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Der Wind aus der Ebene

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
374 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am15.12.20151. Auflage
Wenn der Wind die Disteln aufwirbelt, dann ist für die Bewohner des weltabgeschiedenen Dorfes hoch im Taurusgebirge die Zeit zum Aufbruch gekommen. Männer, Frauen, Kinder, Alte, Gebrechliche und Kranke - keiner bleibt zurück. Mit allem Hab und Gut, mit Kindern, Pferden, Hühnern, Eseln ziehen sie hinunter in die Ebene, um sich als Tagelöhner zu verdingen. Auf den Baumwollfeldern der Großgrundbesitzer wollen sie verdienen, was es zur Bezahlung der Schulden und zum Überleben im harten Winter braucht. Für den gebrechlichen Halil wird der Zug zur Höllenfahrt durch eine grausame Natur und archaische Landschaften.

Ya?ar Kemal wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wurde 1923 in einem Dorf Südanatoliens geboren. Seine Werke erschienen in zahlreichen Sprachen und wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt. Er starb in Istanbul am 28.2.2015.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR9,90
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR8,99

Produkt

KlappentextWenn der Wind die Disteln aufwirbelt, dann ist für die Bewohner des weltabgeschiedenen Dorfes hoch im Taurusgebirge die Zeit zum Aufbruch gekommen. Männer, Frauen, Kinder, Alte, Gebrechliche und Kranke - keiner bleibt zurück. Mit allem Hab und Gut, mit Kindern, Pferden, Hühnern, Eseln ziehen sie hinunter in die Ebene, um sich als Tagelöhner zu verdingen. Auf den Baumwollfeldern der Großgrundbesitzer wollen sie verdienen, was es zur Bezahlung der Schulden und zum Überleben im harten Winter braucht. Für den gebrechlichen Halil wird der Zug zur Höllenfahrt durch eine grausame Natur und archaische Landschaften.

Ya?ar Kemal wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wurde 1923 in einem Dorf Südanatoliens geboren. Seine Werke erschienen in zahlreichen Sprachen und wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt. Er starb in Istanbul am 28.2.2015.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293307889
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum15.12.2015
Auflage1. Auflage
Seiten374 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2214 Kbytes
Artikel-Nr.3421162
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



2


Vom späten August bis zum Oktober färben die torkelnden Disteln sich rot, und bei Sonnenuntergang scheint die Steppe in rötlichen Nebel getaucht. Wie ein langer, gewundener roter Weg, ein Kranichzug oder ein vorüberziehender Vogelschwarm teilen sich die Disteln und schließen sich wieder zusammen, sie wogen und sinken, und der rastlose stürmische Wind, der über die endlose Steppe geht, peitscht sie hin und her.

Die torkelnde Distel ist die wichtigste der Pflanzen, die auf der Steppe wild gedeihen. Im Sommer verleiht sie diesem kargen Land mit ihrem sanften Grün Leben und Farbe. Dann sind ihre Wurzeln und Dornen stark, aber sobald sie verdorrt, verlieren die Wurzeln ihre Kraft, und im Herbst, wenn die mächtigen Winde aufkommen, sind sie so schwach, dass die Distel aus der Erde gerissen und fortgetrieben wird. Hunderte und Tausende von Disteln tanzen dann über die Steppe und schwirren durch die Luft.

Im späten Herbst fegen die Winde immer mächtiger über das Land und mit ihnen die Disteln. Sie haben jetzt eine hellere Färbung, leuchten goldgelb. Zäh klammern sie sich an die Krume, man kann sie nur mit Mühe herausziehen. Doch ihre Wurzeln verlieren zusehends an Kraft. Die rastlosen Herbstwinde brausen so lange über die Disteln hinweg, bis schließlich keine mehr an ihrem Platz steht. Ein einziges Pfeifen und Heulen erfüllt die Lüfte. Hunderte, Tausende von Disteln erheben sich dann mit einem Mal über die Steppe. Die ganze Ebene glitzert und leuchtet, versinkt förmlich in goldgelbem Glanz. Funkensprühend wirbeln die Disteln durch die Luft. Ohne sie wäre die Steppe tot.

