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Ein kurzer Aufenthalt auf dem Weg von Auschwitz

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
400 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am08.03.20131. Auflage
Zwölf Jahre alt war Göran Rosenberg, als sein Vater sich das Leben nahm. Nun, fünf Jahrzehnte später, zeichnet der Sohn das Leben des ihm beinah Unbekannten nach wie in einem literarischen Phantombild - erstellt aus Erinnerungen und so kargen wie bedeutsamen Spuren. Rosenberg wurde 1948 in der schwedischen Kleinstadt Södertälje geboren. Eine fast normale Kindheit - bis er langsam verstand, dass seine Eltern anders, jüdisch, waren, dass sie Auschwitz überlebt hatten, bevor sie eine neue Existenz aufbauten, die sein Vater nicht lange ertrug. Dieses hoffnungslos gerettete Leben versucht Rosenberg zu begreifen: Er vollzieht den Weg seines Vaters nach, besucht Gedächtnisorte und vergessene Leidensstationen, das ehemalige Ghetto von Lodz, das Arbeitslager der Firma Büssing bei Braunschweig, Auschwitz. «Ein kurzer Aufenthalt auf dem Weg von Auschwitz» ist ein Erinnerungsbuch, Recherche und große Literatur, die sich einer zer­brochenen Biographie und der Frage nach der Möglichkeit des Lebens überhaupt in einer sensiblen, fesselnden und hochpoe­tischen Sprache nähert. Ein wichtiges, dring­liches Buch, das uns nicht nur die Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern die menschliche Existenz selbst besser begreifen lässt.

Göran Rosenberg, 1948 als Sohn zweier Auschwitz-Überlebender in Södertälje geboren, ist Journalist, Dokumentarfilmer, Schriftsteller und eine wichtige intellektuelle Stimme Schwedens. Seine Essays und Artikel wurden u. a. für die «Neue Zürcher Zeitung» und «Lettre International» übersetzt. «Ein kurzer Aufenthalt», nominiert für den renommierten August-Preis, war in Schweden ein Bestseller und erscheint in mehr als zehn Sprachen.
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Produkt

KlappentextZwölf Jahre alt war Göran Rosenberg, als sein Vater sich das Leben nahm. Nun, fünf Jahrzehnte später, zeichnet der Sohn das Leben des ihm beinah Unbekannten nach wie in einem literarischen Phantombild - erstellt aus Erinnerungen und so kargen wie bedeutsamen Spuren. Rosenberg wurde 1948 in der schwedischen Kleinstadt Södertälje geboren. Eine fast normale Kindheit - bis er langsam verstand, dass seine Eltern anders, jüdisch, waren, dass sie Auschwitz überlebt hatten, bevor sie eine neue Existenz aufbauten, die sein Vater nicht lange ertrug. Dieses hoffnungslos gerettete Leben versucht Rosenberg zu begreifen: Er vollzieht den Weg seines Vaters nach, besucht Gedächtnisorte und vergessene Leidensstationen, das ehemalige Ghetto von Lodz, das Arbeitslager der Firma Büssing bei Braunschweig, Auschwitz. «Ein kurzer Aufenthalt auf dem Weg von Auschwitz» ist ein Erinnerungsbuch, Recherche und große Literatur, die sich einer zer­brochenen Biographie und der Frage nach der Möglichkeit des Lebens überhaupt in einer sensiblen, fesselnden und hochpoe­tischen Sprache nähert. Ein wichtiges, dring­liches Buch, das uns nicht nur die Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern die menschliche Existenz selbst besser begreifen lässt.

