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Im Spinnhaus

Roman
TaschenbuchKartoniert, Paperback
Deutsch
Sammlung Luchterhanderschienen am08.12.2008
»Die poetische Kehrseite der Wirklichkeit.« Frankfurter Allgemeine Zeitung

Traumversponnen und wirklichkeitsnah zugleich leben Generationen von Frauen in einem Spinnhaus und weben an einem großen Geschichten-Teppich, in dem auch die groben Fäden des 20. Jahrhunderts ihre hässlichen und gelegentlich auch höchst lächerlichen Spuren und gut zu erkennenden Muster hinterlassen haben. Ein Heimatroman, der an den jungen Günter Grass und an Strittmatters »Der Laden« denken lässt und in einer schönen Landschaft großes Welttheater in Szene setzt.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR8,00
HörbuchCompact Disc
EUR16,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR6,99

Produkt

Klappentext»Die poetische Kehrseite der Wirklichkeit.« Frankfurter Allgemeine Zeitung

Traumversponnen und wirklichkeitsnah zugleich leben Generationen von Frauen in einem Spinnhaus und weben an einem großen Geschichten-Teppich, in dem auch die groben Fäden des 20. Jahrhunderts ihre hässlichen und gelegentlich auch höchst lächerlichen Spuren und gut zu erkennenden Muster hinterlassen haben. Ein Heimatroman, der an den jungen Günter Grass und an Strittmatters »Der Laden« denken lässt und in einer schönen Landschaft großes Welttheater in Szene setzt.
Details
ISBN/GTIN978-3-630-62152-4
ProduktartTaschenbuch
EinbandartKartoniert, Paperback
FormatKlappeinband
ErscheinungsortMünchen
ErscheinungslandDeutschland
Erscheinungsjahr2008
Erscheinungsdatum08.12.2008
SpracheDeutsch
Gewicht239 g
Artikel-Nr.10915335
Rubriken

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Erst wenn der Besucher Philadelphia hinter sich gelassen hat und von der Bundesstraße 246 nach wenigen Kilometern südlich abbiegt, das Urstromtal durchfährt, an Seen Brachwiesen Heideflächen vorbeigekommen ist, an Roggenfeldern mit blauäugigen Kornblumen, an aufgeschütteten Spargelzeilen, alten Gehöften, Richtung Groß Eichholz, dann linksweg durch sanfthügliges Sandgebiet, in dem Kiefern und Lärchen im Sommer harzige Wärme verströmen, wenn er noch ein Stück westwärts fährt, hat er Lärchenau erreicht.Der Besucher wird sehen, daß dieser Ort wenig zu bieten hat: kein Schlachtendenkmal, keine alte Feldsteinkirche, kein berühmtes Restaurant, nicht einmal ein Storchennest. Dabei ist Lärchenau reizvoll eingebettet in gesunde Flora und Heimat für fast achthundert Menschen, die in soliden Häusern wohnen, jedes mit neu gedecktem Schindeldach. Der durstige Besucher kann Einkehr halten im Gartenlokal »Zum Ochsen«. »Timms Fleischerei«, die sich mit braunglasierten Außenwandkacheln vom Lichtocker der anderen Häuser abhebt, bietet an Wochentagen schmackhafte ländliche Kost. Verläßt man die Dorfstraße und schlägt sich linksrechts in Nebenwege, wird man vielleicht vor der zweistöckigen prächtigen Villa verweilen, die dem Arzt Professor Doktor Gunter Konarske gehört.Aber nur wenn der Besucher den Weg über den Anger bis ans Dorfende geht, kann er das Schloß sehen. Jenen bescheidenen, altrosa verputzten Landsitz derer von Lärchenau. Der vierzig Jahre lang als Lagerhalle für Landmaschinen diente. Hinter dem sich jetzt ein kleiner barocker Park in den märkischen Wald hinein öffnet. Wer Lust verspürt, diesen Wald zu betreten, wird