»Die torkelnde Distel bringt Glanz und Schönheit in diese finstere Einöde«, pflegte Halil der Alte zu sagen. »Was wäre die leblose Steppe ohne sie!«

Ein Rascheln ertönt von der Steppe herüber. Er legt sein Ohr an die Erde und lauscht dem Gemurmel, das aus der Tiefe aufsteigt. Der Boden der Steppe ist ein guter Geräuschleiter. Man kann die Ameisen in ihren Hügeln krabbeln hören und das Trippeln der Vögel in ihren Nistlöchern. Es gibt einen Vogel mit strahlend blauem Gefieder, der sein Nest tief in die Felswände hinein gräbt. Man hört, wie er in seinem Tunnel arbeitet. An dem leisen Knistern der Wurzeln kann man sogar erkennen, ob die Disteln bald brechen. »Nichts geht über die Steppenerde«, sagt Halil der Alte. »Die ist besser als der Telegraph. Wenn du dein Ohr daran-legst, vernimmst du alle möglichen wunderbaren Laute. Du hörst die Flöte eines Schäfers am anderen Ende der Welt, hörst ein Lied, das noch niemand gesungen hat, und es ist so schön wie manche seltenen Blumen. Ja, leg dein Ohr an den Boden und lausch auf die Hufschläge der Pferde, eine Tagereise weit entfernt. Aber nicht jeder vernimmt die Stimme der Erde. Man braucht ein gutes Ohr, ein feines Ohr wie meines, ihr unwissendes Volk.« Schon in der Jugend war es seine liebste Beschäftigung gewesen, stundenlang diesen Geräuschen zu lauschen.

Mit dem ersten Hauch des Herbstes wandern die Bauern mit Sack und Pack aus den Dörfern jenseits der Tauruskette, aus der öden, versengten, ausgedorrten, baumlosen Hochebene, wo das hügelige Land in langen, sanften Wellen in die Steppe abfällt, zur Arbeit hinunter in die Çukurova-Ebene. Keine Menschenseele bleibt in den Dörfern zurück. Alt und jung, Kranke und Schwache ziehen mit. Nicht einmal einen Wächter lassen sie in den verwaisten Dörfern zurück, obwohl überall Getreide in den Gruben gespeichert ist, das Bettzeug in den Kisten, Kleider in den Truhen liegen, all ihre Kostbarkeiten, einschließlich der Aussteuer für die Bräute. Keiner würde seinen Fuß in so ein verlassenes, ausgestorbenes Dorf setzen, nicht einmal an einem Stück Abfall würde sich ein Dieb vergreifen. Gibt es hier keine Diebe? Natürlich gibt es Diebe. Aber keiner würde sich in ein Dorf wagen, solange es verlassen ist. Doch kaum sind die Bauern zurück, geht es wieder los mit Raufereien, Mädchenentführungen und Diebstählen.

Vor langer Zeit lebte in dieser Gegend ein Räuberhauptmann namens Cötdelek. Er war hier der unumschränkte Herrscher, ein grausamer Bandit, ein mitleidloser Tyrann. Roch er irgendwo Geld, konnte ihn nichts mehr halten; er tötete jeden, der ihm in den Weg kam, mit einem Hieb, schnitt Frauen und Kindern die Kehle durch, nur um an das Geld zu gelangen. Da geschah es einmal, dass der berüchtigte Räuber, als ihm die Gendarmen nachsetzten, seine Verfolger abschütteln konnte, indem er sich weit in den Taurus hinein flüchtete. Dort stieß er zufällig auf eines der verlassenen Dörfer. Er war erschöpft, ausgehungert und durstig, doch er sagte: »Kameraden, in diesem Dorf dürfen wir nicht stehlen.«

»Cötdelek Aga«, erwiderten seine Gefährten, »wir können es uns jetzt nicht leisten, edelmütig zu denken. Wir sterben vor Hunger, wir sind alle mehr tot als lebendig. In diesem Dorf werden wir Nahrung finden. Lasst uns hineingehen und essen. Da sind auch Betten aus weißer Çukurova-Wolle. Lasst uns dort ordentlich ausschlafen.«

Cötdelek stand eine Weile in Gedanken versunken. Dann hob er den Kopf. Allah schütze uns vor seinem Zorn; Flammen schossen aus seinen Augen! »Das darf nicht sein, meine Freunde«, rief er. »Ihr wisst, dass ich vor nichts zurückschrecke. Wir werden eines jener bewohnten Dörfer ausplündern und verwüsten, jede lebende Seele hinschlachten, wenn ihr wollt, die Frauen entführen und alle Butter und allen Honig mit uns nehmen. Aber nie werde ich in ein verlassenes Dorf einbrechen und dort stehlen, so sehr ich auch Hunger leide. Ich bin so müde, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Und hätte ich ein Bett mit weißer