Göran Rosenberg, 1948 als Sohn zweier Auschwitz-Überlebender in Södertälje geboren, ist Journalist, Dokumentarfilmer, Schriftsteller und eine wichtige intellektuelle Stimme Schwedens. Seine Essays und Artikel wurden u. a. für die «Neue Zürcher Zeitung» und «Lettre International» übersetzt. «Ein kurzer Aufenthalt», nominiert für den renommierten August-Preis, war in Schweden ein Bestseller und erscheint in mehr als zehn Sprachen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644114012
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2013
Erscheinungsdatum08.03.2013
Auflage1. Auflage
Seiten400 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1492 Kbytes
Artikel-Nr.1251649
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


[zur Inhaltsübersicht]

Die Mauer


Wo also bist du in den Zug gestiegen? So viele Stationen, an die sich niemand mehr erinnert. So viele Orte, die nicht mehr existieren. So viele Züge, zwischen denen man wählen kann. So viele Züge, die zu früh und für immer halten.

Darum entscheide ich für dich.

Ich entscheide, dass du den Zug in Auschwitz besteigst.

Ich weiß, das klingt dramatisch, geradezu effektvoll, schlimmstenfalls berechnend. Und es ist klar, ganz alltäglich ist das nicht, wenn man in Auschwitz einen Zug besteigt, weil Auschwitz der Ort ist, an dem alle Züge zu früh und für immer halten. Und natürlich steigst schließlich auch du in einen Zug nach Auschwitz.

Bei näherem Nachdenken sollte ich die Reise vielleicht dort beginnen lassen, im August 1944, auf einem Bahnhof in der Nähe des Åódźer Ghettos.

Das exakte Datum deiner Abreise ist ein verlorenes Bruchstück. «Eingeliefert 26. VIII. 1944, Auschwitz» steht auf einer handgeschriebenen, im Konzentrationslager Ravensbrück im April 1945 aufgestellten Liste. Es ist eine deutsche Liste, angefertigt von der SS, das Datum haben sie also von irgendwo her, was aber bedeutet «eingeliefert»? Und wie viele Tage sind vergangen zwischen Abreise und Einlieferung?

Kann ich schreiben, dass du einen der letzten Züge aus dem Ghetto in Åódź zur Selektionsrampe von Auschwitz-Birkenau besteigst?

*

Der Beschluss zur Liquidierung des Ghettos wird am 2. August 1944 mit Wandplakaten bekannt gegeben. Auf den Plakaten steht nicht, dass das Ghetto liquidiert werden soll, nur dass es an einen anderen Ort verlegt wird (der Euphemismus - die Beschönigung, die Verbrämung - ist eine sprachliche Spezialität des NS-Regimes), und täglich müssen sich fünftausend Personen zur Weiterbeförderung melden, jeder von ihnen darf fünfzehn bis zwanzig Kilo Gepäck mit sich führen, und Familienmitglieder haben darauf zu achten, dass sie beieinander bleiben, «damit eine Trennung von Familien vermieden werden» kann. Diejenigen, die den Bescheid zur Abreise erhalten, haben sich am Zentralgefängnis, das innerhalb des Ghettos liegt, zu sammeln, von wo sie zum Bahnhof Radogoszcz begleitet werden, der unmittelbar außerhalb liegt. Der erste Transport geht um 8.00 Uhr ab. Die Reisenden haben sich bis spätestens 7.00 Uhr am angegebenen Ort einzufinden.

Ja, so steht es auf Jiddisch und Deutsch auf den Plakaten, unterschrieben von Chaim Rumkowski, dem Vorsitzenden des Judenrates, der vier Jahre lang das Ghetto als Sklavenarbeiterfabrik für die Deutschen organisiert hat und nun von den gleichen Deutschen eingesetzt wurde, um den Abtransport zu einer ruhigen, schönen Angelegenheit zu machen.

Aber nichts im Ghetto ist ruhig und schön. So viele wurden schon weitertransportiert, und niemals hat man wieder von ihnen gehört. So viele wurden weggeschleppt, als wären sie bereits tot. So viele wurden getötet, als sie sich weigerten oder zögerten oder ohne jeglichen Grund, wie Fliegen an einer Wand. So viele Kleidungsstücke hat man wiedererkannt, als sie in den Textilfabriken des Ghettos auftauchten. So viele Gerüchte kursierten, an die zu glauben niemand genug Phantasie besaß und die abschütteln zu können keiner die Hoffnung hatte.

