liegen bleiben, für immer. Die Sonne würde durch meine Haut dringen, Organe und Gewebe zersetzen, und dann würde der Klumpen unbemerkt durch den Schlauch aus mir herausfließen. Vergebliche Hoffnung. So wird es nicht ablaufen. Keine Beschleunigung mehr, die Beine von der Wand nehmen.

Mir vielleicht einen der Schriftsteller für die Uni vornehmen und das Kapitel im Lehrbuch durcharbeiten, Victor Hugo oder Péguy. Ätzend. Nichts über mich, über meine Situation, kein einziger Text, der beschreibt, was ich durchmache, nichts, was mir hilft, das hier zu überstehen. Zu jedem Anlass gibt es Gebete, Geburt, Hochzeit, Tod, da sollte es auch Texte zu allen Themen geben, zum Beispiel zu einer Zwanzigjährigen, die bei der Engelmacherin war, dazu, was sie auf dem Rückweg denkt und in dem Moment, als sie sich auf ihr Bett wirft. Das würde ich lesen, immer wieder. Darüber schweigen die Bücher. Eine schöne Beschreibung der Sonde, eine Verklärung der Sonde ... Das medizinische Lehrbuch, das ich von meiner Zimmernachbarin ausgeliehen habe, ist voller grausamer Details und finsterer Anspielungen. Die wollen dir Angst machen, man stirbt doch nicht an einem kleinen Luftstrom. Andererseits, wenn man einen Frosch mit dem Strohhalm aufbläst ... Lieber verrecken. Nicht mehr diese andauernde Übelkeit, fader, fettiger Geruch, Essen, das plötzlich ekelig schmeckt, kilometerlange Würste im Traum, essbare Farben in den Schaufenstern. Innerhalb von zwei Monaten zu einer hechelnden Hündin geworden, die das Futter zurück in den Napf spucken will ... Giftgrüner Spinat, jodfarbene Tomaten, totgebratene Steaks. Ständig den Geschmack von ranziger Fleischbrühe im Mund, anscheinend entsteht er im Magen wie ein Geschwür. Beim Anblick meiner Bücher wird mir schlecht. Ich spiele Studentin, schreibe mit, versuche zuzuhören, in einem Schwebezustand, unvorstellbar, dass ich mal Gymnasiallehrerin, Kritikerin oder Journalistin werden wollte. Die Prüfung im Juni werde ich wahrscheinlich vermasseln und die im Oktober auch ... Wer weiß, vielleicht läuft es schief ... Also bringt es auch nichts, für die Uni zu lernen. »Wer übernimmt das Referat zu Gide?«

Der durch den Vorlesungssaal schweifende Blick Bornins. Ich könnte keine drei Zeilen zu Papier bringen, ich habe nichts zu Gide oder sonst wem zu sagen, ich bin eine Schwindlerin, wie die Pappflaschen im Schaufenster meiner Eltern, und auch Bornin mit seiner feuchten Aussprache und seinem schlaffen, verschrumpelten Pimmel ist ein Schwindler, seine Hände wedeln vor meinem Gesicht herum, sicher weiß er, was mit mir los ist, der schmierige Eierkopf, er schwillt an, die Fleischbrühe kommt mir hoch, ich biss die Zähne zusammen, wenn ich rausgelaufen wäre, hätten alle gewusst, dass ich schwanger bin. So sieht er aus, der Absturz. Dann lieber verrecken.