Çukurova-Baumwolle, würde ich mich hineinlegen und eine ganze Woche lang fest schlafen. Aber ich will nicht der erste sein, der gegen die alte Sitte verstößt. In hundert, in zweihundert, in dreihundert Jahren werden die Leute sagen: Früher einmal, während der Baumwollernte, waren die verlassenen Dörfer im Taurus für den Wolf ebenso sicher wie für das Lamm. Dann kam ein böser Mann, ein gewisser Cötdelek und dabei werden sie auf meine Gebeine spucken°-, der missachtete den Brauch und plünderte unsere verwaisten Dörfer. Nein, meine Freunde, ich will nicht, dass die Menschen das von mir sagen. Meine Mutter, meine Frau und meine Gebeine sollen nicht bis ans Ende der Zeiten verflucht werden. Wenn wir dieses Dorf aber verschonen, was werden die Leute dann sagen? Sie werden sagen: Da war einmal ein großer Aga, Cötdelek hieß er, ein blutdürstiger Räuberhauptmann, aber er starb lieber vor Hunger, hier an der Stelle des einsamen Dorfes, in dem es reichlich Brot, Butter und Honig gab, als dass er den ärmlichsten Lumpen anrührte. Und er tat gut daran, tausend-, zweitausend Mal gepriesen sei der Mann, der gemeinsam mit seinen ritterlichen Gefährten bereit ist, um der Erde willen sein Leben hinzugeben. Möge Licht auf ihre Gräber scheinen!«

»Gehen wir doch in das Dorf und hinterlegen überall, wo wir etwas wegnehmen, Geld«, schlugen die anderen Banditen daraufhin murrend vor. »Wir nehmen uns die Haustüren als Zeugen und feilschen mit den Kaminen, wie viel es kostet. Wenn du meinst, können wir auch mit dem Pflugmesser darüber verhandeln. Es isst und trinkt zwar nichts, hat aber etwas Menschliches an sich. Wer reißt schließlich die Erde auf, pflügt sie uns?«

Cötdelek begann zu schimpfen: »Nein, es geht nicht, Freunde, wie oft soll ich euch das noch sagen? Schluss damit. Müht euch nicht umsonst ab. Was gegen die Menschenwürde verstößt, kann ich nicht tun. Gehen wir lieber in eines der bewohnten Dörfer dort drüben. Wenn ihr wollt, plündern wir es bis auf den letzten Stein aus. Schneiden allen wie Schafen die Kehle durch, bis keiner mehr übrig ist. Wie findet ihr das? Wenn ihr nicht einverstanden seid, weil eure Füße euch den Dienst versagen, müssen wir, wie Moses Beispiel lehrt, hier warten, bis die Bauern aus der

Çukurova zurückkommen. Dann aber lassen wir keinen Stein mehr auf dem anderen. Wir entführen ihre Töchter und Frauen. Auch ihre Butter, ihren Honig nehmen wir mit. Eine andere Möglichkeit haben wir nicht. Habt ihr mich verstanden, Kameraden?!«

In diesen Tagen verfluchte Halil der Alte Cötdelek mit aller Kraft. Wenn dieser Hund von einem Banditen doch wenigstens eines der verlassenen Dörfer ausgeraubt hätte, dachte er, dann würden nicht mehr alle Leute in die Çukurova ziehen. Man würde die Alten zurücklassen. Fluch über seine Gebeine â¦

Die Arbeit auf den Baumwollfeldern dauerte gewöhnlich ein oder zwei Monate. Für die Bewohner der Hochebene von Uzunyayla ist die Çukurova die Haupteinnahmequelle, wichtiger sogar als ihre eigene Ernte oder ihre Schafe und Ziegen.

Alle Bauern auf der Uzunyayla kaufen bei Adil Efendi, dem Krämer in der kleinen Stadt.

»Wie viele seid ihr?« wird Ali Efendi fragen. »Zehn«.

»Und könnt ihr alle Baumwolle pflücken?«

»Wir haben einen Säugling, mein Aga, fünf Tage alt. Ein schwarzäugiges kleines Kind â¦«

Adil Efendi überschlägt im Geiste die Summe.

Dann gibt er ihnen eine bestimmte Menge Waren und trägt ihr Schulden in sein gelbes Buch ein. Er weiß, nach ihrer Rückkehr aus der Çukurova werden sie auf den KuruÅ genau mit ihm abrechnen, und nichts wird sie davon abhalten, es sei denn, sie sterben oder verlassen das Dorf â¦

Das ganze Dorf war in Bewegung, es war ein Kommen und Gehen, Rufen und Fluchen. Man hörte die Alten und Kranken stöhnen und seufzen, aus...


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Yasar Kemal wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wurde 1923 in einem Dorf Südanatoliens geboren. Seine Werke erschienen in zahlreichen Sprachen und wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt. Er starb in Istanbul am 28.2.2015.

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