Darum halten sich die meisten so lange wie möglich verborgen und verstecken sich auf Dachböden und in Kellern, versuchen, ständig das Versteck zu wechseln, und versuchen sich einzureden, bald sei alles vorbei, weil die Russen vor Warschau stehen, was dazu führt, dass sich die Euphemismen in Offenheit verwandeln - «wer einen Angehörigen bei sich beherbergt, versteckt oder verpflegt, WIRD MIT DEM TODE BESTRAFT» -, und dazu, dass deutsche Soldaten ins Ghetto einmarschieren, Straße für Straße absperren und Haus für Haus umstellen und den mit Schlagstöcken bewaffneten Angehörigen der jüdischen Ghettopolizei befehlen, die Bewohner aus ihren Verstecken zu schleppen und nach Radogoszcz zu bringen. An einem frühen Augustmorgen, oder vielleicht einem späten Augustabend, die Sonne steht tief, und die Schatten sind lang, werden ungefähr dreißig Frauen und Kinder auf ihrem Weg durch das Ghetto zur Bahnstation fotografiert. Ich zähle neun jüdische Polizisten und einen SS-Mann als Eskorte. Über die jüdischen Polizisten gäbe es viel zu sagen, aber auch auf sie wartet der Zug.

Nein, im Ghetto ist nichts ruhig und schön, und bei der Ankunft am Bahnhof in Radogoszcz enden die Beschönigungen. Der Zug, den sie besteigen sollen, besteht aus gedeckten, verschließbaren Güterwagen zum Transport von Vieh, die minimalen Lüftungsöffnungen sind mit Holzriegeln und Stacheldraht versperrt. Zum Besteigen des Zuges dienen provisorische Holzrampen, die auf provisorische Holzböcke gelegt wurden. Die Reisenden sind gut gekleidet, wie zu einer langen Reise, die Frauen tragen Herbstmäntel, die Mädchen weiße Strümpfe und Schnürstiefel. Der August 1944 ist ungewöhnlich heiß, aber um Eventualitäten vorzubeugen, haben sich alle wärmer als nötig angezogen. Unsicher balancieren sie ihre losen Bündel und Behältnisse über die wackligen, steilen Rampen. Man sieht nur ihre Rücken, nicht ihre Gesichter, während sie nacheinander im Laderaum verschwinden. Die Waggons füllen sich. Die Türen werden verschlossen.

In einer Hinsicht lügt das Bild. Es ist zu hell.

Man sieht nicht das Dunkel.

Das Dunkel, als sie die Wagen betreten und die Hoffnung erlischt.

Innerhalb von zwanzig Tagen haben die siebzigtausend verbliebenen Bewohner des Åódźer Ghettos in Radogoszcz den Zug bestiegen. Hundert Menschen pro Waggon ergibt siebenhundert Waggonladungen, macht fünfunddreißig Waggonladungen pro Tag. Waggons sind im August 1944 bei der Deutschen Reichsbahn Mangelware, je mehr Menschen also in jedem Waggon, desto weniger Waggons. Werden alle stehend sehr dicht zusammengepackt, bekommt man in jeden Waggon über hundertfünfzig Menschen. Die gedeckten Güterwagen der Deutschen Reichsbahn haben eine Grundfläche von siebenundzwanzig Quadratmetern. Die deutsche Eisenbahnverwaltung führt Listen über die exakte Anzahl der Wagen und der Züge, die zwischen Åódź und Auschwitz eingesetzt werden müssen, und lässt sich entsprechend dafür bezahlen, aber ich muss die exakten Zahlen nicht wissen, weder für deinen Transport noch für irgendeinen anderen.