in angenehmer Ruhe seinen Alltag vergessen. Sommers kann man auf sonnenknisternden Lichtungen ein beispielloses Biotop erforschen. Hier, bei Lärchenau, findet der Pilzkenner neben goldgelb glänzenden Lärchenröhrlingen die köstlichsten Reizker-Arten: jene, deren orange- oder blutroter Saft milde unter den Lamellen hervortritt und deren edelste Exemplare in der Küche begehrt sind. Nur wenn in irgendeinem Winkel des Waldes der Hallimasch auftritt, ist Gefahr angesagt.Wer durch die hierorts oft herrschende Trockenheit den Wald lieber meidet, kann Erholung am Mennichensee finden. Keine zehn Fahrradminuten von Lärchenau entfernt liegt er eingebettet in niedrighölzigem Nadelwald: ein Kleinod der Natur, mit Teichrosen und Schilf umgürtet. Bläßhühner und Haubentaucher sind zu beobachten, wie sie blitzschnell abtauchen und oft so lang unter Wasser bleiben, daß man glauben könnte, am Grunde des Sees befände sich etwas außerordentlich Interessantes. Mitunter erscheinen Kormorane, die sich auf den Uferpfählen niederlassen, um nach dem Fischen fächelnd ihre Flügel zu trocknen. Entdeckt der Jäger diese Vögel, schießt er sie ab.In nur vierzig Autominuten erreicht man von Lärchenau aus die Oper. Überhaupt hört man durch das stille, stets nachwachsende Grün der Landschaft den Lärm der nahen Stadt.Am 6. September 1944 wurde in Lärchenau, in der Wohnstube des Milchmannes Otto Konarske, dessen lediger Tochter Rosie ein Junge geboren. Unter Musik, die aus dem Volksempfänger klang. Die Hebamme hatte den Radioapparat vom Schrank genommen und ihn neben die Kreißende, die rücklings auf wachstuchgeschütztem Sessel lag, placiert. »Die Kiste stinkt!« keuchte Rosie.Sie wollte erklären, daß ihr der Geruch des Bakelits schon immer Übelkeit erzeugt hätte, aber das Geheimrezept der Hebamme lautete: Mit Musik geht alles besser. Auch Hühner, behauptete sie, legen bei Musik größere Eier, Kühe geben mehr Milch.Der Großdeutsche Rundfunk gab Wagner. An jenem Nachmittag hörte die Gebärende, was ihr, vermischt mit dem Bakelitgeruch, wie ein Wurm in die Seele kroch - Denn der Götter Ende / dämmert nun herauf. Sie quälte sich in den Wehen, mochte den orgelnden Sopran nicht ertragen, denn diese Töne, erinnerte sie sich, hatte der Kindsvater Doktor Lingott verabscheut. Er, der Musikliebhaber, auch wenn er jetzt am Ort der ewigen Stille weilte und Engelskonzerten lauschte. Rosie zerschrie unter den Wehen die nicht endenwollende Arie selig in Lust und Leid / läßt die Liebe nur sein, und einen Moment lang glaubte sie an die große Lüge der Musik.Siebzig Jahre alt war Rochus Lingott gewesen, als er seinen Sohn gezeugt hatte. Der Arzt, der auf so wundersame Weise die Lärchenauer über zwei Weltkriege hinweggetröstet, der für alles eine Medizin, eine Musik oder eine andere Lösung hatte. Der Doktor war ein Mann vornehmer Güte. Schlank, das Haar im Alter voll und weiß. Aufgrund seiner Größe lief er nach vorn gebeugt, zog ein wenig die Schultern ein und sprach mit tiefer weicher Stimme, die aus einem unendlichen Resonanzraum seines Inneren zu kommen schien. Mit Vorliebe trug er helle Leinenhosen und weiße Hemden aus Baumwolle. Selbst auf Beerdigungen erschien er in birkenhafter Frische. Niemand nahm es ihm übel.Doktor Lingott heilte vornehmlich mit dem, was die Natur bot. Nicht, daß er ein Verächter der Schulmedizin war, aber als Landarzt hatte er das