Ein Stechen, das erste, es breitet sich im Zickzack aus, explodiert in schlaffen Spitzen. Ein Feuerwerk in meinem Bauch, bestimmt in prächtigen Farben. Eine plötzliche Wärme, kaum spürbar, das Ende vom Ende eines Orgasmus. Ich werde vielleicht nie wieder einen haben, wenn in mir alles kaputtgeht. Die Strafe. Wenn sie mich jetzt sehen könnten ... »Du wirst noch böse enden.« Wann haben meine Alten diese alte Prophezeiung das erste Mal ausgesprochen. Vor einem Monat hätte ich ihnen fast ins Gesicht geschleudert, dass ich schwanger bin, um die Katastrophe zu sehen, um zu sehen, wie sie blau anlaufen und einen Anfall kriegen, die alten Masken ständigen Unglücks, wie sie hysterisch schreien und ich vor Freude und Wut brülle, sie hätten es nicht anders verdient, ich hätte es ihretwegen getan, weil sie so sind, wie sie sind, hässlich, jämmerlich, proletenhaft. Ich habe kein Wort hervorgebracht. Ich muss allein klarkommen, sie hätten mich nur daran gehindert. Über solche Dinge kann ich nicht mit ihnen reden. Sie haben nie etwas mitbekommen ... Sie haben alles für mich getan ... Zum Mittagessen, sie sagen altmodisch »dîner«, gibt es Brathähnchen und feine Erbsen, die sind am leckersten, sie sitzen an der Wachstuchdecke mit dem Gänseblümchenmuster, sie sagt, nach dem Essen kann man sich ja mal ansehen gehen, was in Les Cèdres gebaut wird, die neuen Geschäfte, schließlich ist das die Konkurrenz, er antwortet, das interessiert ihn einen Scheißdreck, sie brüllen sich an. Es ist, als wäre ich dabei. Ich will nicht an sie denken, an ihr Geschäft. Ich schaffe es nicht, einen Zusammenhang herzustellen zwischen den beiden und den weißen Wänden, dem sauberen Waschbecken, den neuen Bücherregalen. Hier bin ich nicht die Lesur-Tochter. Studentin. Im Park vor dem Wohnheim überall Blätter in atemberaubenden Farben, sie ergießen sich auf die Wege, auf die vor dem Zaun parkenden Autos. Fast ein Monticelli-Gemälde. Ein bisschen Bildung bleibt mir noch, bis zum Abitur hatte ich von Malerei keine Ahnung, kannte nur die Bilder, die ich aus Lecture pour tous ausgeschnitten hatte. Nicht durch das aufspritzende Laub rennen können, Blätter zertreten, einfallende Sonnenstrahlen zerschneiden den Weg, ein herber Luftzug zwischen den Zähnen, der den ranzigen Geschmack fortspült. Nur auf dem Rücken liegen, auf dem Bauch, die Beine spreizen, mich mit einem Ruck aufsetzen, in den Schneidersitz gehen, Prä-Abort-Gymnastik. Er würde sich totlachen, der kleine Dreckskerl, der bourgeoise Waschlappen ... Mich abtasten, mir den Moment vorstellen, in dem es aus mir herausschießt, eine Granate, ein Punchingball auf der Kirmes, eine Fontäne beim Fassanstich, so was in der Art.

Eine Züchtigung, eine Strafe um mehrere Ecken herum. Durchlöchert von einer kleinen roten Sonde. Zwanzig Jahre alt, und jetzt das. Niemand hat Schuld. Nur ich, ganz allein, von Anfang bis Ende. Wer. Erst die Tochter des Krämers Lesur, dann ständig Klassenbeste. Ein Trampel in weißen Kleinmädchensocken, eine Stipendiatin an der Uni. Vielleicht bald nichts mehr, penetriert von der Engelmacherin. Ich und die Bohnendosen im Schaufenster, der rostrote Mantel, den ich drei Jahre lang trug, Bücher, Bücher, kann ich mir das mal ausleihen, plattgetrampeltes Gras auf der Kirmes im Juli, die streichelnde Hand, wir dürfen nicht ... Überall Menschen, torkelnd, gestikulierend. Sie wanken auf mich zu, dunkelrot, mit herunterhängenden Händen, sie kommen von überall her, die Tattergreise, die verrückten Alten aus dem Heim nebenan, die geilen Böcke, die ständig eine Hand irgendwo haben, die Kunden, ...
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Autor

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. Annie Ernaux hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Nobelpreis für Literatur.
Die leeren Schränke