Am 28. August besteigt Chaim Rumkowski in Radogoszcz den Zug, ohne die geringste Hilfe der Beschönigung.

Am 29. August fährt der letzte Zug vom Åódźer Ghetto ab.

In jener Sprache, die Menschen einliefert, ist das Ghetto somit liquidiert. Beseitigt werden müssen nur noch die Spuren der Ausgelieferten.

Die Berge von zurückgelassenen Bündeln, der Gestank nach Hunger und Tod, die Ruinen aus Hoffnung und Lebenswillen.

*

Ich füge Bruchstücke zusammen. Wenn du am 26. August in Auschwitz als eingeliefert registriert wirst, müsstest du spätestens am 25. in Radogoszcz den Zug bestiegen haben, vielleicht auch ein oder zwei Tage früher. Nach Auschwitz sind es nur gut zweihundert Kilometer, aber im Europa der Menschentransporte sind die Eisenbahnen überlastet und die Züge überladen. Manchmal bleiben sie stunden- oder tagelang auf den Schienen stehen. Einige überleben die Reise, andere nicht. Einige bleiben Menschen, andere nicht. Über die Tage in den verschlossenen Viehwagen nach Auschwitz wurde schon so viel gesagt. Und so wenig. Es ist nicht beabsichtigt, dass irgendjemand überlebt, um irgendetwas zu sagen, und diejenigen, die überlebt haben, wissen nicht, was sie sagen sollen, damit man ihnen glaubt.

Du hast nichts gesagt, und ich habe nichts hinzuzufügen.

Mit Sicherheit kann ich, dank der SS-Liste aus Ravensbrück, nur sagen, dass du auf dem Bahnhof Radogoszcz einen Zug besteigst, der dich am 26. August 1944 in Auschwitz einliefert. Jedoch weiß ich nicht, ob du am selben Tag als eingeliefert registriert wirst, an dem du auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau den Zug verlässt, oder erst ein paar Tage später. Die allermeisten, die den Zug aus dem Åódźer Ghetto verlassen, werden schließlich niemals registriert, weil sie unverzüglich aussortiert werden (nach links), um in den Gaskammern umgebracht und in den Krematorien verbrannt zu werden, damit ihre Spuren ausgelöscht sind. Die wenigen, die noch nicht ermordet, sondern vorher als Sklavenarbeiter ausgebeutet werden sollen, müssen ein weiteres Mal sortiert werden, erhalten eine Nummer und werden als eingeliefert registriert. Das nimmt sicher einige Zeit in Anspruch, vielleicht einige Tage. Dazu würde ein weiteres Bruchstück passen, die Registrierkarte von einer späteren Station der Reise, auf der steht, dass du dich bis zum 20. August 1944 im Ghetto in Åódź befindest und ab dem 21. August im KL Auschwitz. Während einiger Tage befindest du dich also im KL Auschwitz, ohne eingeliefert zu sein. Falls sich die Bruchstücke nun unbedingt ergänzen müssen.

Das aber ist überhaupt nicht nötig. In diesem Zusammenhang hat es schließlich keinerlei Bedeutung, an welchem Tag genau du das Ghetto verlässt und an welchem Tag genau du in Auschwitz eintriffst. Deine Reise folgt keinem Fahrplan und keiner Richtung. Du hast keine exakten Termine hinter dir und keine exakten Termine vor dir. Exakte Termine haben bei deiner...
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Göran Rosenberg, 1948 als Sohn zweier Auschwitz-Überlebender in Södertälje geboren, ist Journalist, Dokumentarfilmer, Schriftsteller und eine wichtige intellektuelle Stimme Schwedens. Seine Essays und Artikel wurden u. a. für die «Neue Zürcher Zeitung» und «Lettre International» übersetzt. «Ein kurzer Aufenthalt», nominiert für den renommierten August-Preis, war in Schweden ein Bestseller und erscheint in mehr als zehn Sprachen.