Wissen und den Zugriff auf das, was ihm quasi vor Augen wuchs: heilkräftige Kräuter, Blüten und Beeren. Oftmals empfahl Doktor Lingott versehrten Patienten ein Bad im Mennichensee. Der See, behauptete er, verfüge über eine besondere Algenart, der man eine gesundende Wirkung nachsage. Tatsächlich erreichte der Arzt mit seiner Bademethode Erfolge. Vor allem Brandverletzte und Männer, die mit amputierten Gliedmaßen aus Verdun Warschau Stalingrad nach Lärchenau zurückkehrten, schickte er ins Wasser, wo sie unter Aufsicht einer Krankenschwester ihre verschmolzenen Häute und Stümpfe badeten und danach merklich an Lebensmut gewannen.Bei weiblichen Patienten bevorzugte der Doktor subtilere Heilmethoden. Wie auf dem Land üblich, besuchte er die Kranken oft zu Hause. Er schwang sich aufs Fahrrad (in späteren Jahren fuhr er einen kleinen Ford), machte sich auf den Weg durch Lärchenau und in die Nachbardörfer. Bei sich trug er eine Ledertasche, die neben medizinischen Untersuchungsgeräten allerhand Beruhigungs- und Belebungstropfen barg. Je nach dem, was die Landfrauen an Beschwerden vorzubringen hatten, flößte ihnen Doktor Lingott pflanzliche Balsame ein. Nachdem sie Wirkung gezeigt hatten, fanden sich die Patientinnen in erlöstem Zustand.Vor allem den Witwen der Gegend tat der Doktor wohl. Er sprach mit ihnen im tiefen eindringlichen Largo des Wissenden. Er trieb ihnen die Trauer aus, indem er spezielle abendliche Spaziergänge verordnete. So taten es die Witwen: Abends liefen sie in Grüppchen durch Lärchenau, flüsterten, kicherten, hakten sich backfischhaft unter. Wie vorgeschrieben, machten sie vor dem Haus des Doktors halt. Dort begann die Therapie. Aus dem geöffneten Fenster über den Praxisräumen tönte Musik. Doktor Lingott spielte. Auf einem Flügel. Nicht meisterhaft, aber hinreißend. Bach Mozart Beethoven. Manchmal, wenn er glaubte, eine Frau auf der Straße weinen zu hören, wechselte er den klassischen Stil zu springendem reißenden Rag oder Swing, immer wieder wiegenden tröstenden Swing, den er auf die Witwen ansetzte, eine verbotene durchschlagende Medizin, und sie standen unterm Fenster, fingen zu tanzen an, leise, wie von süßer Macht getrieben, und tanzten und swingten bis nach Mitternacht. Dann schloß der Doktor das Fenster, legte sich schlafen. Ach, seufzten die Frauen. Manch eine überlegte, ob sie den Doktor nicht noch auf einen nächtlichen Hausbesuch herausklingeln sollte. Aber die Frauen bewachten einander.Rochus Lingott besaß seit dem Jahr 1900 eine kleine Praxis, die unter den Räumen seiner Privatwohnung eingerichtet war. Von der aus man einen schönen Blick auf Kirche und Friedhof hatte. Kaum ein Lärchenauer, der nicht wenigstens einmal halbjährlich dem Arzt einen Besuch abstattete. Jedes Bagatelleiden war Anlaß für die Dorfbewohner, bei ihm vorzusprechen. Die Wände der Praxis hatte Doktor Lingott in sanftem Ocker gehalten. Das Wartezimmer schmückten gerahmte Farblitographien aus Köhler's Medicinal-Pflanzen-Sammlung von 1887, wo in zierlicher Art Schlafmohn und Fingerhut, Goldregen und Stechpalme den Betrachter ins wundersame Reich der Medizin führten.Über dem Schreibtisch des Untersuchungszimmers hing eine bildnerische Rarität: eine Karte mit dem Abbild des Wasserschierlings, in allen Einzelheiten, vom gekammerten Stengel über die blühende Dolde bis zur aufgeschnittenen eiförmigen Frucht. Jeder, der die Praxis besuchte, blickte auf diese Pflanze. Auf nichts sonst. Erst als Lingott 1937 vom Reichsgesundheitsamt die Auflage erhielt, ein Führerbild über den Schreibtisch zu hängen, geriet die Existenz des Schierlings in Gefahr. Unter Aufsicht eines Amtmannes mußte der Doktor das Pflanzenbild von der Wand nehmen und das des Führers anbringen. Sobald der Amtmann die Praxis verlassen hatte, heftete Lingott den Schierling über das Bild des Führers. Kündigte jemand Hohes seinen Besuch an, verstaute der Doktor den Schierling für kurze Zeit hinter dem Schrank.Doktor Lingott behandelte alle gleich: den Landarbeiter wie den Gutsbesitzer, den Greis wie den Dreikäsehoch, den fahrtenmessertragenden Bengel wie das zopfnestgeschmückte Mädel, den Turnlehrer wie den Krüppel, den Nationalsozialisten wie den Kommunisten. Er gehörte keiner Kirche und keiner Partei an. Ein Radio besaß er nicht. Die Zeitung, die er täglich zugestellt bekam, verwendete er zum Ausstopfen nasser Schuhe und zum Anfeuern. Rochus Lingott liebte seinen Beruf. Mehr noch liebte er die Musik.Im Mai 1940 stellte er Milchmanns Tochter, die neunzehnjährige Krankenschwester Rosie Konarske, in seiner Praxis an. Die bisherige Arzthelferin war zum Reichsarbeitsdienst verpflichtet worden. Rosies Bewerbung kam gerade recht: so aufreizend hübsch und kräftig war die junge Schwester, daß der Doktor Gefallen an ihr fand. Von Wuchs war Rosie eher klein. Das holunderschwarze Haar trug sie zum Nest aufgesteckt. An manchen Tagen ließ sie das Haar über die Schultern fallen. Es verdeckte dann ihre glühenden Ohren. Maikäferbraun leuchteten Rosies Augen. Lachte sie, entblößte sie eine Reihe großer Zähne. Mitunter vergaß sie den Mund zu schließen. Es kam auch vor, daß sie gegen Bäume und Haustüren lief. Mancher im Dorf munkelte: Die hamse mitte Muffe jebufft. Doch in Rosie vereinte sich, was für den Beruf der Krankenschwester wichtig war: Sanftmut und Strenge, Gehorsam und Eigenständigkeit.Es dauerte nicht lange, da hatte Doktor Lingott sie eines Abends zu sich nach Hause gebeten. Er wolle, erklärte er die Einladung, mit Rosie zusammen ein neues Behandlungssystem erarbeiten sowie etwas mehr über sie und sich erfahren. Rosie zögerte nicht, die Einladung anzunehmen. Der Ruf des Arztes war tadellos, und solch eine Offerte, das wußte die junge Frau, war der Traum manchen Dorfweibes. Da Rosie keiner Heilung bedurfte, war sie sich sicher, als Krankenschwester und nur als solche bei Doktor Lingott geladen zu sein. Einzig Otto und Emma Konarske, die den Milch- und Grünzeugladen im Dorf betrieben, waren argwöhnisch. Der Doktor soll, behauptete Mutter, einen Schrank voller gebrauchter Brautkleider besitzen. Vater wußte, daß der Doktor jedem, der vor seinen Augen den Deutschen Gruß machte, eine Tasse Rizinusöl verabreichte.»Alles Märchen«, sagte Rosie, holte eine frisch gestärkte Schwesterntracht aus dem Schrank, steckte das Häubchen mit Haarnadeln fest, zog eine Strickjacke über und versprach, spätestens zehn Uhr wieder zu Hause zu sein.Rosie stand in der Diele, als hätte sie nichts als ihre Schönheit zu bestellen. Rochus Lingott saß am Flügel. In hellem Anzug und Seidenschal. Er spielte, ohne aufzusehen. Eine Sonate von Bach spielte er, und Rosie befand sich sogleich in einer Folge wunderbarster Töne, die den Fingern des Spielenden oder dem Instrument entsprangen, tanzten, sich in Bücherregalen, derDeckenleuchte verfingen, wirbelndes fugales Auf und Ab, bis die Töne umschlugen, härter, frecher wurden, gleichsam den Gast aufforderten, das steife Schwesternhäubchen abzulegen. »Mozart!« rief der Doktor.Gewohnheitsmäßig wollte Rosie die rechte Hand zum Gruß heben, dachte aber noch rechtzeitig an Vaters Warnung und machte einen Knicks. Einen Moment lang schien Rochus Lingott irritiert, dann lachte er kurz auf, spielte das Instrument mit wirbelnden Fingern, deren Lauf über die Tasten Rosie gebannt verfolgte, als besäße der Doktor mehr Fingergelenke als ein normaler Mensch, wie eine Spinne, die klangvolle Fäden zu Rosie knüpfte und sie in irre Gedanken fallen ließ, denn jetzt sah sie die Finger als Skalpell und Spekulum, Klemme und Katheder, und dennoch spielten sie weiter jene Musik.»Kommen Sie ruhig näher«, sagte Lingott in die Pause hinein, in der er vom Adagio zum Presto wechselte, »spielen Sie mit mir.«»Aber das kann ich doch gar nicht.«Rosie mußte die Strickjacke ablegen. Abermals Mozart, sanft, hart, hoch aufspringende Töne von ungewohnter Gewalt, dann ein Gewitter unterschiedlichster Nuancen, kaum zu fassen, keiner Harmonie folgend, eine chaotische gleichsam kosmisch geordnete Unordnung. So hörte es Rosie. Und es flimmerte ihr vor Augen.»Das ist Schönberg.«Der Doktor ließ seine Finger hüpfen. Die junge Krankenschwester stellte sich nun vor, jede Fingerkuppe steche in geschwüriges Fleisch, so daß mit jedem Ton der Eiter spritze. Sie versuchte ihre Ohren mit den Fingern zuzuhalten, denn diese Musik schien nicht von dieser Welt, und vielleicht, dachte Rosie plötzlich, ist es das, was Vater und Mutter meinten, als sie vor dem Doktor warnten.»Keine Angst!« rief Lingott, schob den Klavierschemel nach hinten, raffte die Jackenärmel und spielte nun Swing. Goody Goody! sang er, streichelte die Tasten und eröffnete den letzten Teil seines Zaubers. Da vergaß Rosie, was die Eltern geargwöhnt hatten. Die Zärtlichkeit der Musik riß sie hin, ging in Arme, Beine, Füße. Rosie begann mitzuswingen in ihrer Tracht, deren Schürze sie sich jetzt entledigte. Dem flotten Goody folgte der Tiger Rag, und Lingott ließ in der Diele den Tiger los. Der brachte Rosie dazu, sich auf dem Parkett zu drehen, klatschend zur Musik, die sich im nächsten Moment wieder änderte und So tired sanft unter Doktors Händen die Krankenschwester aufforderte zu vergessen, woran sie glaubte - an das neue Behandlungssystem, die Brautkleider, das Rizinusöl ...»Jetzt sind Sie aber dran.«Doktor Lingott klappte den Flügeldeckel zu.»Verzeihen Sie«, hauchte Schwester Rosie, vollbrachte noch eine Drehung und sank zu Boden. Erschöpft. Erleichtert.In diesem Moment beschloß Doktor Lingott, sein Spiel nur noch bei geschlossenem Fenster und allein für seine neue Krankenschwester zu veranstalten. Er hob Rosie vom Boden auf, legte sie im Wohnzimmer auf die Couch und belebte sie wieder mit einem Kuß auf die Stirn. Jetzt will er mir ein Brautkleid schenken, dachte Rosie. Aber Lingott sagte nur, daß er sie nicht überfordern wolle und man das Gespräch auf einen anderen Tag verschieben müsse. Pünktlich um zehn Uhr begleitete Rochus Lingott die Krankenschwester nach Hause.Nichts sei passiert, äußerte sich Rosie den Eltern gegenüber, und doch, fügte sie hinzu, sei ein Wunder geschehen.»Ja«, blaffte Milchmann Konarske, »'n Wunder is', dat ick dem alten Jrützkopp nich'n Brejen einschlach!«»Er hat mir nichts getan.«Rosie flehte Vater an, nichts gegen den Doktor zu unternehmen. Da sah sie schon Vaters Blick, der ihr so bekannt war, daß sie ihn fürchtete wie einen Schwarm Hornissen.»Jut«, sagte Otto Konarkse zu seiner Tochter, »weeßt ja, watte für meene Jesundheit zu tun hast.«Das wußte Rosie. Sie wartete auf die Stunde, bis Vater sie zu sich rief.Tags arbeiteten der Arzt und die neue Schwester gemeinsam in der Praxis. Rosie besaß ein gutes Lehrzeugnis, verstand sich in Lingotts Heilmethoden, war bald ganz der neuen Verantwortung hingegeben. Abends, wenn Rosie der elterlichen Aufsicht entkam, spielte Lingott für sie am Flügel. Da saß sie neben ihm auf einem Stuhl und lauschte. Manchmal konnten sie während des Spiels unter dem Fenster klagendes Keckern vernehmen. Dann zog der Doktor die Vorhänge dichter zu und flüsterte: »Witwenweh, vergeh, vergeh!«Einmal mußte Rosie am Flügel Platz nehmen. Lingott beugte sich von hinten über sie, führte ihre Finger über die Tasten. «5-zwei-drei-vier, 5«-und-Spinne, Bub-und-Spinne, gingen-in-den-Wald. Rosie spürte, wie ihre Finger dem Instrument Töne entlockte, wenn auch geführt und simpelster Natur, da-wurden-dem-Bub, da wurden-dem-Bub, die-Beine-kalt, und doch gehörten die Töne ihr und Lingott als Gemeinschaftswerk. Sie sang das Lied oft. Sie durfte den Doktor Rochus nennen. Er sagte zu ihr meine Rose.Und Otto Konarske: »Der könnte ihr Jroßvater sein!«Zum 69. Geburtstag schenkten Lärchenaus Frauen ihrem Doktor einen Volksempfänger aus schwarzem Bakelit. Damit er endlich einmal richtig Musik hören könne, damit er vielleicht wieder für die armen Witwen spiele. Und auch sonst mehr von der Welt mitbekäme.»Die Kiste stinkt«, maulte Rosie, als Lingott das Radio auf den Schreibtisch der Praxis gestellt hatte.»Dann wirf sie weg.«Rosie hatte eine bessere Idee. Sie überreichte das Radio zu Weihnachten ihren Eltern.»Damit ihr endlich einmal richtig Musik hören könnt.«In die Stille der feiertäglichen Stube hinein gestand sie, in Rochus Lingott verliebt zu sein. Nur das Brutzeln und Zischen der Bratäpfel, die in der Ofenröhre lagen, war zu hören. Rosie wiederholte, was sie gesagt hatte, da brach es aus Mutter heraus: daß sie es immer schon geahnt hätte, dieser alte Bock, dieser Scharlatan, Musikkasper und Weiberverdreher, vielleicht sogar Zigeuner, so wie der sich aufführt, und daß er nie wieder um Milch in ihren Laden zu kommen braucht.mehr
Kritik
»Diese Erzählung, ein Gewebe kleiner Geschichten, eine literarische Klöppelarbeit, schlägt historisch einen großen Bogen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart - oder eigentlich in die nahe Zukunft [...] Kerstin Hensels neues Buch [...] ist Heimat-Literatur, jedoch nicht solche der gemütvollen Art.«mehr

Autor

Kerstin Hensel wurde 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren. Sie studierte am Institut für Literatur in Leipzig und unterrichtet heute an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Kerstin Hensel lebt in Berlin. Bei Luchterhand sind erschienen: die Gedichtbände »Bahnhof verstehen« (2001) und »Alle Wetter« (2008), die beiden Romane »Falscher Hase« (2005) und »Lärchenau« (2008), die Liebesnovellen »Federspiel« (2012) und der Band »Das verspielte Papier - über starke, schwache und vollkommen misslungene Gedichte« (2014).